Welche Erkenntnisse uns die Johannesapokalypse in der Coronapandemie schenkt, darüber hat Robert Mucha nachgedacht.
Die Welt befindet sich seit einem Jahr im Krisenmodus. Was noch mit einem zuversichtlichen und disziplinierten Frühjahrslockdown begann, ging in einen relativ laxen und überheblichen Corona-Sommer über, dem schließlich die Ernüchterung des Herbstes und die Wucht der wesentlich größeren Winterwelle folgte. Die Gefahr für Leib und Leben steht uns mit den bislang mehr als 100 Millionen Infizierten in der Pandemie weltweit in brutaler Distanzlosigkeit vor Augen. Hinzu kommen die noch nicht absehbaren psychischen, finanziellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen, die diese Gefahrenlage von uns allen fordern wird und zum Teil bereits jetzt in erschreckender Weise fordert.
Die Gefahr steht in brutaler Distanzlosigkeit vor Augen.
Es wäre viel darüber zu diskutieren, welche Rolle die Kirche in dieser Zeit einnehmen sollte. Neben konkreter Unterstützung in ihrer caritativen Sendung – gerade der Kranken, der Sterbenden und deren Angehörigen, geht es auch darum, die Menschen in dieser Zeit durch wirklichen Seelenbeistand zu unterstützen. Es ist daher – sicher scheiden sich auch hier die Geister – nach meinem Dafürhalten unbedingt notwendig, den Heilsraum „Kirche“ offen zu halten, Gottesdienste zu ermöglichen, Beerdigungen durchzuführen, Krankensalbungen zu spenden und auch im Sakrament der Eucharistie die bleibende Gegenwart Gottes auch in dieser Zeit zu betonen. Diejenigen, die schon schmucklose, gesangslose Messen im Winter mitgefeiert haben, können vielleicht nachvollziehen, dass selbst diese kultischen Stümpfe gerade jetzt einen Trost schenken können, den keine Ministerpräsident:innenkonferenz plus Kanzlerin jemals geben könnte.
Den Heilsraum „Kirche“ offen halten.
Doch jenseits aller täglichen Fallzahlmeldungen, RKI-Briefings, Coronaverordnungen und auch innerkirchlichen Fragen nach dem besten Umgang mit der Pandemie erleben wir uns im Lockdown als auf uns Zurückgeworfene. Diese Geworfenheit auf das eigene Ich provoziert Fragen – auch an die Theologie. Nicht selten habe ich im vergangenen Jahr in theologisch gefärbten Debatten aber auch in Talkshows und Unterhaltungen das Wort „apokalyptisch“ in Zusammenhang mit der Pandemie gehört. Immer wieder verweisen Menschen in der Coronapandemie also auf dieses letzte Buch der Bibel und die darin beschriebenen Untergangsbilder.
Apokalypsis bedeutet vom Griechischen her dabei zunächst einmal nichts Anderes als „Enthüllung“, „Schleier runterreißen“, „klar sehen“. Sicher wird uns in der Pandemie klarer, was fundamental zum Menschsein dazugehört: (körperliche und emotionale) Nähe, Beziehungen und Handlungsspielräume für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit etwa. So gesehen ist die Krise ein apokalyptisches Momentum.
Zurückgeworfene
Wenn man die biblische Apokalypse aber zur Hand nimmt und nun etwa versuchen würde, „Corona“ als eine göttliche Strafe angekündigt zu sehen, würde man weder dem Schriftwerk noch der Komplexität der gegenwärtigen Krise gerecht werden. Die Johannesapokalypse, ein Buch abgefasst gegen Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus, schenkt uns nicht die Blaupause für eine Bewältigung der Krise, aber sie schenkt uns einige Überlegungen zur menschlichen Grunderfahrung des Gefährdet-Seins, die auch heute noch theologisch im 21. Jahrhundert fruchtbar werden können.
Erkenntnis 1: Wir sind gefährdet!
