In der katholischen Kirche entstehen in der langen Geschichte immer wieder neue Ämter. Der Unsicherheit in der Ausgestaltung des Quasi-Amtes „Papa emeritus“ geht Fabian Brand nach.
Von Anfang an war klar, es würde nicht einfach werden. Die Kirche kannte das Amt eines zurückgetretenen Papstes nicht und Traditionen können nicht von einem Tag auf den anderen entstehen. Schon am 11. Februar 2013, als Benedikt XVI. seinen Rücktritt erklärte, war die Unsicherheit betreffs seines neuen „Amtes“ groß. Zwar versprach er, zurückgezogen und in aller Stille wie ein Mönch zu leben, doch das weiße Papstgewand legte er nicht ab, ebenso wenig wie den Papstnamen Benedikt. Und schon damals war fraglich, ob der selbstgewählte Titel „Papa emeritus“ wirklich die beste Wahl war.
Die Ohnmacht wurde zum Machtfaktor
Dazu kam noch ein anderes Problem: Die Figur des Papa emeritus Benedikt XVI. wurde im Lauf der beinahe zehn Jahre mehr und mehr zu einer konstruierten Wirklichkeit. Dies wurde besonders in den vergangenen Tagen um seinen Tod noch einmal sehr deutlich: Die Unterscheidung zwischen dem, was Benedikt XVI. selbst und aus eigenem Antrieb sagt und wollte war längst verschwommen mit dem, was andere als seine Äußerungen ausgaben. Die Ohnmacht des alternden Joseph Ratzinger wurde für andere zu einem Machtfaktor. Je schwächer und älter der Papa emeritus wurde, desto mehr Raum öffnete sich für jene, die ihre Macht mithilfe des immer ohnmächtiger werdenden Benedikt zu sichern versuchten.
Am Ende kein kontemplatives Leben.
Diese Annahme stützt sich auf zwei grundlegende Faktoren: Erstens war das Leben des Papa emeritus alles andere als ein mönchisches Leben. Und der Rückzugsort Mater Ecclesiae alles andere als ein Kloster: Vielmehr handelte es sich zusammen mit den vier Memores und dem Privatsekretär im Rang eines Erzbischofs um einen Apostolischen Palast im Kleinen, der fortlaufend für Audienzen geöffnet wurde. Immer wieder kehrte Benedikt dieser selbstgewählten Zurückgezogenheit den Rücken, um Gottesdienste mitzufeiern, Besuch zu empfangen oder sich öffentlich über unterschiedliche Publikationsorgane zu äußern. Von hier aus wurde auch die rege Korrespondenz in alle Welt betrieben. Nicht nur Fotos des Papa emeritus tauchten in aller Regelmäßigkeit auf, sondern selbst ein Kamerateam des BR durfte noch aus Anlass des 92. Geburtstages Benedikts das Kloster Mater Ecclesiae im Vatikan besuchen. Dabei zeigte sich vor allem eines sehr deutlich: Benedikt wurde immer mehr ein alter, gebrechlicher Mann. Schon in der Doku des BR aus dem Jahr 2019 sah man einen Benedikt, dessen Stimme immer zerbrechlicher und unverständlicher geworden war.[1] Der Bamberger Erzbischof em. Ludwig Schick erzählte jüngst von seiner letzten Begegnung mit Benedikt am 16. November 2022: Der Papa emeritus konnte hier schon nicht mehr sprechen.[2] Ein Mensch, am Ende seiner körperlichen Kräfte, gezeichnet von der Ohnmacht, die das Alter mit sich bringt. Weil es am Ende kein kontemplatives Leben wurde, ließ sich diese zunehmende körperliche Ohnmacht nicht verbergen. Sie war bis zuletzt öffentlich präsent.
