Zum Gedenken an den vor 50 Jahren verstorbenen Ludwig Marcuse. Von Erich Garhammer
Wohl am besten hat Reiner Kunze den Unterschied von Herbert und Ludwig Marcuse herausgearbeitet in der kleinen Textminiatur „Revolte“ in den „wunderbaren Jahren“:
Leihst du mir mal das Buch von Marcuse, so die halbwüchsige Tochter.
Aber das sind zweieinhalb Jahrtausende Philosophiegeschichte!
Macht nichts, ich will das Buch unbedingt lesen.
Es gibt zwei Marcuse, so der Vater.
Ist das der, der die Studentenrevolte angestoßen hat.
Nein, es ist Ludwig Marcuse, nicht Herbert. In diesem Buch geht es darum, was den Menschen zum Menschen macht.
„Ach so. Dann brauch ich es nicht.“
(Reiner Kunze, Die wunderbaren Jahre. Prosa, ftb 1978, 51)
Die Tochter ahnte nicht, welchen Schatz an philosophischen, geistreichen und witzigen Erkenntnissen sie sich entgehen ließ.
Schatz an philosophischen, geistreichen und witzigen Erkenntnissen
Ludwig Marcuse beginnt seine Autobiographie mit einer Begründung, warum darin kein Personenregister vorkommt: aus Menschenfreundlichkeit. Aus wissenschaftlichen Gründen braucht es kein Register, weil keine Studierenden hier Platon nachschlagen würden. Dagegen blättern sofort viele Zeitgenossen oder schlimmer noch deren Witwen darin mit einem einzigen Interesse: komme ich oder er/sie vor?
Dann gibt es vier Möglichkeiten und alle sind gleich ärgerlich:
- Der Gesuchte kommt nicht vor
- Oder nicht so oft, wie erhofft und gewünscht
- Oder vielleicht in schlechtem Zusammenhang
- Oder am ärgerlichsten, wenn der Kontrahent noch besser abschneidet.
Wozu also so viel Unglück auslösen. Die interessierten Leser/innen sollen sich überraschen lassen. Es sollte ihnen nicht von vornherein der Spaß verdorben werden.
Menschen mit Ideen haben ihn beeinflusst.
Ludwig Marcuse bekennt: nur Menschen mit Ideen haben ihn beeinflusst, nicht Ideen als solche. Sein Vorbild als philosophischer Lehrer war Georg Simmel: Er habe ihn das „Vielleicht“ gelehrt, den Enthusiasmus gegen die Sicherheit. Was er in der Philosophie allerdings nicht gelernt habe: ein Gefühl für den Körper – das gab es nicht. „Platon ist der Schutzheilige der größten Sünde unserer Tradition. Die Dichter folgten ihm und beschrieben fast nie (von vornehmen Krankheiten abgesehen) die körperlichen Schicksale ihrer Figuren: als ob sie nur aus Eifersucht und Ehrgeiz handelten.“
Dabei habe doch jeder eine nicht gänzlich unbekannte Geschichte seiner Schmerzen, von den ersten Zähnen bis zu den letzten Kreislaufproblemen. Auch die Gesundheit hat ihre Historie, eine ganz und gar nicht unwesentliche. Würden die göttlichen Möglichkeiten, die im Atmen liegen und im Entspannen der Muskeln, so trainiert wie die überflüssigsten Scharfsinnigkeiten, so würden wir viel mehr Mensch sein als mit unseren nicht entfalteten leiblichen Schätzen.
Hier denkt ein Philosoph Geist, Körper und Gesundheit zusammen. Es wird Zeit, Ludwig Marcuse wiederzuentdecken – nicht nur an seinem 50. Todestag im August 2021.
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Prof. em. Dr. Erich Garhammer, Universität Würzburg
Bild: Aaron Burden auf Unsplash.com