Denis Schmelter erläutert, warum die Positive Psychologie ein Segen für die Katholische Theologie ist.
Vom Sinn der Arbeit
„Drei Jahre muss ich noch, dann habʼ ich die Rente endlich durch“, raunt der bierdünstende Schnauzbartträger mit Wohlstandswampe seine unverhohlene Job-Verdrossenheit heraus. Man kann sich diesen bis in seine feiste Physiognomie hinein sichtlich ressentimentverseuchten Nörgler wahrlich nicht als leidenschaftlichen High-Performer vorstellen. Er gehört zur in Deutschland gar nicht so seltenen Spießbürger-Spezies mit jener Mittelstands-Adipositas, in der sich Stumpfsinn und Stillstand förmlich verleiblichen – körperlicher Bewegungsmangel, seelische Erschlaffung und geistige Regungsarmut werden durch den montäglichen Pegida-Spaziergang nur unwesentlich ausgeglichen.
Animositäten vibrieren in unserem Gespräch, und als ich ihm erzähle, dass ich an einer Ausbildung zum „Zertifizierten Anwender der Positiven Psychologie“ teilnehme, um meinen Beitrag zur Förderung eines glücklichen Klimas in Gesellschaft und Kultur leisten zu können, presst er die irgendwie vorwurfsvoll klingende Frage hervor: „Und was bringt dir das beruflich?“ In mir dämmert die Befürchtung auf, die Dialektik in diesem Dialog könne symptomatisch sein für eine Haltung, mit der sich viele gleichermaßen saturierte wie frustrierte Deutsche selbst im Weg stehen, wenn es um Berufs- und Lebenszufriedenheit geht. Sie laborieren an der Überzeugung: Erwerbstätigkeit ist nur ein notwendiges Übel, ein Mittel zum Zweck der sozioökonomischen Sicherheit; da diese allerdings ständig gefährdet ist, sind alle anderen Aktivitäten danach zu bewerten, ob sie zu ihrem Erhalt oder ihrer Verbesserung beitragen. Wer in den diabolischen Bann solchen Irrsinns gerät, der arbeitet, obwohl es keinen Spaß macht, und lehnt zugleich alles ab, was Spaß macht, insofern es nicht dem Arbeits-Outcome zuträglich ist.
„Beitrag zur Förderung des Glücks“ … „Und was bringt dir das beruflich?“
Die katholische Theologie, seit jeher eine Anwältin des „Zweckfreien, aber Sinnvollen“, vermag den Horizont wohltuend zu weiten. Zunächst einmal arbeitet der Mensch, um zu leben; er lebt aber nicht, um zu arbeiten. Des Weiteren dienen geistliches Leben und theologisches Erwägen der immer neuen Revitalisierung der biblischen Urerfahrung: „Gott nahe zu sein ist mein Glück“ (Ps 73,28). Als Teilhaber an der schöpferischen Lebensfülle des Dreieinigen ist der Mensch berufen zur Selbst-Verwirklichung im besten Sinn: in der Justierung seiner Existenz auf Gott sein wahres Selbst zu finden und in der Realisierung des göttlichen Heils- und Liebeswillens das Leben zu feiern. Befindet sich der Mensch auf diese Weise in Konsonanz mit seiner Wesensbestimmung, dann geht damit naturgemäß mit hoher Wahrscheinlichkeit auch eine faktische Erhöhung seiner Lebensqualität einher. Wer sich nämlich im zufriedenen Einklang mit sich selbst, seinen Mitmenschen und seiner Umgebung befindet, der bricht aus dem angstgetrieben-krampfenden Kreisen ums Ego aus, erweitert seinen Wahrnehmungs- und Handlungsradius und macht kraft konstruktiver Kommunikation und Interaktion bessere Beziehungserfahrungen. So gelangt er in eine Aufwärtsspirale, die ihn wiederum dahingehend dynamisiert, seine Potenziale zum Florieren freizusetzen – ein sich selbst belohnender Prozess.
Die katholische Theologie ist seit jeher eine Anwältin des „Zweckfreien, aber Sinnvollen“.
Idealerweise begreift ein Christ/eine Christin sein/ihr Dasein als Geschenk und Auftrag, dessen bewusste Annahme als solche verbürgt, dass er/sie im Modus der Kooperation seiner/ihrer endlichen menschlichen Freiheit mit der unendlichen göttlichen Gnade daran arbeitet, für sich und seine/ihre Mitmenschen so viel Heil und Liebe, Friede und Sinn realisieren zu können wie nur irgend möglich. So fasst er/sie sein Leben, Lieben und Arbeiten auf als Beteiligung an Gottes shalom-Projekt. Kennzeichen erlösten Lebens ist mithin die dankbar-freudige Wertschätzung, Intensivierung und Mehrung des Guten für sich und für Andere, das vertrauensvolle Sich-Einschwingen in die heilend-befreiende Gegenwart Gottes, das beherzt-tatkräftige Mitwirken an der Ausbreitung der Energie lustvoll-leidenschaftlicher Lebensbejahung, kurzum: die Hingabe an die Basileia.
