Vieles wurde über Ungarn berichtet im Kontext der Flüchtlingskrise. Aber was denken und tun religiöse Akteure vor Ort? Tamás Gergely Forrai, Provinzial der ungarischen Jesuiten und Luca Somoskövi, deren Flüchtlingsbeauftragte, mit Ansichten und Anstößen.
Ein Sommer wie kein anderer
Der Sommer 2015 in Budapest war ein Sommer unglaublicher Erlebnisse und Erfahrungen: Menschenmassen erreichten die Stadt. Es waren nicht Touristen, sondern Menschen in Unsicherheit, mit vielen Fragen, mit alltäglichen Bedürfnissen, und offensichtlich auf Lösungen wartend. Eine Zeit der Krise, eine Zeit, die jeden bewegte: Der gute Wille der Menschen ist schnell, kreativ und geduldig.
Eine ältere Dame erscheint abends mit ihrem kleinen Hund und lässt sich um genau 19 Uhr auf der Treppe des Ostbahnhofs nieder. Bald schon ist sie von Flüchtlingskindern umzingelt und ein fröhliches Spiel mit ihrem Hund setzt ein. Eine Stunde später macht sich die Dame auf ihren Heimweg. Ein paar Tage später fragen unsere Freiwilligenhelfer sie, ob sie jeden Tag hierher kommt. „Nein“, antwortet sie, „aber momentan ist dies alles, was ich diesen armen Kindern geben kann.“
Es ist ein Sinnbild für den spontanen Drang zu helfen, das diesen Sommer zu erleben war. Es war schön zu sehen, dass in unserer Gesellschaft durch das, was die Menschen als wirkliche Not wahrnahmen, ein Bedürfnis zu helfen erweckt wurde, genau wie in den 1990er-Jahren, als Ungarn während des Balkankriegs für längere Zeit mehr als 100.000 Südslawen aufnahm und willkommen hieß. Wir Jesuiten verbanden uns von Anfang an mit anderen Freiwilligen und Organisationen. Wir bemühten uns, Gütersammlungen zu organisieren und allgemeine Hilfeleistungen anzubieten.
Was war geschehen?
Zwischen Januar und Mitte September 2015 wurden über 250.000 Menschen an unseren Grenzen als Asylsuchende registriert. Dies stellte sich als unbeherrschbare, schockierende und schlichtweg ungeheuer große Flüchtlingswelle heraus, auf die unsere Grenzposten nicht ausreichend vorbereitet waren, obwohl der erste Anstrom von Menschen Ungarn bereits vor dem Frühjahr aus dem Kosovo erreicht hatte. Fast jeder der flüchtenden Menschen hatte seine Reise fortsetzen wollen: Ungarn war nur ein Transitland. Der Hauptgrund für die Schwierigkeiten bestand darin, dass unser Land sich von Anfang an darum bemühte, seinen rechtlichen Verpflichtungen nachzukommen, wie sie durch die Regeln zur Grenzsicherung und Registrierung der Dublin- und Schengen-Abkommen festgelegt waren. Diese Regeln jedoch wurden von der Mehrzahl der Flüchtlinge umgangen: Diese verließen die vorgesehenen Unterkünfte und kampierten insbesondere in den Straßen Budapests.
Erinnerungen wurden geweckt an Zeiten, in denen Ungarn ihre Heimat verlassen mussten.
Inmitten dieser humanitären Krise zeigte sich die Bevölkerung der Stadt spontan solidarisch mit der Notlage der Flüchtlinge. Einzelne Bürger, aber auch Vereine und Organisationen – alle suchten nach Wegen zu helfen. Positive kollektive Erinnerungen an Ereignisse der letzten Jahrhunderte wurden geweckt, als insgesamt hunderttausende Ungarn ihre Heimat verlassen mussten und andernorts heimisch werden mussten, oder als Ungarn andere – Juden, Polen, oder Deutsche – in ihrem Land willkommen hießen. Vielleicht erklärt diese Offenheit die Tatsache, dass in diesem Sommer und auch danach keine Übergriffe auf Flüchtlinge stattfanden.
Das Gros der illegalen Migration ließ nach dem 15. September drastisch nach, als die Schließung der südlichen Grenze vollzogen wurde. Während eines weiteren Monats wurde eine weitere Viertel Million Flüchtlinge von Kroatien nach Österreich durchgelassen. Als aber deutlich wurde, dass es in der EU keine einheitliche Strategie gab, mit der Krise umzugehen, schloss die Regierung auch diese Grenze. Seitdem müssen Asylsuchende sich rechtmäßig an der Grenze registrieren lassen, bevor sie ungarischen Boden betreten.
Diskussionen der Kirche
Die entscheidende Frage, vor der unsere Gesellschaft heute steht ist weniger die, ob sie die Grenzpolitik der Regierung unterstützen soll – dafür gibt es einen breiten Konsens der Unterstützung. Es ist vielmehr die Frage, welcher Methoden man sich bedienen soll, um die Flüchtlinge davon abzuhalten, die Grenze einfach zu überqueren. Im September unterstützten 68% der Bevölkerung eine physische Grenzschließung; im November waren es bereits 87%.
