Welche Kirche hat eine Zukunft? Pastoralreferent Jürgen Engel (Würzburg) berichtet von einer Exkursion nach Frankreich, die schon zu Beginn der 1990er Jahre inspirierende Ausblicke in die Kirche von morgen ermöglichte.
„Was hast du heute abend vor?“ – ein Satz, wie er in einem typischen Beziehungsfilm vorkommt. Und die Zuschauenden ahnen: das wird jetzt intim. Da will jemand mehr von der oder dem anderen erfahren. Und wer weiß? Vielleicht wird sogar mehr draus – spannend auf alle Fälle!
Wir wussten damals nicht, was wir vor hatten, als genau dieser Satz fiel – in Frankreich. Okay, in Frankreich ist man da etwas lockerer. Da kommt eine Einladung oft schneller zustande als im reservierten Deutschland: „Dann besorgt doch einfach das Fleisch und das Brot. Wein ist genug da!“ Gastfreundschaft pur, unkompliziert wie unter Freunden. Nur hätte niemand von uns so etwas von unserem Gastgeber erwartet.
Habt ihr heute Abend schon etwas vor?
Wir waren 12 junge Theologinnen und Theologen, angehende Priester bzw. Pastoraleferentinnen und Pastoralreferenten, auf einer Exkursionsfahrt durch Nordfrankreich im Jahr 1993. Und der Gastgeber, der uns mit den Worten „Habt ihr heute schon etwas vor?“ zu sich nach Hause einlud, war Jacques Gailllot, damals Bischof der Diözese Évreux.
Dass aus diesem Abend bei Bischof Gaillot ‚mehr‘ wurde, das ist uns erst später deutlich geworden. Denn prägend sollte der Abend für fast alle werden. Nicht weil es an diesem Abend wider Erwarten dann wolkenbruchartig regnete und die Gartenparty in die Küche des Bischofs verlegt wurde. Tropfnass saßen wir mit ihm dann um den kleinen runden Tisch und erzählten begeistert von dem, was wir alles Bewegendes in den letzten beiden Tagen in der Diözese des ‚kleinen Bischofs von Évreux‘ erfahren hatten. Von Pfarreien, die sich ohne Priester organisieren. Von Ehrenamtlichen, die ihr Bischof zusammen mit seinem Generalvikar in ihrer Gemeinde besucht, wenn eine Vakanz bevorsteht. Und die nicht entsetzt sind, wenn ihr Bischof ehrlich bekundet, dass er keinen Hauptamtlichen hat, der die Leitung der Gemeinde übernimmt – egal ob Priester oder Laie. Von Ehrenamtlichen, die nach einem Kurs in ihrer Gemeinde das Taufsakrament spenden oder eine Wort-Gottes-Feier leiten. Und die sich vor Ort zunehmend selbst organisieren, mit Unterstützung aus Évreux. Ehrenamtliche, die als Laien spüren, dass sie gemeint sind, weil ein Bischof zu Ihnen kommt, und ihre Fähigkeiten und ihr Engagement schätzt.
Je n’ai personne
In kirchlichem Sinne ‚intim‘ gesprochen: Ein in der Sukzession der Auferstehungszeuginnen und -zeugen Stehender erkennt die Charismen der durch Taufe und Firmung berufenen Christgläubigen, er stärkt und fördert sie. Von Freiheit ist die Rede. Vom Apostolat der Laien und von der besonderen Würde des Bischofsamtes. Heute nach fast 25 Jahren wird mir klar, wie wichtig es in Évreux war, dass der Bischof persönlich in die Gemeinde kam und ganz offiziell den Notstand aussprach: „Je n’ai personne.“ – „Ich habe niemanden.“ Damit war allen klar, dass jetzt etwas anderes passieren musste. Überall, wo Gaillot hinkam, fiel damals dieser Satz. Und danach wurde gemeinsam überlegt: Was könnt ihr tun? Habt ihr Ehrenamtliche, die Aufgaben übernehmen können? Kennt ihr einen geeigneten Mann, der Diakon in eurer Gemeinde werden könnte? Habt ihr gute Frauen und Männer, die das Sakrament der Taufe spenden und Menschen oder Eltern darauf vorbereiten können? Welchen Priester kann der Bischof wenigstens ab und zu schicken, damit in der Gemeinde und Kirche vor Ort Eucharistie gefeiert werden kann?