Christliches Leben, Lieben und Arbeiten als Beteiligung an Gottes shalom-Projekt
Innerhalb eines solchen Rahmens vermag vielleicht sogar ein nur noch als lästig empfundenes berufliches Tätigsein mit etwas mehr Seele gefüllt zu werden, erscheint es doch als Teil eines größeren Ganzen, das sich sub specie aeternitatis als sinnvoll erweist. „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie“[1], lautet der (an ein Nietzsche-Zitat angelehnte) Leitsatz von Viktor E. Frankl (1905-1997). Das ist leicht gesagt, und es gibt Situationen, in denen trotz Kenntnis des „Warum“ durchaus kein „erträglicher“ Weg mehr auffindbar ist. Da erscheint dann selbst der wohlmeinende Imperativ des warmherzigen Dale Carnegie (1888-1955) – Tun Sie Ihre Arbeit mit Begeisterung![2] –, eher als nette Erinnerung an eine Zeit, zu der menschliche Personen noch nicht als „Human Capital“ verunglimpft wurden. Vollends peinlich werden Aperçus vom Format blauäugiger Kalendersprüche: „Solange man nicht das tut, was man liebt, kann man ja versuchen zu lieben, was man tut“[3], rät Eckart von Hirschhausen (geb. 1967), dem es als finanziell sorglosem Bestsellerautor leichtfallen dürfte, derart zu „lieben“. Doch immerhin: Wenngleich nicht jeder just den Beruf bekommt, der seiner individuellen Berufung entspricht und ihm persönliche Erfüllung schenkt, kann die Ausrichtung auf den umfassenderen Sinn des Wirklichkeitsganzen, dessen Teil das eigene Arbeiten ist, zumindest die Frustrationstoleranz erhöhen und den Fokus auf das Gute im Leben zu lenken helfen. Dieser Sinn erschließt sich freilich nur in einem transzendenzoffenen Wirklichkeitsverständnis. Was Menschen „glauben“, ist also von brisanter Wichtigkeit und hat konkrete Konsequenzen für die Wirklichkeitswahrnehmung und ‑gestaltung. Spirituelle Grundüberzeugungen können die individuelle Befindlichkeit und Daseinsgestaltung erheblich prägen und vermögen einen wirksamen Einfluss auf das gesellschaftliche und kulturelle Klima zu entfalten.
Was Menschen „glauben“, hat konkrete Konsequenzen für die Wirklichkeitswahrnehmung und ‑gestaltung.
Das soteriologisch-eschatologische Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens hat das Zeug dazu, positiv systemverändernd in Gesellschaft und Kultur hineinzuwirken. Vereinzelt gelingt dies bereits in erfreulicher Weise. Warum dies gelingt und wie man dieses Gelingen weiter ausbauen und fördern, kultivieren und intensivieren kann, wird von Seiten der Theologie nur selten systematisch erforscht. Eugen Biser (1918-2014) gehört zu den wenigen Theologen, die ihrer Zunft die Pflicht ins Stammbuch schrieben, genau diesen Bereich zu beleuchten, die „therapeutische“ Wirkmacht der Theologie wieder zu explizieren und zu applizieren.[4] Ausgerechnet dieses wesentliche Bewährungsfeld theologischen Forschens bleibt aber bislang weithin unbeackert.
Die „therapeutische“ Wirkmacht glaubender Lebenssinn-Erschließung als Stiefkind theologischen Forschens
Gottesglaube und Lebensglück im Alltag – Theologie und Positive Psychologie
Die Konnexion von Gottesglaube und Lebensglück „muß in der Begegnung mit persönlichen Modellen und in den Lebenskontexten des Alltags real erfahren werden. Es ist entscheidend, daß im Alltag tatsächlich erlebt werden kann, worum es [beim Glauben an Gott] geht“[5]. Und für genau diese Vermittlung ist ein interdisziplinärer Austausch der Theologie mit der Positiven Psychologie vielversprechend.[6] Bei diesem neueren anwendungsbezogenen Forschungszweig der akademischen Psychologie geht es um die wissenschaftliche Untersuchung und praktische Umsetzung von Konzepten, die zu einem glücklichen (Zusammen‑)Leben der Menschen verhelfen. In dezidierter Orientierung an den Standards empirischer Wissenschaftlichkeit werden die an einem erfüllten Leben und konstruktiven Zusammensein der Menschen beteiligten Faktoren erforscht. Die tatsächliche Funktionalität der praktischen Interventionen zur Vermittlung der entsprechend ermittelten glücksförderlichen Faktoren wird durch empirische Überprüfung gewährleistet.
