Erich Garhammer zeichnet ein Porträt der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux entlang ihres therapeutischen Schreibens. Literatur wird so zur palliativen Heimat.
Annie Thérèse Blanche Ernaux, geborene Duchesne (*1940) bezeichnet sich als „Ethnologin ihrer selbst“ und prägt mit ihrem Schreiben Generationen von Schriftstellerinnen. Kindheit und Jugend verbrachte sie in Yvetot, einem kleinen Ort in der Normandie. Ihre Eltern waren Arbeiter und betrieben später ein kleines Ladengeschäft mit angeschlossenem Café. Sie besuchte ein katholisches Lycée und studierte in Rouen und Bordeaux, um als Gymnasiallehrerin zu arbeiten. 1974 erschien ihr Debütroman „Les Armoires vides“. Darauf folgten weitere autobiografisch-soziologische Romane, unter anderem „La Place“ (1983; Neuübers.: „Der Platz“, 2019), „Une Femme“ (1988; Neuübers.: „Eine Frau“, 2019), „Se perdre“ (2001; „Sich verlieren“, 2003), „Les années“ (2008; Neuübers: „Die Jahre“, 2017) und „Mémoire de Fille“ (2016; „Erinnerung eines Mädchens“, 2018).
Für ihre Werke erhielt Annie Ernaux viele Auszeichnungen, unter anderem den Prix Renaudot (1984) für „La Place“, den Prix de la langue française (2008) sowie den Prix Marguerite-Yourcenar (2017) für ihr Gesamtwerk. Natürlich stellt der Literaturnobelpreis 2022 alle anderen Preise in den Schatten. Annie Ernaux erfuhr die Meldung aus den Nachrichten, sie war von der Schwedischen Akademie am Telefon nicht zu erreichen, so vergraben war sie ins eigene Schreiben.
Der Literaturnobelpreis 2022 stellt alle anderen Preise in den Schatten.
Das charakterisiert schon viel von ihrem Arbeiten: Sie hat spät zur Literatur gefunden. Schreiben ist für sie eine therapeutische Arbeit – ähnlich wie für ihre Mutter das Lesen ein Befreiungsakt war. Die Mutter war eine einfache Frau: Sie war Arbeiterin in einer Fabrik. Sie hat ihrer Tochter oft erzählt, dass sie abends noch die Büros geputzt hat, um sich ein bisschen was dazu zu verdienen. Und die Sekretärinnen hatten in ihren Schubladen oft ein Buch liegen. Also hat sie sich mit dem Putzen beeilt, um diese Bücher lesen zu können. Und jeden Abend hat sie sich gesagt, morgen lese ich weiter.
Das Tabu Sexualität
Sie konnte mit ihrer Mutter über alles reden, nur nicht über Sexualität. Sexualität war in den meisten Unterhaltungen nur ein Anlass für Witze. Sie habe in ihrer Kindheit und Pubertät nie jemanden anders über Sexualität reden hören als in Form von Zoten, auch Frauen nicht. Dass das ein Gesprächsgegenstand sein könnte, über den man ernsthaft redet oder zu dem man seinen Kindern gar etwas erklärt, war absolut undenkbar. Alle gingen davon aus, dass man sich darüber anders informieren musste und dass die Sexualität das größte denkbare Geheimnis bleiben sollte. In der „Erinnerung eines Mädchens“ erzählte sie von ihrer ersten sexuellen Erfahrung. Im Sommer 1958 arbeitete sie als Betreuerin in einer Ferienkolonie. Zum ersten Mal verlässt sie ihr Elternhaus. Abgesehen von der Busreise nach Lourdes mit ihrem Vater im Alter von zwölf Jahren und der jährlichen Wallfahrt nach Lisieux hatte sie noch nie ihren Heimatort verlassen. Die erste Begegnung mit einem Mann bedeutete für sie einen Schock. „Sie unterwirft sich nicht ihm, sondern einem universalen Gesetz, dem Gesetz der wilden Männlichkeit, dem sie früher oder später begegnen musste. Und wenn dieses Gesetz brutal und dreckig ist, dann ist das eben so.“ (Erinnerung eines Mädchens, 46)
Ihr Schreiben darüber viele Jahre später empfindet sie als Distanz zu der damaligen Erschütterung: Es heißt den Abgrund erkunden zwischen der ungeheuren Wirklichkeit eines Geschehens in dem Moment, in dem es geschieht, und der merkwürdigen Unwirklichkeit, die dieses Geschehen Jahre später annimmt.
