Engel sind Grenzgestalten. Sie überbrücken die Distanz zwischen Gott und Welt. Als »Grenzobjekte« vermögen sie aber noch mehr: über Milieugrenzen hinweg gemeinsam und auf Augenhöhe nach Gott zu forschen. Gerrit Spallek setzt seine Engelreihe fort.
An Engeln scheiden sich die Geister
Engel sind der Theologie nicht sonderlich geheuer. Wer sich seriös überhaupt noch mit Engeln beschäftigt, tut dies zumeist in einer Art Wennschon-dennschon-Manier: Wennschon an Engel glauben bzw. sich mit ihnen theologisch auseinandersetzen, dennschon in einer Weise, die sich mit einem aufgeklärten christlichen Glauben spannungsfrei verträgt.
Die Folge sind trennscharfe Profilierungen von Engelvorstellungen, die auf Abgrenzungen basieren: ein christlich orthodoxes Verständnis von Engeln auf der einen Seite, esoterische oder neopagane Konzepte auf der anderen Seite. In den Fokus rückt das Trennende, nicht das Verbindende. Eine Wahrnehmung der verbindenden Funktion von Engeln würde jedoch vielmehr dem entsprechen, was wir von Engeln theologisch meinen zu wissen.
Als »Grenzgestalten« halten Engel die Erinnerung wach, dass Gott sich für seine Geschöpfe interessiert, von seiner Distanz aber dennoch nichts einbüßt.
Denn als »Grenzgestalten« (D. Heidtmann) markieren Engel nicht nur eine menschlich unüberwindbare Grenze, sie agieren zugleich auf dieser Grenze und überbrücken sie. Aus der Perspektive christlicher Orthodoxie grenzen Engel einen Bereich, der Gott vorbehalten ist, von dem Bereich der Schöpfung ab und stehen stellvertretend zugleich für das Verbindende beider Bereiche. So halte laut Herbert Vorgrimler auch heute noch die Vorstellung von Engeln als Boten und Hofstaat Gottes die Erinnerung wach, dass Gott sich zugleich brennend für seine Geschöpfe interessiert, dennoch aber von seiner Distanz, Hoheit und Unbegreiflichkeit nichts einbüßt.[1]
Für die Überbrückung der von Menschen unüberwindbaren Distanz zu seinen Geschöpfen ist Gott auf keine Engel angewiesen. In diesem Sinne sind Engel auch für Gott unnötig. Das heiße aber nicht, so ein Kerngedanke von Dieter Heidtmann, dass Gott nicht dennoch auf die Möglichkeit des Kommunikationsmediums durch Engel zurückgreifen könnte, um womöglich auch jene zu erreichen, zu denen er über die offiziellen Kommunikationskanäle ansonsten keinen Kontakt finden würde.[2]
Engel mit Gott in Verbindung zu bringen ist heute alles andere als selbstverständlich.
Für viele Menschen ist allerdings auch eine solche Argumentation wenig plausibel. Ein Gott, der sowohl für die Ausübung seiner Regierungsgeschäfte als auch zur Kontaktaufnahme mit seinen Geschöpfen auf übernatürliche Grenzgestalten zurückgreift – ob er will oder muss – scheint „ein fauler Gott“ zu sein. Davon ist zumindest der elfjährige Benjamin im gleichnamigen Debütroman von Stephan Lohse (2017) überzeugt.
Engel überhaupt mit Gott in Verbindung zu bringen ist heute alles andere als selbstverständlich. Längst sind Engel als religiöses Motiv flügge geworden. Sie haben sich außerhalb hochreligöser Traditionen verselbstständigt. Es ist gegenwärtig durchaus möglich und gar nicht unüblich, an Engel zu glauben und Kontakt zu ihnen zu suchen, ohne einen Glauben an Gott vorauszusetzen – zumindest nicht in Form einer institutionalisierten religiösen Prägung,
An Engeln scheiden sich die Geister.
Engel erleben seit längerem einen erneuten, unerwarteten Boom in unserer Gesellschaft. Engel und Putten können außerhalb der gewohnten theologischen und liturgischen Umgebung bspw. als Phänomen in esoterischer Ratgeberliteratur, als kleine Figuren in Wohnzimmern oder auf Friedhöfen, als Abbildungen auf Grußkarten und Kissenbezügen oder als Tattoomotiv auf nackter Haut überraschen.
An Engeln scheiden sich die Geister: innerhalb wie außerhalb des Christentums, der Theologie, Kulturen, Subkulten und Milieus. Dass in Hinblick auf Engel ganz unterschiedliche Konzepte, Erfahrungen, Assoziationen und mit ihnen verbundene Emotionen real existieren, prädestiniert sie dazu, nicht nur als Grenzwesen, sondern auch als Grenzobjekte theologisch in den Blick genommen zu werden.
Können Engel die Kluft überbrücken: zwischen den Rekrutierungsmilieus der Theologie und anderen Subkulturen?
Auf diese Weise können sie womöglich genauso beitragen, eine bisher weitestgehend unüberwundene Kluft zu überbrücken: zwischen den Rekrutierungsmilieus von Theologie (und Kirche) und den übrigen Milieus und Subkulturen unserer Gesellschaft.
Über soziale Eigenwelten hinweg und auf Augenhöhe nach Gott forschen
Eine Überbrückung dieser Distanz ist für viele Theologinnen und Theologen zunehmend ein Anliegen. Dabei handeln sie durchaus aus Eigeninteresse. Denn sie wollen gemeinsam mit den Menschen ihrer Zeit auf Augenhöhe nach Gott fragen: um Neues, bisher Unbekanntes oder Vergessenes über Gott, seine Offenbarung und sein Evangelium zu lernen.
