Über die Kirche zwischen Weltverwerfung und Weltoffenheit schreibt Konrad Baumgartner. Das Verhältnis von Kirche und Welt muss sich an Kriterien des Evangeliums und an theologischer Machtkritik orientieren.
1.
Das bis zum 2. Vatikanischen Konzil in der Kirche vorherrschende „societas perfecta-Modell“ verteidigte in apologetischer Weise die – oft vermeintlich oder tatsächlich angegriffene – Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche. Das „societas perfecta-Modell“ konzipierte die Kirche als „vollkommene Gesellschaft“ und ihrem Wesen nach vollständig und unabhängig. So verfügte sie über alle Mittel, um ihr Ziel zu erreichen, und sah sich unabhängig von den sie umgebenden Weltbereichen. Dieses Denk- und Handlungsmodell führte zu oft undifferenzierter und unreflektierter Abwehr und Disqualifizierung von (neuen) Weltbereichen: z.B. im Syllabus von 1864, einer Sammlung von 80 verurteilten modernen „Irrtümern“, oder im Antimodernistenstreit um die Wende zum 20. Jahrhundert – mit dem bis zum 2. Vatikanischen Konzil von allen Klerikern zu leistende Antimodernisten-Eid.
societas perfecta und Abwehr der Moderne
Damit wurde im Grunde das soteriologische Prinzip „extra ecclesiam nulla salus“ ausgedehnt auf die Verwerfung aller außerkirchlichen Sinnsysteme, Weltanschauungen und Weltreligionen, aber auch aller nicht römisch-katholischen Konfessionen (schon Petrus Canisius urteilte in seinem „Kleinen Katechismus“: Die Protestanten sind keine Christen).
Verwerfung aller außerkirchlichen Sinnsysteme, Weltanschauungen und Weltreligionen
Nur christlich konnotierte Wissenschaften wurden akzeptiert (eine „christliche Philosophie“, „christliche Literatur“, „christliche Kunst“, „christlicher Sport“, „christliche Schule“).
2.
Das 2. Vatikanische Konzil hat zwar das Prinzip der Kirche als „societas perfecta“ nicht begrifflich, aber dem sachlichen Anspruch nach weitergeführt: durch die Anerkennung der gesellschaftlichen Natur der Kirche, den Anspruch über alle geistlichen Mittel zur Umsetzung ihrer Sendung zu verfügen, die Betonung der Freiheit und Unabhängigkeit vom Staat. Doch sind nun die Religionsfreiheit und die Menschenwürde entscheidende Maßstäbe.
2. Vatikanisches Konzil: Religionsfreiheit und Menschenwürde als Maßstäbe
Mit der „Öffnung zur Welt“ und der Lehre von der relativen Autonomie der irdischen Wirklichkeiten hat das Konzil eine neue Verhältnisbestimmung von Kirche und Welt vollzogen. Die Welt wird als Gottes Schöpfung gesehen, die durch Jesu Leben, Sterben und Auferstehung, das „pascha-mysterium“, aus den noch herrschenden Weltmächten (Paulus: Fleisch, Sünde, Tod) bereits auf Hoffnung hin gerettet ist – hinein in die Reich-Gottes-Wirklichkeit (Geist, Rechtfertigung, Leben), die im Kommen Gottes am Ende der Weltzeit vollendet wird.
Die Weltbereiche bedürfen nun einer je eigenen Ethik (Wirtschaftsethik, Medizinische Ethik, Ethik des Sports, Medienethik, Politische Ethik, Welt-Ethos u.a.), die im Dialog mit Theologie und Kirche um Welt-Verantwortung besorgt sind.
Öffnung zur Welt, Dialog und gemeinsame Weltverantwortung
3.