Vermeintliche Verlautbarungen
Gleichzeitig zu diesem Alterungsprozess setzte etwas anderes ein: Immer neue Äußerungen, die von Benedikt selbst kamen oder zuletzt von anderen über ihn getätigt wurden, fanden ihren Weg in die Öffentlichkeit. Besonders augenfällig sind die unterschiedlichen Berichte, die kurz vor seinem Ableben publiziert wurden. So war Georg Gänswein, Privatsekretär des Papa emeritus, bis zuletzt nicht müde, vermeintliche Verlautbarungen Benedikts über den Äther zu verbreiten. Jüngst erschienen ist sein Buch mit dem Titel „Nient’altro che la verità. La mia vita al fianco di Benedetto XVI“, in dem er „Nichts als die Wahrheit“ über Benedikt XVI. erzählt. Teile dieses Buches, die vorab bereits publiziert wurden, zeigen, in welche Richtung dieses Buch tendiert.
Je leiser die Stimme,
desto lauter die Stimmen.
Durch diese zwei Faktoren bedingt entsteht ein eigenartiges Bild: Der einst so sprachgewaltige Mensch, der immer mehr verstummt, steht den vielen Sätzen gegenüber, von denen gesagt wird, er habe sie ausgesprochen. Das Gefälle zwischen Macht und Ohnmacht ist in diesem Fall höchst prekär: Je größer die körperliche Ohnmacht Benedikts wurde desto mehr stieg die Macht jener, die meinten, den Papa emeritus im Leben der Kirche und Welt präsent halten zu müssen. Je leiser die Stimme Benedikts wurde, desto lauter wurden die Stimmen jener, die mit ihm zu tun hatten oder ihn besuchten.
Der hinter dem Bild verschwand,
das andere von ihm zeichneten.
Letztlich hat sich so die Angst des Anfangs erfüllt: Es wurde nicht einfach mit einem zurückgetretenen Papst. Denn am Ende zeigt sich, dass diese Figur des Papa emeritus, wer auch immer sie ausfüllt, in der Gefahr steht, zu einer bloßen Konstruktion zu werden, die auf einem prekären Macht-Ohnmacht-Gefälle fußt, das durch den natürlichen Alterungsprozess bedingt wird. Die Figur des Papa emeritus wurde von jenen konstruiert, deren Macht durch die zunehmende Ohnmacht Benedikts verstärkt wurde. Mit anderen Worten: Das Grundproblem der Kirche ist nicht, dass es einen zurückgetretenen Papst gegeben hat. Die Crux liegt vielmehr darin, dass dieser Papa emeritus sich zunächst selbst aktiv äußerte (und zwar zu kirchenpolitisch brisanten Themen) und dann immer mehr hinter jenem Bild verschwand, das andere von ihm zeichneten. Er, der zurückgezogen und im Verborgenen als Mönch leben wollte, hat immer wieder die Öffentlichkeit der Welt gesucht. Und je mehr er später schwieg – freiwillig oder durch körperliche Brechen bedingt –, desto lauter wurden die Äußerungen anderer, was Benedikt über dieses oder jenes dachte und erzählte. Dieses Unterfangen gewinnt nach seinem Tod noch mehr an Brisanz. In einem kürzlich veröffentlichen Interview erzählt Gänswein vom Schmerz Benedikts über den Erlass von Papst Franziskus über die Einschränkung der sogenannten „tridentinischen Messe“.[3]
Das Papstamt durch
Rücktritt entmythologisiert?
Was Benedikt selber dachte und meinte, ist schließlich nie mehr trennscharf von dem zu unterscheiden, was andere behaupten, dass er in diesen letzten Jahren seines Lebens gesagt hätte. Die Person des Papa emeritus verschwand zunehmend hinter dem Bild, das andere von ihm konstruierten. Es ist das Bild eines heiligmäßigen Papstes, der mit den Worten „Signore ti amo“ auf den Lippen verstirbt[4], dessen Menschlichkeit im Papstamt hervorgestellt wird und der letzteres durch seinen freiwilligen Rücktritt entmythologisiert hat[5]. So jedenfalls Msgr. Gänswein. Noch präziser wird dieses Bild in der umfangreichen Benedikt-Biografie von Peter Seewald aus dem Jahr 2020 gezeichnet.
Eines ist sicher: Es wird auch in der Zukunft der Kirche Päpste geben, die von ihrem Amt zurücktreten. Franziskus hat sich eine solche Option schon lange offengehalten. Doch bis dahin muss es eine Weiterentwicklung dieses „Amtes“ des Papa emeritus geben.
