Susanne Pell kommentiert aus dem „Krähennest“ Daniel Bogners, «Ihr macht uns die Kirche kaputt … doch wir lassen das nicht zu!» Freiburg i. Br. 2019 anlässlich der Rezension von Manfred Belok.
Ich wurde nicht als alte Krähe geboren, aber als respektablem Mädchen in der katholischen Oststeiermark der 60er und 70er Jahre blieb mir nichts anderes übrig, als meine behütete Jugend lesend zu verbringen. Als ich mit 18 die Kleinstadt verließ, hatte ich die Welt lesend schon mehrfach umrundet. Seefahrergeschichten von Sindbad bis zur Schatzinsel liebte ich besonders. Im Krähennest, dem Ausguck hoch oben, fand ich meinen Lieblingsplatz als Schiffsjüngste.
Nach vielen realen Reisen in vielen Jahrzehnten sitze ich wieder im Krähennest und halte Ausschau nach den Schätzen unserer Kirche in der ganzen Welt. Ich schreie: Land in Sicht! Und meine Kolleg*innen von Fundraising und Missionarischer Bewusstseinsbildung machen sich fertig für den Landgang. Manchmal darf ich mit.
Jetzt habe ich Urlaub und Daniel Bogners Buch gelesen, ein Geschenk eines lebenslangen Freundes, der weiß, dass uns Kirche etwas bedeutet.
Daniel Bogner hat in vielem recht (auch wenn er nichts von Fußball versteht1), aber er spricht von Kirche wie ein Mediziner auf einem Kongress für das Skelett des Brustkorbs. Das ist interessant, auch sehr wichtig und möglicherweise zukunftsträchtig. Die Grundvoraussetzungen für das olympische Gewichtheben könnten sich gravierend ändern, wenn wir es schaffen, Knochendichte und Wachstum der Rippen gezielt zu fördern. Aber er möge doch bitte klarstellen, dass er vom Skelett des Brustkorbs spricht, nicht vom ganzen Körper Kirche.
Es geht um Amtsträger in der diözesanen Struktur im deutschsprachigen Raum. Aus dem Krähennest betrachtet, ist das ein winziger Teil der Weltkirche. Selbst lokal betrachtet, fehlt der Blick auf die Ordensstrukturen, die vielfach Fleisch zwischen die Rippenknochen bringen. Es fehlt der Blick auf die Häuser und Wohnungen, wo Gott auch wohnen müsste und kann, wenn wir ihn mitnehmen aus unseren alten, schönen, zum Teil heruntergekommenen Gotteshäusern. Und es fehlt der Blick auf die Straßen, Plätze und Hinterhöfe, wo Kirche auch Fuß fassen sollte, laufend einladen, anzudocken und am Heilsversprechen teilzuhaben.
Ich habe das Glück, mit meiner Aussicht nicht auf den deutschsprachigen Raum beschränkt zu sein, auch nicht auf die deutsche Sprache. Diese Freiheit genieße ich heute mehr als die Seefahrergeschichten mit zwölf. Ikonische, unberührbare Phrasen werden auf einmal zu funkelnden Edelsteinen, wenn man zum Beispiel erstmals unsere quälende „langmütige“ Liebe als „niemals müde zu warten“ vorgestellt bekommt und bemerkt, dass sogar auf Deutsch „lebenslang mutig“ dahintersteckt.
Nicht zu schweigen von dem, was sich an christlichem Leben an den Enden der Welt abspielt. Natürlich, wir haben mit der Kirche auch unsere Probleme exportiert. Mancher Bischof mag sich an der Prachtentfaltung der Renaissance oder des Barock orientieren. Aber Gott sei Dank fehlen die Mittel für den fächendeckenden Einsatz von blonden Engelsköpfchen und blauäugigen Marias.
An vielen Orten geht es schlicht darum, sein einziges Leben im Teilen des Heilsversprechens zu verbringen. Mühsam Schritt für Schritt Verbündete zu finden um gemeinsam das aufzubauen, was für uns längst zu minder, selbstverständlich und primitiv ist: Eine Pfarre zu sein, wo Frauen nicht zu ihrer Sicherheit und der Sicherung des patriarchalen Besitzes in der Küche eingesperrt sind. Wo Kinder sich nicht nur gegenseitig auf der Straße erziehen, um dann bestenfalls gute Schafhirten und nicht Straßenräuber zu werden. Wo man aktiv auf die Menschen zugeht und ihnen in wahrhaft katholischer Weltsicht sagt: Du wirst es nicht glauben, aber auch du bist von Gott geliebt und gewollt. Auch wenn dir deine Politiker sagen, dass die Bibel nicht für dich geschrieben wurde.
Bei meinen Landgängen habe ich Kirche gesehen, die hatte dreckige, kräftige Arme und Beine, Fleisch an den Fingern und den Ruhepuls eines Spitzensportlers: Trainiert, Dinge auszuhalten, die sich Walt Disney im Fluch der Karibik niemals zeigen trauen würde.
Hier wird Gewichtheben trainiert, täglich, von Männern und Frauen, von Jungen und Alten. Ich würde darauf wetten, dass der Sieger im Olympischen Wettbewerb im Gewichtheben dort herkommen wird. Besonders wenn die Kirche sich auf ihren Erfahrungsschatz besinnt und sich ihre Talentescouts und Weltenbummler zum Vorbild nimmt.
Christus war unterwegs vor und nach der Kreuzigung, Paulus war unterwegs, sobald er nicht im Gefängnis saß, viele Heiligengeschichten sind atemberaubende Reiseromane von Martin von Tour über Franz Xaver bis Josef Freinademetz.
Wenn die Kirche also den Wettbewerb gewinnt, „es derhebt“, wie wir in Österreich sagen, werden auch die DNA-Spezialisten der Rippenknochen ihren Anteil haben. Die wahren Helden werden die namenlosen Breitensportler*innen sein und es wird nicht nur Publikum geben, sondern eine große Feiergemeinde, die tanzt, weil „eine/r von ihnen“ gewonnen hat.
Ich war schon auf vielen Dorffesten im In- und Ausland dabei. Jedes einzelne war es wert, das Krähennest zu verlassen.
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Autorin: Susanne Pell, Project in Charge, Steyler-Missionsprokur St. Gabriel, International Project Department, Österreich/Europa.
- Zusätzlich zum umfassenden internationalen Regelwerk gibt es im Fußball nationale Sonderregelungen für jede Altersgruppe und besondere Bedingungen für jedes Turnier von den 6-Jährigen bis zur Champions League. Sie unterliegen jährlicher Revision. Und trotzdem: Auf dem Spielfeld und im Publikum müssen dann alle genau mit der Entscheidung leben, die der Schiedsrichter im Hier und Jetzt trifft. ↩