Für den „weltoffenen Christen“ (A.Auer) gilt, was Dietrich Bonhoeffer in seiner „Ethik“ schreibt: „Die Weltlichkeit der Welt hat ihre Signatur ein für alle mal durch das Kreuz Christi empfangen… Das Kreuz der Versöhnung ist die Befreiung zum Leben mitten in einer gottlosen Welt“. Julius Döpfner betonte auf der 3. Weltbischofssynode 1974 in Rom: „Wer wirklich an Gott glaubt, der liebt auch die Erde und die Menschen… Das richtige Gottesbild schließt immer ein tiefes, positives, freilich nüchternes Weltverhältnis ein…Das Kreuz, auf welches das ganze irdische Leben Jesu zustrebte, wird dann auch das Wesensmerkmal all derer, die aus Christus leben.“
Julius Döpfner: „Das richtige Gottesbild schließt immer ein tiefes, positives, freilich nüchternes Weltverhältnis ein.“
Karl Rahner schreibt vom Paradox „christlicher Weltflucht“ und „christlicher Weltfreudigkeit“: „Das Christentum ist wesentlich fuga saeculi, weil es das Bekenntnis zu dem persönlichen, in Christus frei sich offenbarenden Gott der Gnade ist, der Gnade, die nicht die Erfüllung des immanenten Dranges der Welt zu ihrer Vollendung ist, wenn sie auch eschatologisch diese Weltvollendung überbietend herbeiführt. Alles Bekenntnis zum Kreuz… ist nur eine realistische Verwirklichung solcher wesenhaft christlichen Weltflucht…, die sich von jeder außerchristlichen Weltverneinung unterscheidet… und die ein Hineinsterben in das neue Leben Gottes ist… Erst aus diesen tiefen Hintergründen kommt nun auch die (ignatianische) Weltbejahung… Ignatius kommt von Gott zur Welt…, weil er sich dem Gott jenseits aller Welt und seinem Willen in der Demut anbetender Hingabe ausgeliefert hat, darum und aus diesem Grund allein ist er bereit, seinem Wort zu gehorchen, auch dann, wenn er aus der stillen Wüste seiner wagenden Flucht in Gott hinein von diesem Gott gleichsam zurückgeschickt wird in die Welt, die zu lassen er in der Torheit des Kreuzes den Mut gefunden hatte.“
Karl Rahner: fuga saeculi und Weltbejahung
4.
In einer so qualifizierten „Weltoffenheit der Kirche“ wird über eine theologische Verortung von Welt hinaus vom Konzil auch betont, dass die Kirche selbst „viel der Geschichte und Entwicklung der Menschheit verdankt“ (GS 44), ja, dass sie „auch dankbar erfährt, dass sie sowohl als Gemeinschaft wie auch in ihren einzelnen Kindern mannigfaltigste Hilfe von Menschen aus allen Ständen und Verhältnissen empfängt.“ (GS 44)
„Während sie selbst der Welt hilft oder von dieser vieles empfängt, strebt die Kirche nach dem einen Ziel, nach der Ankunft des Reiches Gottes und der Verwirklichung des Heiles der ganzen Menschheit… Der Herr ist das Ziel der menschlichen Geschichte, der Punkt, auf den hin alle Bestrebungen der Geschichte und der Kultur konvergieren, der Mittelpunkt der Menschheit, die Freude aller Herzen und die Erfüllung ihrer Sehnsüchte.“ (GS 45)
… dass die Kirche selbst viel der Geschichte und Entwicklung der Menschheit verdankt.
5.
Die Kirche ist „sacramentum mundi“, aber diesen Schatz trägt sie in irdenen Gefäßen (vgl. 2 Kor 4,7), d.h. in welthaften, geschichtlichen Organisationsstrukturen. So war und ist Welthaftes in der Kirche, das immer ambivalent ist: förderlich, hinderlich, verderbend oder zerstörend, weil das Böse in der Welt und im Menschen bis zum Ende der Weltzeit wirkmächtig ist. Deshalb beginnt das Gericht stets auch im Hause Gottes (vgl. 1 Petr 4,17).
Entweltlichung: Abkehr von zerstörerischen Mächten
Die Entweltlichung, d.h. die Abkehr von Mächten, die für die Botschaft Jesu vom Reiche Gottes und ihrer Wirksamkeit schädlich oder zerstörerisch sind (vgl. die Versuchungen Jesu: Macht, Reichtum, Götzendienst), ist eine berechtigte, ja, notwendige Aufgabe. Die kritische Überprüfung von evangeliumsfremden und -behindernden Momenten bedürfte im Sinne der „ecclesia semper reformanda“ einer kritisch-konstruktiven Instanz in der Kirche.
(Konrad Baumgartner, Prof. em., Universität Regensburg; Bild: Carolin Schwarzbach / pixelio.de)