Sich mit unterschiedlichsten Menschen über Gott auszutauschen ist ein kooperatives Forschungsprojekt, das von vielerlei Asymmetrien gekennzeichnet ist.
Wer sich mit den unterschiedlichsten Menschen über Gott und mögliche Erfahrungen seiner Präsenz austauschen möchte, beabsichtigt genau betrachtet ein kooperatives Forschungsprojekt, das von vielerlei Asymmetrien und einem äußerst geringem Konsens gekennzeichnet ist. Asymmetrisch ist besonders die Verteilung von Deutungshoheit und Sprachfähigkeit in Hinblick auf religiöse Semantiken, Motivfelder und Problemkonstellationen.
Konsens besteht in einem solchen kooperativen Forschungssetting meistens nicht einmal über Ziel und Zweck der Kooperation. Mehr und Neues über Gott, seine Offenbarung und sein Evangelium zu lernen ist das Ziel professioneller Theologinnen und Theologen. Die meisten Menschen tangiert eine derartige Zielsetzung, wenn überhaupt, nur peripher.
Ziel muss sein, dass keine Seite der anderen ihre Ziele, Sprache oder Sicht auf die Dinge aufzunötigen braucht.
Für das Gelingen eines Forschungsprojekts ist es allerdings überhaupt nicht notwendig, dass zwischen den verschiedenen Kooperationspartnerinnen und -partnern ein Konsens darüber bestehet, was der Zweck der Kooperation ist und wie es um das jeweilige Verhältnis der einzelnen Akteure zum Forschungsgegenstand steht.
Für Forscherinnen und Forscher kommt es lediglich darauf an, die Einigkeiten und Uneinigkeiten im Kooperationsgeschehen zu organisieren. Diese Organisation müsste zugleich so gestaltet werden, dass die Unterschiede zwischen den Kooperationsparteien nicht verwischt, sondern vermittelnd überbrückt werden. Ziel muss sein, dass keine Seite der anderen ihre Ziele, Sprache oder Sicht auf die Dinge aufzunötigen braucht. Anders könnten sich die beteiligten Akteure nicht auf Augenhöhe begegnen.
Für eine solche Organisation wissenschaftlicher Kooperation ungleicher Partnerinnen und Partner haben Susan Leigh Star und James Griesemer das Konzept und Analyseinstrument der Grenzobjekte (Boundary Objects) entwickelt.[3]
Grenzobjekte (Boundary Objects)
Grenzobjekte können für einzelne Gruppen und Personen ganz verschiedenes bedeuten und mit ganz unterschiedlichen Praktiken, emotionalen Bindungen oder Zielen verbunden werden. Der Clou von Grenzobjekten: um gemeinsam miteinander arbeiten zu können, reicht es aus, wenn die Beteiligten sich über einen schwach strukturierten Bedeutungskern des Grenzobjekts verständigen können.
Grenzobjekte ermöglichen einen Austausch über unverbundene Grenzen von Eigenwelten hinweg.
Dieser geteilte Bedeutungskern reicht aus, um einen „shared space“[4] zu öffnen, wodurch sich unterschiedlichste Kooperationspartnerinnen und -partner bei Beibehaltung ihrer Autonomie und Eigenart begegnen können. Grenzobjekte ermöglichen so einen Austausch über unverbundene Grenzen von Eigenwelten hinweg, ohne dass eine soziale Eigenwelt der oder den anderen ihre Vision, ihre Sicht auf die Dinge oder ihr Instrumentarium aufzunötigen braucht.
Ich halte experimentelle Erkundungen für vielversprechend, inwiefern sich Engel als Grenzobjekte anbieten, wenn Theologinnen und Theologen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen außerhalb ihrer Reihen, Denkroutinen und Milieugrenzen in ihre Suche nach Gott ernsthaft einbeziehen wollen.
Es ist Zeit, den durch Engel eröffneten „shared space“ experimentell zu bespielen.
Es ist ein Leichtes aufzuzeigen, inwiefern sich das Verständnis der Engel binnenkonfessionell, interkonfessionell, interreligiös und im Verhältnis zu esoterischen, neopaganen oder popkulturellen Vorstellungen unterscheidet. Weitgehend unbeantwortet ist jedoch, was als Schnittmenge und Bedeutungskern diese durchaus sehr verschiedenen Welten mithilfe der vermittelnden Engel verbindet.
Es erscheint mir an der Zeit, den durch Engel als Grenzobjekte eröffneten „shared space“ experimentell zu bespielen.
___
Gerrit Spallek ist Theologe in Hamburg und Redaktionsmitglied von feinschwarz.net.
Bild: DESIGNECOLOGIST on Unsplash
___
[1] Vgl. Herbert Vorgrimler, Wiederkehr der Engel. Ein altes Thema neu durchdacht (Topos-Taschenbücher 653), Kevelaer 22008, 72.
[2] Dieter Heidtmann, Die Engel: Grenzgestalten Gottes. Über Notwendigkeit und Möglichkeit der christlichen Rede von den Engeln, Neukirchen-Vluyn 1999, 207f.
[3] Vgl. S. L. Star, J. R. Griesemer, Institutionelle Ökologie, ›Übersetzung‹ und Grenzobjekte, in: S. Gießmann, N. Taha, Grenzobjekte und Medienforschung, Bielefeld 2017, 81–115.
[4] Vgl. James Griesemer, Sharing Spaces, Crossing Boundaries, in: Geoffrey C. Bowker u. a. (Hg.), Boundary objects and beyond. Working with Leigh Star, Cambridge 2015, 201–218.
In der Engelreihe des Autors bisher bei feinschwarz.net erschienen:
Die Engel sind flügge geworden – und für die Theologie bedeutungslos?
Gott weiß, ich will kein Engel sein! Er selber ja auch nicht…