Im Zentrum stehen durchweg positive Kraftquellen, wie etwa Dispositionen und Zustände, welche das gesundheitliche Wohlbefinden des Menschen erhalten und fördern (z.B. salutogene Faktoren), Autoregulationsfähigkeiten, mit denen ein Mensch auch im Krisenzeiten ein „robustes“ Gleichgewicht aufrechterhalten kann (z.B. Resilienz), aufbauende soziale Kommunikations- und Interaktionsstile (z.B. Aktives Konstruktives Reagieren), handlungsleitende mentale Befindlichkeiten und existenzprägende Weltsichten (z.B. Optimismus), spirituelle Grundhaltungen (z.B. Achtsamkeit, Dankbarkeit) sowie eine Vielzahl anderer positiver Einstellungen und Verhaltensweisen, die, biblisch gesprochen, ein „Leben in Fülle“ (Joh 10,10) charakterisieren. Auffällig ist, dass sich manche Konzepte und Interventionen der Positiven Psychologie in einer frappierenden Nähe zu Menschenbildern und Praktiken religiöser Glaubenstraditionen befinden und zum Teil wohl auch maßgebend von jüdisch-christlichen Wirklichkeitsauffassungen inspiriert sind.[7]
Positive Psychologie steht in einer frappierenden Nähe zu Menschenbildern und Praktiken religiöser Glaubenstraditionen.
Jedenfalls eröffnet der interdisziplinäre Austausch der Theologie mit der Positiven Psychologie die Chance, einerseits den glückförderlichen Impact, den soteriologisch-eschatologischer Glaube auf die Wirklichkeitsgestaltung haben kann, konkret erfahrbar zu machen, andererseits das Welt- und Menschenbild der Psychologie auf jenen größeren Sinnhorizont hin zu weiten, vor dem sich das einst von Eugen Drewermann (geb. 1940) beklagte Dilemma auflöst, die Moderne habe eine seelenlose Theologie und eine gottlose Psychologie hervorgebracht.
Und ja, auch Vergebungsbereitschaft gehört ausdrücklich zu den Stärken und Werten, die sowohl die Positive Psychologie als auch die Theologie zu würdigen wissen und zu fördern trachten: Verständnisvolles Mitgefühl für die Situation des Anderen in einer grundsätzlich wohlwollenden Haltung, deren „zentrales Prinzip die Gnade und nicht die Rache ist“[8], reduziert Konflikte und verbessert das zwischenmenschliche Beziehungsklima. Daher wünsche ich auch meinem eingangs zitierten Gesprächspartner aus Sachsen aufrichtig die Erfahrung des Erlöstseins: Möge er vertrauensvolle Zuversicht, friedliebende Prosozialität und souveräne Zufriedenheit realisieren können und darin etwas von jenem „spirit“ christlicher Lebensbejahung und Lebensfreude erfahren, der in der Synergie von Positiver Psychologie und Theologie wieder spürbar aufscheinen kann. Denn damit lässt sich gut leben. Bis zur Rente und darüber hinaus.
[1] Frankl, Viktor E.: Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse, Frankfurt am Main 71998, 90.
[2] Carnegie, Dale: Sorge dich nicht – lebe! Die Kunst, zu einem von Ängsten und Aufregungen befreiten Leben zu finden, Gütersloh 1984, bes. 265-273. 281.
[3] Hirschhausen, Eckart von: Glück kommt selten allein, Reinbek bei Hamburg 92009, 256.
[4] Vgl. u.a. Biser, Eugen: Theologie als Therapie. Zur Wiedergewinnung einer verlorenen Dimension, Schwerin – Hamburg 2002.
[5] Jacobs, Christoph: Salutogenese. Das Leben gesunder Menschen bereichern. Pastoralpsychologische Perspektiven zur Förderung der Gesundheit von Priestern und Ordensleuten, in: Grün, Anselm/Müller, Wunibald (Hg.): Was macht Menschen krank, was macht sie gesund?, Münsterschwarzach 1997, 71-108, hier: 106.
[6] Als einführende Überblickslektüre eignet sich Blickhan, Daniela: Positive Psychologie. Ein Handbuch für die Praxis, Paderborn 2015.
[7] Einen ersten vergleichend-vermittelnden Annäherungsversuch dazu bietet Bär, Martina/Paulin, Maximilian (Hg.): Macht Glück Sinn? Theologische und philosophische Erkundungen, Ostfildern 2014.
[8] So definiert es der „Values in Action“-Fragebogen, ein positiv psychologisches Tool zur Einschätzung individueller Charakterstärken; vgl. www.charakterstaerken.org [Aufruf am 18.05.2016].
(Bild: Rike / pixelio.de)