Heute werden ähnliche Fragen auch gestellt. Doch mit einem feinen Unterschied. Niemand wagt diesen Satz: „Je n’ai personne!“. Heute weiß ich, wie mutig Gaillot war, als er die Grenzen seiner Möglichkeiten offen legte und sich verabschiedete von den oft überzogenen Erwartungen an sein Bischofsamt.
Radikale Veränderungen
In Gemeindeentwicklungsprozessen und Gemeindeberatungen ist ja vielen klar, dass es so ist, wie es ist. Alle Verantwortlichen im Bistum bis hin zum Bischof äußern die Notwendigkeiten von Veränderungen. Aber den Notstand ausrufen – schwer denkbar! Alle wollen ‚Perestroika‘, aber niemand will sozusagen der ‚Gorbatschow‘ sein! Denn mit diesem Mann verbinden wir zwar den Friedensnobelpreisträger, der die damalige Sowjetunion verändert und den kalten Krieg beendet hat. Gleichzeitig hat er auch den Untergang der alten Strukturen in Russland zu verantworten. Deshalb tut sich das heutige Russland mit dieser großen Leistung seines ehemaligen Staatspräsidenten sehr schwer. Auf alle Fälle erfährt Gorbatschow hierfür nicht die Anerkennung, die er verdient hätte. Wer eben solch radikale Veränderungen in Gang setzt, muss auch riskieren, Teil der Veränderung zu werden.
„Je n’ai personne!“ – das setzte für die Ehrenamtlichen vor Ort im Bistum Évreux etwas anderes in Gang: eine Entlastung von der Furcht, etwas zu verändern gegen den Bischof, und eine Dynamik für eigenverantwortliche Schritte. Die Tragweite eines solchen Führungshandelns war uns damals natürlich nicht so bewusst – wir spürten nur die innere Freiheit bei unserem Gastgeber und hatten die begeisterten und motivierten Ehrenamtlichen vor Augen, die von solcher Wertschätzung geprägt wurden. Und es erschien in unseren Augen damals ganz leicht, etwas in der Kirche zu verändern, wenn man nur will. Heute weiß ich Führungspersonen zu schätzen, die mutiger werden und Probleme konkret benennen und gleichzeitig all ihre Möglichkeiten bei der Lösung transparent machen. Leider scheuen sich Führungspersonen oft, in solcher Weise „intim“ zu werden und arbeiten mit dem bekannten ‚information hiding‘. Alles verpasste Chancen, die notwendige Prozesse verhindern.
Ein Schluck Wertschätzung
Noch einmal ‚intim‘ wurde es 1993 ganz zum Schluss, als Bischof Jacques Gaillot in seinen Keller ging und mit einer Flasche 1969er Armagnac wieder kam. Ein edler Tropfen, den er auf unsere damals noch junge Zukunft trinken wollte. Wir wollten das erst gar nicht annehmen und meinten, es ginge doch auch mit einem Glas Rotwein. Doch Gaillot spürte wohl, wie sehr wir jungen Theologinnen und Theologen einen Schluck ‚Wertschätzung‘ nötig hatten. Er war nicht davon abzubringen. Unter Freunden macht man ja auch mal eine gute Flasche auf. Aber diese ca. 200-Mark teure Flasche war mehr als das. Ich bin kein Weinbrandkenner und kann heute auch nicht mehr sagen, wie er geschmeckt hat. In Erinnerung bleibt, wie menschlich eine Führungsperson in der Kirche eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen und damit Wertschätzung schenken kann.
Zudem weiß ich heute mit einem Blick ins Internet, dass die Armagnac-Brandweinherstellung älter ist als die von Cognac. Schon im 15. Jahrhundert diente Armagnac nicht als Genussmittel, sondern wurde in der Medizin zum Lindern von Schmerzen verwendet.
Santé – denn Veränderungsprozesse verlaufen in den wenigsten Fällen schmerzfrei.
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Bildquelle: http://www.la-croix.com/Religion/Actualite/Le-pape-Francois-et-Mgr-Jacques-Gaillot-une-rencontre-entre-freres-2015-09-02-1351374