Etwas Besonderes zur Osterwoche: Thomas Klie, evangelischer Fachmann für Begräbniskultur, über zeitgenössische Reliquien und Diamanten aus der Asche von Verstorbenen. Skurril? Lesen Sie selbst.
In dem Maße, wie Protestanten die energetische Potenz heiliger Knochen immer schon beargwöhnt haben, so sehr sind sie für Katholiken Gegenstände frommer Ehrfurcht. Diese liebgewonnenen Fronten könnten sich jetzt mehr und mehr auflösen. Denn die Schweizer Firma Algordanza bietet schon seit einiger Zeit Reliquien für alle und jeden feil.
Funerale Vielgestalt
Die Bestattungskultur differenziert sich immer mehr aus. „Das letzte Hemd ist bunt“, so titelt einer der Kreativ-Pioniere des deutschen Bestattungswesens Fritz Roth seine bemerkenswerte Abhandlung über die neue Freiheit in der Sterbekultur. Die Beziehung zum Tod und dessen funerale Kollateralschäden haben längst schon Anteil an der allgemeinen kulturellen Beschleunigung. Dabei werden mehr und mehr auch die sterblichen Überreste zu einer „Sache“, mit der man so oder anders umgehen kann.
Die Formen des Umgangs mit dem Leichnam bzw. seiner Kremierungsasche werden zu fakultativen Gestaltungsvarianten. Man kann wählen. Aber – und dies merken viele spätestens beim Gespräch mit dem Bestatter – man muss auch wählen. Alles könnte ja auch ganz anders gemacht werden. Der Mensch unserer Zeit ist genötigt, Formen prägnanter Lebensdeutung selbst hervorzubringen, um seine Individualität zu bewähren.
Das letzte Hemd ist bunt.
Und so verwundert es kaum, dass auch das „Objekt Leiche“ zu einem authentischen Medium der eigenen Weltanschauung wird. Was seit alters her die psychologisch wie rituell wichtige Distanznahme zwischen Angehörigen und Leiche absicherte, kann heute von (Todes-)Fall zu (Todes-)Fall ausgehandelt werden. Und da ist man natürlich froh, dass es ein Bestattungsgewerbe gibt, das die Zeichen der Zeit erkannt hat und seine jeweiligen Angebotspaletten stark erweitert hat.
Erinnerungsdiamanten
Eine ganz besondere Form, aus sterblichen Überresten Erinnerungsartefakte zu generieren, hat 2003 die Firma Algordanza im Kanton Graubünden entwickelt. Die Geschäftsidee besteht darin, aus einem Teil der Kremierungsasche (etwa 500 g von insgesamt etwa 2-3 kg) den verbliebenen Kohlenstoff zu extrahieren, bis man eine stoffliche Reinheit von 99,9% erreicht hat. Fast feinschwarz. Der größere nicht benötigte Rest der Kremierungsasche wird auf dem firmeneigenen Friedhof bestattet (oder verstreut).
Transsubstantiation
Unter Hochdruck und ebenso hohen Temperaturen wird dann der Kohlenstoff zunächst in Graphit umgewandelt, um jenen daraufhin in einen blauen, synthetischen Edelstein umzuwandeln. „Erinnerungsdiamanten“ erblicken das Licht der Welt. Es heißt, sie wiesen die gleichen physikalischen und chemischen Eigenschaften auf wie die in der Natur vorkommenden Diamanten. Hier endlich kommt die Transsubstantiation zu sich selbst.
Je nach Kundenwunsch können aus der Kremationsasche eines Verstorbenen auch bis zu vier kleinere Familiendiamanten – für mehrere Angehörige – gefertigt werden. Zur Auswahl stehen Größen von 0,2 Karat bis 1 Karat, was dann schon etwa 6,4 mm Durchmesser entspricht. Der Erinnerungsdiamant kann einen speziellen Schliff erhalten oder als polierter Rohdiamant übergeben werden. Ab etwa 5.000 EUR (für einen 0,4-Karäter) ist man im Geschäft.
Ex ossibus – erste Klasse!
Spätestens ab hier wird es theologisch spannend. War die Leib-Asche-Diamant-Transformation bis zum Ende des Produktionsprozesses noch eine von vielen sepulkralen Umgangsformen (wenn auch eine technisch und ästhetisch überaus anspruchsvolle), so geht das industrielle Artefakt nun als familienreligiös geheiligte Preziose in das Deutungsterrain der Theologie über. Ist ein Erinnerungsdiamant, wie es die Algordanza verheißt, ein „Symbol der Liebe, Verbundenheit und Wertschätzung“, dann wird der im wahrsten Sinne des Wortes wertgeschätzte Verblichene in den Rang eines ebenso gegenständlichen wie unsterblichen Relikts erhoben. Hoc est corpus meum!
Dies ist mein Leib.
Die Erinnerung bekommt materialen Anhalt an einer stofflich exponierten Asche-Reliquie, die sich je nach Aufbewahrung als familialer Heiligenrest real präsent macht. Natürlich nach individuellem Geschmack und in privatem Ambiente. Eher evangelisch, also.
Ökonomisch konsequent zählen aber auch spätmoderne Reliquiare zu den fakultativen Bestandteilen des Lieferumfangs. Denkbar (und selbstverständlich machbar) ist es, den Diamant für die Übergabe an die Hinterbliebenen entweder in einer Diamantschatulle zu belassen oder in ein Schmuckstück einsetzen zu lassen. Wohl eher katholisch.
Reliquien-Ökumene aus dem Geist der Ästhetik
Die Angehörigen, die sich für eine Diamant-Halskette entschieden haben, werden darüber zu ambulanten Friedhöfen, zu personalen Krypten für diskrete Erbstücke. Translation firmiert hier geradezu als conditio sine qua non. In dieser Form der devotio moderna bekommt der Vorstellungszusammenhang Reliquie eine ganz neue, weil demokratische Gestalt. Märtyrer hin, Märtyrer her – wer es sich leisten kann, heiligt höchstselbst die sterblichen Überreste seines Anverwandten in der nobilitierten Gestalt eines unvergänglichen Unikats. Reliquien-Ökumene aus dem Geist der Ästhetik.
Prof. Dr. Thomas Klie, Jg. 1956, Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät Rostock, 2004-2017 Universitätsprediger, Werder Bremen-Fan und Fachmann für Sepulkralkultur.
Bildquelle: Fa. Algordanza Domat/CH.