Der Jahreswechsel ist eine gute Gelegenheit, wieder einmal darüber nachzudenken, welche zentrale Aufgabe das Leben einem gerade stellt. Von Helga Kohler-Spiegel.
Längst kenne ich die Empfindungen am Ende eines Jahres, wenn ich zurück und nach vorne schaue – ein wenig nachdenklich, ein wenig traurig, hoffentlich zuversichtlich, ziemlich dankbar. Auch wenn manches nicht so verlief, wie ich es mir gewünscht hätte, bleibt Dankbarkeit. Steindl-Rast sagt: „Ich bin nicht dankbar, weil ich glücklich bin, sondern ich bin glücklich, weil ich dankbar bin.“ Eine schöne Verbindung. Die Achtsamkeitsübung dazu ist einfach und bekannt: Überlegen Sie sich jeden Morgen beim Aufstehen drei Dinge (Begegnungen, Handlungen, Wahrnehmungen, Empfindungen, Alltagsabläufe, Erfahrungen…), auf die Sie sich an diesem heutigen Tag freuen.
Drei Dinge für den Abend
Und abends vor dem Schlafengehen überlegen Sie sich drei Dinge, für die Sie heute dankbar sind. Dies verändert Blick und Herz. Denn man kann „Glück haben“ und „Glück empfinden“, Zufalls- und Lebensglück, wie dies auch genannt wird, also Glück, das wir Menschen mitgestalten, und Glück, das uns zufällt, ohne eigenes Zutun. Noch zum Begriff: Das Wort „Glück“ kommt aus dem Mittelhochdeutschen, „Glück“ meint die Art, wie etwas endet, also den günstigen Ausgang eines Ereignisses, dass es „glückt“.
Es war Robert James Havighurst (1900 -1991), der sich mit der Frage der Entwicklungsaufgaben befasst hat, diese haben mit dem zu tun, was Menschen mitgestalten können, mit „Lebensglück“. „Eine ‚Entwicklungsaufgabe’ ist eine Aufgabe, die in oder zumindest ungefähr zu einem bestimmten Lebensabschnitt des Individuums entsteht, deren erfolgreiche Bewältigung zu dessen Glück und zum Erfolg bei späteren Aufgaben führt, während das Misslingen zu Unglücklichsein, zu Missbilligung durch die Gesellschaft und zu Schwierigkeiten mit späteren Aufgaben führt.“ [Havighurst, Robert J., Developmental Tasks and Education, Addison-Wesley Longman Boston, 3. Aufl. 1976, S. 2]
Zentrales Merkmal der Entwicklungsaufgaben – im Anschluss an Erik Erikson – ist diese Interdependenz: Damit ist gemeint, dass die Bewältigung oder Nichtbewältigung einer Entwicklungsaufgabe einer früheren Stufe Auswirkungen auf die Lösung von Entwicklungsaufgaben späterer Stufen hat. Entwicklungsaufgaben hängen also zusammen. Manche von ihnen sind einmalig im Leben, manche treten wiederholt auf und sind immer wieder zu lösende Entwicklungsaufgaben. Entwicklung ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen dem jetzigen Entwicklungstand und einem erwünschten, aktiv vorweggenommenen Zustand. Entwicklung wird also verstanden als Resultat vergangener Ereignisse und zugleich aus vorweggenommenen künftigen Geschehnissen.
Entwicklungsaufgaben
Manche Kinder haben das Glück, mit Zuwendung und Orientierung in ihrer Entwicklung unterstützt zu werden, andere müssen ihre Entwicklungsaufgaben früh, oft viel zu früh alleine lösen. Manche Kinder und Jugendliche und auch Erwachsene stellen sich ihren Aufgaben mit viel Energie aus eigenen Kräften, andere wiederum brauchen Unterstützung für die Bewältigung ihrer Entwicklungsaufgaben, auch innerhalb der Lebensphasen einer Person gelingt diese Bewältigung sehr unterschiedlich.
Erst spät in meiner therapeutischen Arbeit habe ich verstanden, dass Entwicklungsaufgaben „Aufgaben“ sind. Nicht Probleme, sondern Aufgaben. Wenn Entwicklungsaufgaben aber nicht angegangen werden, wenn wir uns nicht mit ihnen beschäftigen und uns damit auseinandersetzen, die neuen Herausforderungen zu lernen und Schritte zur Lösung zu machen, dann werden Entwicklungsaufgaben zum Problem. Dies ist im jungen Erwachsenenalter ebenso sichtbar wie für junge Eltern, in der Lebensmitte, am Ende der Erwerbsarbeit und im hohen Alter: Entwicklungsaufgaben sind eine Herausforderung. Sie zu verschleppen, auszublenden, zu ignorieren u.ä., lässt sie zum Problem werden.
Nicht immer ist das Leben freundlich, manchmal häufen und verdichten sich diese Entwicklungsaufgaben so sehr, dass es (fast) zu viel wird, sie zu bewältigen. Manchmal ist es die Aufgabe, sich Herausforderungen und Konflikten zu stellen, manchmal ist es genau die Anforderung, loszulassen, nicht (mehr) klären und verändern zu können. Manchmal würde man sich jemanden, den man verloren hat, an der Seite wünschen, um eine Entwicklungsaufgabe anzugehen – und es ist genau die Aufgabe, diese Schritte ohne einen geliebten Menschen an der Seite tun zu müssen.
Damit Aufgaben nicht zum Problem werden
Wieder einmal – am Ende eines Jahres – denke ich darüber nach, welche Entwicklungsaufgaben mir das Leben derzeit stellt und welchen Aufgaben ich mich stellen sollte, damit sie Aufgaben bleiben und nicht zum Problem werden. Von Kindern können wir die notwendige Grundhaltung dazu lernen: Kleine Kinder sind getrieben von der Freude, sich zu entwickeln und Neues zu lernen, ohne nachhaltig entmutigt zu sein, wenn es nicht gleich klappt.
Diese Zuversicht wünsche ich Ihnen – die Zuversicht, anstehende Entwicklungsaufgaben anzugehen, hilfreiche Schritte zu wagen, manchmal alleine, manchmal verbunden mit anderen Menschen – und zu vertrauen, dass das Ergebnis „geglückt“ sein werde.
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Helga Kohler-Spiegel ist Professorin an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg im Fachbereich Human- und Bildungswissenschaften; Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin, (Lehr-)Supervisorin; Mitglied der Redaktion von feinschwarz.net.
Bild: Rainer Bucher