Eine virale Pandemie ist nicht die einzige Gefahr für unser Leben, aber sie schafft Bewusstsein dafür, wie gefährdet wir sind. Jeder Gang vor die Tür könnte streng genommen der letzte sein – wir machen uns das nicht täglich bewusst und das ist vielleicht auch gut so, aber die Gefahr besteht: Durch Unfallpotentiale wie etwa im Straßenverkehr, durch schwer bis kaum prognostizierbare Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Einschläge von Asteroiden oder auch durch banale Kriminalität und jegliche sonstigen Verbrechen von Menschen an Menschen. Streng genommen, müssen wir noch nicht einmal den Schutzraum der Wohnung verlassen, um gefährdet zu sein – wir sind es qua Existenz. Während in hochtechnisierten Gesellschaften diese Fragilität aber oft erst dann auffällt, wenn z.B. besondere Wetterereignisse unsere Lebensgewohnheiten beeinträchtigen, steht sie Menschen in anderen Gegenden der Erde durch Hunger und Wasserknappheit täglich vor Augen.
Die Zerstörungen, die in den Visionen der Johannesapokalypse beschrieben werden (etwa bei den Siegelbrechungen und Posaunenstößen in Offb 6-11 oder beim Ausgießen der Zornesschalen in Offb 16), beschreiben einen Overkill, der die Lebenswelt „Erde“ als feindlichen Raum darstellt. Für den Seher Johannes mit seiner (für uns sehr befremdlichen) dualistischen Denkweise ist die Welt der Ort geworden, an dem das Böse regiert. Nur von Gott selbst her kann Hilfe kommen. Man muss und sollte vielleicht auch nicht die Position des Sehers teilen, dass die Welt gänzlich verloren sei und sich in der Hand des Bösen befinde, aber was man hier herauslesen kann, ist in erster Linie die Erfahrung, dass wir gefährdet sind – und zwar auch von Dingen, über die wir im Letzten keine Kontrolle haben. Wir können allenfalls Prognosen abgeben und Risiken abschätzen – so auch mit Blick auf das Coronavirus.
Erkenntnis 2: Wir können letztlich (fast) nichts tun!
Die vielleicht bitterste Erkenntnis in der Pandemie ist in dieser Verwundbarkeit das Gefühl der Ohnmacht. Damit dies nicht missverstanden wird: Natürlich kann man punktuell und in seinem Rahmen etwas dazu beitragen, dass die Pandemie eingedämmt wird (Kontaktreduktion, Hygienemaßnahmen, Mund-Nasen-Schutz tragen etc.), aber es ist illusorisch zu meinen, es läge in der eigenen Hand. Selbst das Kollektiv kann hier auch bei diszipliniertester Umsetzung nicht so agieren, dass das Virus „aus der Welt“ geschafft wird. Führende Virologinnen und Virologen sprechen davon, dass wir mit dieser Gefährdung weiterleben müssen und derlei pandemische Szenarien in unserem staatlichen wie persönlichen Risikomanagement auch künftig im Blick behalten sollten. Und natürlich können (nein: müssen!) wir alles unternehmen, um die ebenfalls mit großer Geschwindigkeit auf uns zukommende Klimakatastrophe in ihren Folgen für das menschliche Leben auf unserem Planeten abzufedern. Aber auch hier besteht die Frage, ob alle Bemühungen ausreichen werden – eine Ohnmachtserfahrung in aller sinnvollen Aktivität.
Die Situation der Gemeinschaft, die der Seher Johannes mit seiner Schrift anspricht, war eine komplizierte: die Christinnen und Christen dieser Gruppe missbilligten die römische Kultur, lebten aber nun einmal in Städten der römischen Provinz Kleinasien. Sie erkannten, dass es den aus ihrer Sicht widergöttlich agierenden Mitbürgerinnen und -bürgern gut ergeht, während sie zum Teil Repressionen und Polizeiaktionen gegen sich und ihre Gemeinschaft erfahren mussten. Was wären Auswege? Kollektiver Selbstmord wie bei New Age-Sekten? Bewaffnete Rebellion gegen die Ungläubigen? – All das waren, zum Glück, keine Optionen. Wir können aus dem Adressat:innenkreis der Johannesapokalypse lernen, dass das Wissen um die Gefährdung und das am eigenen Leib erfahrene Leid nicht in aggressiver Weise ausagiert werden muss, sondern innerlich neu ausgerichtet werden kann auf etwas Anderes. Oder sagen wir besser: jemand anderen.