Schreiben heißt den Abgrund erkunden.
In ihrer späteren Ehe erlebte sie den Unterschied zwischen ihrer proletarischen Herkunft und der bourgeoisen Existenzform ihres Mannes sehr deutlich. Als Studentin, die einen Studenten geheiratet hatte und eine partnerschaftliche Beziehung vor Augen hatte, musste sie entdecken, dass sie allein für Küche und Haushalt zuständig sein sollte. Ihr Mann übernahm keine der Aufgaben im Haushalt, was sie in seiner großbürgerlichen Herkunft begründet sah. Auch seine Mutter hatte nie gearbeitet, obwohl sie über einen Studienabschluss in Chemie verfügte. Sie hat „nur“ ihre Kinder erzogen. Die ganze Familie ihres Mannes hat deshalb nicht verstanden, dass Annie als Mutter von zwei Kindern zugleich Lehrerin war und Bücher schrieb. Man hat sie dafür regelrecht verachtet.
Diagnose Brustkrebs: der Antrieb zum Schreiben
Nicht die Abtreibung oder die Scheidung waren für Annie Ernaux die Antriebsfeder für ihr Schreiben, sondern die Diagnose „Brustkrebs“. Sie fühlte plötzlich die Endlichkeit ihres Lebens, ihre Vergänglichkeit und die drohende Auslöschung ihrer Erfahrungen. Deshalb schrieb sie am Anfang des Buches „Die Jahre“ den großen Prolog über Bilder und Worte: „All das wird innerhalb einer Sekunde vergehen. Getilgt das von der Geburt bis zum Tod angesammelte Wörterbuch. Stille wird eintreten, und man wird keine Wörter mehr haben, um sie zu sagen. Aus dem offenen Mund wird nichts mehr kommen. Kein Ich, kein Mir, kein Mich… Bei Familienfeiern wird man nur noch ein Vorname sein, von Jahr zu Jahr gesichtsloser, bis man in der anonymen Masse einer fernen Generation verschwindet.“ (Die Jahre, 17).
In diesem Moment wurde ihr klar, dass das Gedächtnis an sie verschwinden wird. Das Buch „Die Jahre“ verdankt sich der Bedrohung, möglicherweise zu sterben. Sie wollte etwas von ihrer Zeit retten. Als sie das Buch geschrieben hatte, war sie geheilt.
Sie wollte etwas von ihrer Zeit retten.
Sie hatte es zwar schon in den 1990er Jahren konzipiert, aber erst, als sie von der Krebserkrankung erfuhr, konnte sie sich ans endgültige Schreiben begeben, getrieben von der Idee, die Zeit retten zu wollen, die sie mit ihrer Generation erlebte. Bei diesem Schreiben erfuhr sie „hautnah“, was Erinnerung ist. Erinnerung ist einfach die Spur der Welt in uns. Und von uns, von allem anderen werde nicht viel übrigbleiben. Die Erinnerung im Schreiben wurde für sie die Rettung ihrer Welt, ja ihres Lebens. Die Literatur wurde für sie zur „palliativen Heimat“1. Sie konnte nun die Wahrheit ihres Lebens niederschreiben, ungeschminkt, eine Entdeckungsreise in das eigene Selbst. Bei dieser Entdeckungsreise wird auch die Bedeutung der Religion nicht ausgespart, ganz im Gegenteil.