Im Namen der ungarischen Kirche ließ Kardinal Péter Erdő bereits im Frühling verlautbaren: „Die Kirche hat in dieser Hinsicht eine primäre Mission, und diese lautet, humanitäre Hilfe bereitzustellen und die Würde derjenigen zu schützen, die in Armut, Sorge und Not leben.” Während der Monate der Krise beteiligten sich viele Christen, allein und in Gruppen, in zivilen und in kirchlichen Organisationen aktiv am täglichen Bemühen, den Flüchtlingen zu helfen. Sie sammelten Spenden, besuchten Flüchtlinge, stellten medizinische Hilfe bereit, und halfen selbst mit dabei, dass persönliche Handys genutzt werden konnten.
Was hatte zur Spaltung der Gesellschaft geführt? Die Rhetorik der Regierung, aber auch die Identitätskrise Europas.
Bald jedoch wurde die Hauptfrage innerhalb der ungarischen Kirche die der “Differenzierung”, und es entstand eine einzigartige Debatte über die Frage, wer wirklich in Not ist. Wer ist ein Migrant und wer ist ein Flüchtling? Die Medien sprachen rasch von inneren Differenzen darüber, wie wir Papst Franziskus‘ Mahnung, andere willkommen zu heißen, interpretierten. Anfangs war von der inspirierenden Kraft die Rede, die von der spontanen Solidarität ausgegangen war. Aber was war passiert? Was hatte zur Spaltung der ungarischen Gesellschaft geführt? Die Rhetorik der Regierung hatte zweifellos zur Folge, dass innerhalb eines breiten Gesellschaftsspektrums Angst geschürt wurde. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Es wurde auch deutlich, dass sich das reiche aber geschwächte Europa in einer tiefen Identitätskrise befindet. Die Menschen sahen sich gezwungen genau zu überlegen, worin die jüdisch-christlichen Werte und die gemeinsamen europäischen und demokratischen Ideale bestehen, auf denen unsere Gesellschaft gründet und die wir verfechten und verteidigen.
Das Problem: Europa weiß nicht, wer oder was es ist
Es scheint keine gemeinsame EU-weite Koordination und Führung zu geben, keine ausgeprägte europäische Identität für einen Konsens: Wir stehen in Europa vor einem Test unserer Einheit. Die gewachsene europäische Identität scheint stark geschwächt. Von hier aus wirkt es, als erlebten wir nun eine von politischer Korrektheit verursachte Krise: Über Jahrzehnte hinweg konnten bestimmte Themen und Fragen aus Angst vor politischer Ausgrenzung nicht angesprochen werden. Im Laufe der Zeit setzte so der Verfall einer konstruktiven Diskussionskultur ein. Die Regierung Orbán ist, bei all ihrer üblen Rhetorik, eine der wenigen, die Themen anspricht, die in Europa tabuisiert worden sind.
Unsere Gesellschaft definiert sich über Ängste.
Auf tieferer Ebene haben wir das Gefühl, dass die Krise ein psychosoziales Portrait Europas ist, welches es bis heute nicht geschafft hat, die Traumata des 20. Jahrhunderts (dessen Kriege und immer neue Friedensabkommen, die Schoah etc.) zu verarbeiten. Wir sind voller Sorge, Frust, unterdrückter Kreativität und unter dem Druck uns zu beweisen. All dies führt dazu, dass unsere Gesellschaft sich über ihre Ängste definiert. Wir „fürchten“ einen unumkehrbaren demographischen Wandel, demzufolge die muslimische Bevölkerung bis zum Ende dieses Jahrhunderts in bestimmten Ländern in der Mehrheit ist. Wir haben Angst, dass diese Völkerwanderung unserem Kontinent anstatt wirtschaftlichen Wachstum zu bescheren, große neue Soziallasten aufbürdet.
Wir haben Angst, dass kulturelle Unterschiede zu unbeherrschbaren Konflikten führen, wenn ein großer Teil der Bevölkerung nicht in die weitere Gesellschaft integriert ist. Wir haben Angst, dass wir weniger den Reichtum kultureller Vielfalt zu spüren bekommen werden, als dass diese Vielfalt unsere Kultur zerreißt. Und nicht zuletzt haben wir Angst vor dem Verlust unseres wirtschaftlichen Wohlstands. Viele der ungeheilten Wunden des 20. Jahrhunderts sind in Europa an die Oberfläche getreten, und in Ungarn sind diese durch jene Ängste vergrößert, welche aus unseren eigenen traumatischen Erfahrungen hervorgegangen sind.
Unsere historische Erinnerung ist:
Wir sind es, die Europa immer verteidigt haben!
Jetzt werden wir von Europa ausgegrenzt.
