Die sechste „Wallfahrt der Märtyrer“ in Brasilien fand am 16. und 17. Juli 2016 statt. Stefan Silber berichtet von der Wallfahrt, ihren Ursprüngen und der Lebensfreude angesichts der Zeugnisse von Menschen, die ihre Solidarität mit den Schwachen mit dem Tod bezahlten.
“Diese Wirtschaft tötet!” Mit einem Zitat von Papst Franziskus gab Bischof Adriano Ciocca zu Beginn seiner Predigt den theologisch-politischen Rahmen für die „Wallfahrt der Märtyrer“ an: “Diese Wirtschaft tötet” nicht nur Millionen von Menschen weltweit, die zu den Verlierern des Wirtschaftssystems zählen, sondern auch diejenigen, die sich prophetisch und solidarisch für sie einsetzen. Die Märtyrer und Märtyrerinnen sterben denselben Tod, der auch die Menschen trifft, mit denen sie leben.
“Diese Wirtschaft tötet!”
Gegen diesen Tod setzten die etwa 3700 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Wallfahrt ihren Einsatz für das Leben und ihren Glauben an den auferstandenen Märtyrer Jesus. Es waren Menschen aus allen Teilen Brasiliens und einigen Ländern Lateinamerikas. Zwei kleine deutsche Reisegruppen verkörperten fast alleine die weltweite Bedeutung der Wallfahrt. Die Begeisterung für das Leben spiegelte sich in der Gestaltung und der Atmosphäre der Wallfahrt wider: Das war keine spröde Gedenkveranstaltung oder traurige Erinnerung, sondern lustvolle, lebendige und überzeugte Spiritualität mitten in einer konfliktiven Gegenwart.
lustvoll, lebendig, spirituell
Die „Wallfahrt der Märtyrer“ fand zum sechsten Mal statt. Pedro Casaldáliga, damals Bischof der zentralbrasilianischen Prälatur São Félix do Araguaia (Mato Grosso), hatte sie im Jahr 1986 ins Leben gerufen, zehn Jahre nachdem der Jesuit João Bosco Penido irrtümlich an seiner Stelle erschossen worden war. Die beiden Nachfolger, die der inzwischen emeritierte Casaldáliga hatte, hielten an dieser Wallfahrt fest, die zu einem festen Bestandteil der kirchlichen Erinnerungskultur Lateinamerikas geworden ist.
Auffallend war, dass die Märtyrerwallfahrt Menschen aller Altersgruppen anzog: Von jungen Eltern mit Babys und Kleinkindern, sehr vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis hin zu Veteranen der Befreiungskirche im Rentenalter war jedes Lebensalter vertreten. Gerade die vielen jungen Menschen machten durch ihre Anwesenheit und ihre Ausdrucksformen deutlich, dass politisches Engagement und Solidarität mit den Armen in der brasilianischen Kirche eine lebendige Zukunft vor sich haben.
Junge und Alte stehen ein für politisches Engagement und Solidarität
Einer der Märtyrer, derer in diesem Jahr gedacht wurde, ist der Bamberger Salesianer Rudolf Lunkenbein. Vor 40 Jahren wurde er bei der Verteidigung der Landrechte der Bororó-Indianer umgebracht, zusammen mit dem Bororó Simão, der versucht hatte, den Padre zu verteidigen. Lunkenbein ist (neben Elisabeth Käsemann) wohl der einzige Deutsche unter den Hunderten von lateinamerikanischen Märtyrern der letzten 50 Jahre. Ein Seligsprechungsprozess für ihn und für Simão Bororo wurde in diesem Jahr eröffnet. Eine kleine Delegation aus den Diözesen Bamberg und Würzburg, unter ihnen einige Verwandte Lunkenbeins, besuchte daher nach der Wallfahrt auch noch sein Grab und zwei Dörfer der Bororó. Auch vierzig Jahre nach seinem Tod lebt Lunkenbein dort in der Erinnerung der Menschen, mit denen er für das Leben kämpfte.
Lunkenbein ist ein gutes Beispiel für den Typus des Märtyrers, für den diese Wallfahrt steht: Er setzte sich mit ganzer Energie für die Lebensmöglichkeiten der Bororó ein, nicht nur für die Demarkation ihres Territoriums, sondern auch für ihre Gesundheitsversorgung, Elektrizitätsgewinnung, Schulbildung. Er überzeugte die Bororó davon, dass sie als Indigene eine Zukunft haben würden – als diese gerade beschlossen hatten, keine Kinder mehr zu bekommen und den Stamm aussterben zu lassen. Es war ein Zeichen für die Wirksamkeit der Hoffnung, die Lunkenbein gemeinsam mit anderen im Volk der Bororó aufleben ließ, dass nach einigen Jahren der Kinderlosigkeit wieder Kinder im Dorf geboren wurden.
Von einer Zukunft überzeugen – als gerade beschlossen wurde, keine Kinder mehr zu bekom
men und auszusterben
Rudolf Lunkenbein setzte sich für das Leben ein, weil er den Tod täglich zu Gesicht bekam. Er starb auf der Suche nach dem Leben anderer und im Engagement gegen ihren Tod. Sein Martyrium war eine Konsequenz dieses Kampfes um das Leben und hat deswegen nichts von der morbiden Verklärung einer heroischen oder weltfremden Todessehnsucht.