Er hat gezeigt, wie man
es nicht machen sollte.
Man wird einem zurückgetretenen Papst auch zukünftig nicht den Mund verbieten können. Man sollte ihn auch nicht einsperren oder isolieren. Die Kirche muss vielmehr lernen, mit der Realität eines zurückgetretenen Papstes zu leben. Hierfür ist es zunächst nötig, alles zu verhindern, was den Eindruck erwecken könnte, es gäbe zwei Päpste: Benedikt hat hier gut vorgelegt, denn er hat gezeigt, wie man es eben nicht machen sollte. Obwohl er zurückgetreten war, konnte er nie ganz von diesem Amt loslassen. Titel, Kleidung, Hofstaat – all das blieb päpstlich an ihm. Es wäre hilfreich, bei diesen Punkten anzusetzen: Wenn ein Papst zurücktritt, ist er nicht Papa emeritus, sondern emeritierter Bischof von Rom. Er sollte wieder seinen bürgerlichen Namen annehmen. Er trägt auch nicht mehr die weiße Soutane, sondern die Kleidung und Insignien eines Bischofs. Ein zurückgetretener Papst sollte auch nicht im Vatikan wohnen bleiben. Auch die räumliche Distanz kann helfen, einen Abstand zum Papstamt zu erzeugen.
Rücktritt als Bruch
mit dem Papstamt nötig.
Hinsichtlich eines Papstrücktrittes muss es eine Weiterentwicklung geben, die jeder Konstruktion, die von außen zustande kommt, von vornherein den Boden entzieht und verhindert, dass eine Instrumentalisierung jedweder Art stattfinden kann. Es braucht eine klare Ordnung, wie ein solcher Rücktritt abläuft und welche Konsequenzen mit ihm verbunden sind. Diese Folgen müssen einen offensichtlichen Bruch mit dem Papstamt darstellen und ausschließen, dass ein zurückgetretener Papst wie ein „Schattenpapst“ ständig im Leben der Kirche präsent bleibt.
Die Ohnmacht eines alternden Papstes – sei er nun zurückgetreten oder weiter aktiv im Amt – wird es auch zukünftig geben. Es bleibt zu verhindern, dass andere aus dieser Ohnmacht Kapital schlagen, um ihre eigene Machtposition zu stärken. Es bleibt zu verhindern, dass sich das Debakel um Benedikt XVI. wiederholt, der zunehmend zu einer Marionette im Spiel der Gegner von Franziskus wurde. Noch schweigt man im Vatikan über die Regelung eines Papstrücktrittes. Aber das Scheitern der Konstruktion des Papa emeritus Benedikt offenbart, dass darüber endlich nachgedacht werden muss.
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Fabian Brand, Dr. theol., wurde nach einem Studium der Kath. Theologie in Würzburg und Jerusalem mit einer Arbeit zu einer topologischen Theologie in Würzburg promoviert. Derzeit arbeitet er an der Erstellung einer Habilitationsschrift, die sich mit dem Priesterbild des Zweiten Vatikanischen Konzils auseinandersetzt.
Titelbild: Katja Anna Krug / unsplash.com
Porträtbild F. Band: privat
[1] https://www.br.de/mediathek/video/klein-bayern-im-vatikan-ein-besuch-bei-papst-benedikt-xvi-em-klein-bayern-im-vatikan-ein-besuch-bei-papst-benedikt-xvi-em-av:5e0e845fb2029e001a396fa0.
[2] https://erzbistum-bamberg.de/nachrichten/die-zukunft-wird-seine-ganze-groesse-erweisen/b5fd0fb1-14b7-4ca5-833b-238938f59db6?mode=detail.
[3] Vgl. https://katholisch.de/artikel/42878-gaenswein-papst-erlass-zur-alten-messe-schmerzte-benedikt-xvi.
[4] Vgl. https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2023-01/benedikt-xvi-letzte-worte-herr-ich-liebe-dich.html.
[5] Vgl. https://www.bild.de/politik/ausland/politik-ausland/nachruf-von-papst-sekretaer-georg-gaenswein-benedikt-war-kein-papstautomat-56656254.bild.html.