Der Bedeutungsverlust der Religion in den Augen einer Frau
Wer Annie Ernaux liest, lernt viel von der früheren Bedeutung der Religion für das Leben der Menschen und von ihrer Bedeutungslosigkeit heute. Die Religion strukturierte das eigene Leben und den Ablauf des Jahres: „Man wartete ungeduldig auf die heilige Kommunion, den glorreichen Auftakt für alles Wichtige, was noch kommen würde, die erste Monatsregel, den Volksschulabschluss, den Wechsel auf die höhere Schule.“ (Die Jahre, 46). In der Kirche trennte der Mittelgang Jungen und Mädchen. Sex war die große Angst der Gesellschaft, diese Gefahr lauerte überall: in tiefen Ausschnitten, in schwarzer Unterwäsche, im Bikini und in dunklen Kinosälen.
Die Religion strukturierte das eigene Leben und den Ablauf des Jahres.
„Die Religion gab dem Leben einen offiziellen Rahmen und rhythmisierte das Jahr. Die Zeitungen druckten Rezepte für die Fastenzeit, und im Postkalender konnte man den Ablauf verfolgen, vom Sonntag Septuagesimae bis Ostern. Freitags kam kein Fleisch auf den Tisch. Die Sonntagsmesse bot Gelegenheit, sich herauszuputzen, ein neues Kleidungsstück vorzuführen, Hut, Handtasche und Handschuhe zu tragen, zu sehen und gesehen zu werden und die Messdiener mit den Augen zu verfolgen. Sie war der äußere Beweis einer Moral und die Gewissheit eines Schicksals, das in einer ganz bestimmten Sprache, Latein, verfasst war. Indem man jede Woche dieselben Gebete aufsagte und die rituelle Langeweile der Predigt ertrug, tat man Buße für den anschließenden Genuss.“ (Die Jahre, 45f.)
Der Katholizismus sei aus dem Alltag verschwunden.
Doch dann der Riss: Der Katholizismus sei aus dem Alltag verschwunden und nicht mehr prägend gewesen. „Lässliche und Todsünden, die Gebote Gottes und die der Kirche, Gnade und die Kardinaltugenden waren Begriffe, die niemand mehr verstand, Ausdruck einer überholten Denkweise… Die Kirche versetzte Pubertierende nicht mehr in Angst und Schrecken, sie hatte keine Kontrolle mehr darüber, wann und mit wem die Leute Sex hatten, sie bestimmte nicht mehr über den Bauch der Frauen. Indem sie ihre Hauptbeschäftigung verlor, den Sex, verlor sie alles.“ (Die Jahre, 161f.) Daran habe auch die Beliebtheit des polnischen Papstes nichts geändert. Man habe ihn zwar als einen Kämpfer für Freiheit nach westlichem Vorbild gesehen, als einen Lech Walesa der Weltpolitik. Zugleich aber durchschaute man sein Auftreten als bloße Publicity. Die Tatsache, dass er die Erde küsste, sobald er aus dem Flugzeug stieg, gehörte genauso zur Show, so wie Madonna bei einem Konzert ihren Slip ins Publikum warf, so Ernaux.
Im Schreiben fand sie den ihr angemessenen Ausdruck als freies Subjekt.
Eindringlich – und das in wenigen Sätzen – hat Annie Ernaux den Bedeutungsverlust des Katholizismus in der eigenen Biografie beschrieben. Diesen Katholizismus – einst bergende Heimat – hat sie im Erwachsenwerden als Käfig erlebt, als lebenshinderlich. Im Schreiben fand sie nun den ihr angemessenen Ausdruck als freies Subjekt.
Literatur:
Annie Ernaux, Erinnerung eines Mädchens, stb 5022, Berlin 2022.
Annie Ernaux, Die Jahre, Berlin 2017.
Beitragsbild: Frankie Fouganthin auf Creative Commons
- Vgl. dazu Erich Garhammer, Erzähl mir Gott. Theologie und Literatur auf Augenhöhe, Würzburg 2018, 131-153. ↩