Märtyrer gibt es in der lateinamerikanischen Kirche bis heute. Denn immer noch kämpfen Menschen aus ihrem Glauben heraus für das Leben derjenigen, die von der globalen Wirtschaft getötet werden. Bis in die Gegenwart reichte die Litanei der Namen von Märtyrerinnen und Märtyrern, an die während der Wallfahrt erinnert wurde. Sie wurden mit einem vielstimmigen „Presente na caminhada!“ („Er/Sie ist mit uns auf dem Weg!“) beantwortet. Die Erinnerung blieb daher auch kein Rückblick in die Vergangenheit, sondern zeigte und stärkte die Motivation, in der Gegenwart für Gerechtigkeit, Frieden und die verwundete Schöpfung einzutreten, auch wenn dieser gewaltlose Einsatz gewalttätige Konsequenzen haben kann.
Märtyrer: keine morbide Verklärung heroischer oder weltfremder Todessehnsucht
Denn auch in der Gegenwart werden Menschen aus Gründen der Solidarität ermordet. Auch in Deutschland wurde im März 2016 der Fall von Berta Cáceres bekannt, die sich für Land- und Menschenrechte indigener Völker in Honduras eingesetzt hatte. Landgrabbing für Bergbau, Energiegewinnung und Agroindustrie gehört zu den konfliktreichsten Problemfeldern der Gegenwart in Lateinamerika. Aber auch der bedenkenlose Einsatz von Umweltgiften in der Landwirtschaft, oft auf Kosten der Landarbeiter, wurde während der Wallfahrt thematisiert. Gerade diese Beispiele zeigen sehr gut, wie unser Lebensstil im Norden zu den Konflikten in der ganzen Welt beiträgt.
Auf Menschenleben nehmen die mächtigen transnationalen Wirtschaftsinteressen oft keine Rücksicht. Auch Menschen, die sich gegen diese Interessen zur Wehr setzen und das Lebensrecht auch der Indigenen, der Arbeiter, der armen Menschen verteidigen, kommen in das Visier dieser Wirtschaft, die tötet. Bis heute gibt es Märtyrer, die ihre glaubende Solidarität, ihre revolutionäre Barmherzigkeit mit dem Leben bezahlen. Sie machen den Tod sichtbarer, der so viele andere inkognito trifft. Sie verweisen aber nicht nur auf den Tod, sondern vor allem auf das Leben, für das sie eintreten, um das sie kämpfen.
K
eine Rücksicht auf Menschenleben: Landgrabbing, Umweltgifte, Wirtschaftsinteressen
Während des mehrstündigen Wallfahrtszuges vom kleinen Ort Riberão Cascalheira zur etwa drei Kilometer entfernten Wallfahrtskirche der Märtyrer wurde dieses Leben spürbar: Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer tanzten und sangen zu der rhythmischen Musik vom Lautsprecherwagen. Das Leben war auch Thema der Erinnerungen an die Märtyrer und an ihr Engagement. Als konkrete Beispiele wurden unter anderem die Leiden und Kämpfe der Indigenen, der Afrobrasilianer, der Arbeiter, der Frauen, der Kinder und Jugendlichen und die bedrohte Schöpfung genannt. Liebe, Lust am Leben und an der Unterschiedlichkeit der Menschen standen im Vordergrund: Das Leben in all seiner Vielfalt soll gesucht, entfaltet, verteidigt und gefeiert werden.
Tanz und Gesang
Am nächsten Tag, dem Sonntag, wurden in einer Eucharistiefeier auch deutliche liturgische Zeichen gesetzt: Zahlreiche Frauen gestalteten die Liturgie mit, unter anderem bei der Verkündigung des Evangeliums. Vertreter des indigenen Xavante-Volkes beteiligten sich mit einem Tanz aus ihrer Tradition. Am Altar konzelebrierte neben fünf katholischen auch ein anglikanischer Bischof.
Pedro Casaldáliga, fast 90-jährig und von seinem “Bruder Parkinson” gezeichnet, nahm als Ehrengast im Rollstuhl teil. In der Vergangenheit war er vielfach angefeindet und bedroht worden. Der Vatikan versuchte mehrfach ihn zu disziplinieren, aber in der brasilianischen Kirche und in seiner tiefen Spiritualität fand er immer den nötigen Rückhalt, um weiter für das Leben und gegen den Tod zu kämpfen. Sein unermüdlicher Einsatz für Indigene, Afrobrasilianer und Landlose wurde während der Wallfahrt auch in einem eigens für ihn geschriebenen Theaterstück gewürdigt. Nicht biografisch, sondern thematisch orientiert zeigten verschiedene Szenen, wie der Bischof sich für die Armen einsetzt und dafür von kirchlichen Behörden gerügt und von den Mächtigen bedroht wird.
Pedro Casaldáliga, fast 90-jährig und von seinem “Bruder Parkinson” gezeichnet, nahm als Ehrengast im Rollstuhl teil.
“Meine Anliegen sind wichtiger als mein Leben”, hat Pedro Casaldáliga oft wiederholt. Die Wallfahrt der Märtyrer zeigte, dass viele in Lateinamerika dies in ihrem Leben so umgesetzt haben und bis heute praktizieren. Manche von ihnen wurden auf der Suche nach dem Leben ermordet. Andere setzen ihr Leben täglich ein: Für die Lebensmöglichkeiten und Menschenrechte der Armen und für das Recht anderer, unterschiedlich zu sein. Die diesjährige Wallfahrt der Märtyrer machte sichtbar, wie lustvoll und erfrischend dieser Einsatz sein kann.
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Stefan Silber, Dr. theol. habil, Privatdozent an der Universität Osnabrück, arbeitet als Theologe und Pastoralreferent in Würzburg und ist Koordinator der Plattform Theologie der Befreiung.
Bilder: Romaria dos Martires da Caminhada, Norbert Jung, Stefan Silber