Unsere Gegenwart ist von historischen Erinnerungen gefärbt, denen zufolge „wir Europa verteidigt haben“ – gegen die Tartaren, die Türken, gegen die Sowjets. Es ist problematisch, dass unsere Trauer über die Ereignisse des 20. Jahrhunderts dazu führt, dass wir die positiven Aspekte unserer Geschichte vergessen: die Rettung so vieler Juden und die Aufnahme unzähliger Polen während des zweiten Weltkriegs oder die Aufnahme ostdeutscher Flüchtlinge 1989. Für uns in Ungarn wirkte es wie neues Öl im Feuer, als westliche Medien und Politiker während der Ereignisse im letzten Herbst versuchten, Ungarn mit starken Verallgemeinerungen auszugrenzen und das ungarische Volk auf grob vereinfachende Art als „faschistisch“ bezeichneten. Von den hiesigen Medien wurde das wirksam ausgenutzt. Uns wurde traurig bewusst, dass unsere Sicht auf die Dinge abwich von dem, was, aus weiter Ferne, über uns und unsere Situation geschrieben wurde.
Was jetzt zu tun ist.
Wir, die ungarischen Jesuiten, sind der Überzeugung, dass wir uns langfristig auf die Flüchtlingsfrage konzentrieren müssen, egal wie sehr andere Dinge uns in Anspruch nehmen, und egal wie bescheiden wir zugeben müssen, dass wir keine Lösung für das Problem zur Hand haben.
Es liegt jedoch in unserer Verantwortung, Gläubige und Nicht-Gläubige über jene Werte zu informieren, welche die europäische Identität in der aktuellen Situation ausmachen. Wir müssen Menschen darüber informieren, dass die Flüchtlingskrise, egal ob wir uns entscheiden aktiv zu werden oder nicht, unsere Gesellschaft fraglos beeinflussen wird – und zwar mit langfristigen und daher noch nicht bekannten Herausforderungen. Dies wird mit unvermeidlichen Opfern einhergehen. Unsere Handlungen, oder auch der Mangel solcher, wird unsere Zukunft grundlegend beeinflussen.
Wir haben aber auch den jesuitischen Flüchtlingsdienst ins Leben gerufen und wir arbeiten in Kooperation mit anderen:
- Wir helfen und koordinieren Freiwilligenspenden und -dienste, so dass diese von uns und unseren Partnerorganisationen bestmöglich genutzt werden können. Wir haben auf den Gebieten des Rechts, der Bildung und der sozialen Dienste professionelle Arbeitsgruppen gegründet.
- Wir benutzen, adaptieren und teilen die Erfahrungen des internationalen jesuitischen Flüchtlingshilfsprogramms (Jesuit Refugee Service). Unsere Webseite (jmsz.hu) ist eine Informationsquelle, die bei der Flüchtlingskrise und den Spendenaktionen helfen soll und sie dient als Plattform, um wirksame Erfahrungen und Lösungen zu teilen.
- Wir haben auf Fóto ein Mentorenprogramm für unbegleitete Minderjährige eingeführt, die Integrationshilfe brauchen, wie z.B. beim Spracherwerb und im Erwerb allgemeiner Lebenskompetenzen.
- Wir organisieren Bildungsprogramme und Diskussionen:
- In unserem Dialoghaus organisieren wir professionelle und informative Programme zur Flüchtlingsfrage, für ein besseres und nuancierteres Verständnis der Problematik und ihrer verschiedenen Aspekte.
- Wir bieten Bildungsprogramme für Journalisten und Erzieher an.
- Wir bieten ein Programm an, welches Freiwillige auf ihre Arbeit vorbereitet und sie darin unterstützt.
- Wir bieten Wahrnehmungsprogramme für junge Menschen an.
- Wir bereiten Bildungsmaterial für Gymnasialschüler vor, das ein besseres Verständnis der Flüchtlingsfragen ermöglichen soll und das ihnen dabei helfen soll, eine christliche Antwort auf diese Fragen zu formulieren.
Tamás Gergely Forrai SJ ist Provinzial der ungarischen Provinz des Jesuitenordens. Luca Somoskövi arbeitet als Leitende Koordinatorin des Flüchtlingsdienstes der ungarischen Jesuiten.
Foto: Mika Abey /pixelio.de
Herzlicher Dank gilt Julia und Andrew Meszaros (Wien), ohne deren Hilfe dieser Text nicht hätte erscheinen können.
Hinweis der Redaktion: Innerhalb der katholischen Kirche in Europa zeigen sich harte Auseinandersetzungen um den Weg der Mitgliedsländer der Europäischen Union. Insbesondere die Bischofskonferenzen Ungarns und Polens nutzen im Rahmen dieser Auseinandersetzung Instrumente, die auch als Zensur beschrieben werden. Betroffen ist EuropeInfos, eine von ComECE und dem Europäischen Sozialzentrum der Jesuiten herausgegebene Zeitschrift. Vgl. https://www.kathpress.at/goto/meldung/1350708/aufregung-um-katholisches-eu-magazin-europeinfos.