Erkenntnis 3: Gott macht alles neu!
Das große Finale der Apokalypse ist die Vision des Neuen Jerusalem, das sich als Heilsort von einem neuen Himmel her schenkt. Wir haben hier einen vollkommen neuen Globus, eine neue Welt und einen neuen Lebensraum als Hoffnungsvision vor Augen. Wer die Johannesapokalypse aufmerksam liest, erkennt, dass Gott eigentlich nur in kalter und schweigend-edelsteinharter Manier auf seinem himmlischen Thron sitzt und sich huldigen lässt (vgl. Offb 4). Der eigentliche Akteur der endzeitlichen Ereignisse ist das Lamm (vgl. Offb 5), das einen aktiven Part auf dem Weg zum Weltengericht einnimmt. Gott ist also irgendwie da, aber er tut rein gar nichts. Er schweigt. Der schweigende Gott, der nichts tut und nicht eingreift, ist den Menschen damals wie heute Rätsel und Ärgernis. Die Frage ist berechtigt: Wo ist Gott in dieser Notlage? Warum tut er denn nichts?
Und dann, erst ganz am Ende der Schrift, öffnet der Thronende seinen Mund und sagt nur einen Satz: „Seht, ich mache alles neu!“ (Offb 21,5) Vom Ende her erweist sich Gott, der Schöpfer aller Dinge, als Neuschöpfer und Wandler aller menschlichen Bosheit und ethischen Abgründe. „Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.“ (Offb 21,3b-4) – Das Alte ist vergangen, und zwar nicht vergessen, sondern gewandelt. Diese Hoffnung ist gewaltig und das Vertrauen, das sich hier artikuliert, hat eine besondere Wurzel: Gott selbst. So steht diese Vision für die Hoffnung vieler: dass von Gott her der ersehnte Wandel erfolgt.
Die Johannesapokalypse eignet sich in der Lage, in der wir uns noch kollektiv befinden, also gut als Buch des realistischen Blicks auf ein Umfeld und eine Welt, die uns gefährdet. In dieser Welt können und sollten wir versuchen Besserungen zu erwirken – tun, was in unserer Hand liegt. Dass dies nicht viel ist, wird uns täglich bewusst. Doch nicht aufzugeben, dranzubleiben, und letztlich zu vertrauen und zu hoffen, dass von Gott her Heil geschenkt wird, kann fundamentalen Trost spenden. Die Welt hat bereits Pandemien überstanden und wir werden als Menschheit voraussichtlich auch diese Pandemie überstehen. Der Blick vom Ende her auf das Jetzt kann uns dabei helfen, diese Sicht klarer zu entwickeln, darauf zu fokussieren und in den Stunden der Verzweiflung auch einen Lichtfunken zu entdecken. Oder in weihnachtlicher Gewissheit gesagt: „Und das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst.“ (Joh 1,5) In diesem Sinne die Johannesapokalypse in der Pandemie neu zu erkennen und zu lesen – nicht als Horrorvision, sondern als Hoffnungsliteratur in der Bedrängnis – kann uns eine solche neue Hoffnung schenken und uns besonnen und wachsam durch diese pandemische Lage schreiten lassen.
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Text: Dr. Robert Mucha ist Theologe und Fachgebietsleiter für Philosophie und Religionen an der Münchner Volkshochschule. Im März erscheint im Katholischen Bibelwerk sein Buch „Rätselhafte Offenbarung. Das schwierigste Buch der Bibel entschlüsselt“.
Bild: Kuppel Neumünster, Würzburg; wikipedia commons.