Was kennzeichnet die ersten fünf Jahre der Amtszeit von Jorge Mario Bergoglio als Papst? Walter Kirchschläger sieht den Bischof von Rom im Rückblick vor allem als Reformer und prophetischen Menschen, der für Kirche und Welt zum öffentlichen Gewissen geworden ist.
Die Fünfte Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik, die vom 13. bis 31. Mai 2007 in Aparecida (Brasilien) tagte, rief zu einem neuen „missionarischen Erwachen“ auf und formulierte in ihrem Schlussdokument die folgende Ermutigung:
„Lasst uns mit den Booten aufs Meer hinausfahren, mit dem kräftigem Rückenwind des Heiligen Geistes, ohne Furcht vor den Stürmen, in der Überzeugung, dass Gottes Vorsehung große Überraschungen für uns bereithält.“[1] Dieser missionarische Aufbruch der Kirche als Ausdruck einer inneren Erneuerung sollte den gesamten südamerikanischen Kontinent entfachen, wobei die versammelten Bischöfe von der Hoffnung auf ein neues Pfingsten erfüllt waren. So heisst es in dem zitierten Dokument weiter: „Lassen wir uns also vom Feuer des Geistes wieder anstecken.“[2]
hier beginnt (wieder) Neues
Präsident der Redaktionskommission dieses Dokuments war der argentinische Kardinal Jorge Mario Bergoglio, Erzbischof von Buones Aires. Ihm fiel daher auch die schwierige Aufgabe zu, die 127 römischen Änderungswünsche[3] an dem umfangreichen Dokument auf einen vertretbaren Einfluss zu reduzieren. Sechs Jahre später und vor genau fünf Jahren, am 13. März 2013, wurde Jorge Mario Bergoglio zum Bischof von Rom gewählt.
Kaum jemand, der an jenem denkwürdigen Abend den ersten Auftritt des Gewählten im Fernsehen mitverfolgte, wird nicht betroffen gewesen sein. Der übliche Ritus der Präsentation der gewählten Person nach einem Konklave trat in den Hintergrund, verdrängt durch die einfache, bescheiden-demütige nonverbale Kommunikation und durch das, was Bischof Franziskus mit wenig Stimme, aber fester Ausdruckskraft zu sagen hatte. Alle Kommentatorinnen und Kommentatoren dieser ersten Stunde stimmten überein: Das ist nicht einfach ein Nachfolger von Benedikt XVI., hier beginnt (wieder) Neues. Viele haben schon damals die Brücke zu Johannes XXIII. geschlagen und an auffällig Vergleichbares erinnert: die persönlichen Worte, das bescheidene, aber bestimmte Heraustreten aus dem vorgegebenen Ritual, die fast humorvolle Einordnung der eigenen Person und des Wahlvorgangs:[4] „Fast bis ans Ende der Welt“ seien die Kardinäle bei ihrer Wahl gegangen, sagte Franziskus, um von dort her „Rom einen Bischof zu geben.“[5]
„Il carnevale e finito.“
Das waren ganz neue Töne, vermutlich schon damals im römischen Umfeld nicht überall gerne gehört. Hartnäckig hält sich als eines der ersten Zitate des neuen Bischofs von Rom aus der Umkleidesakristei vor der Begegnung mit der Öffentlichkeit der Satz: „Il carnevale e finito.“ Was er damit (alles) gemeint haben mag? So einfach gekleidet war schon lange kein Papst auf der Loggia von S. Pietro erschienen: Keine Mozetta, die prunkvolle Stola gerade nur zum Segen umgelegt, kein päpstliches kostbares Brustkreuz mit Kordeln und Quaste, sondern das eigene Bischofskreuz aus Metall an einer Metallkette um den Hals. Und wie frau oder man bald feststellen konnte: Rote Schuhe haben ausgedient, es geht auch mit schwarzen.
Bergoglio ist anders als seine unmittelbaren Vorgänger.
All das wurde schon des öfteren kommentiert. Trotzdem: Es ist wichtig, dies bewusst zu halten. Körpersprache und Auftreten signalisierten bereits den Neuanfang. Ob hier eine Zäsur vorliegt oder nur ein bewegter Übergang, ist ein Sprachspiel. Unbedingt Kontinuität herbeizureden, ist eine müssige Fleissaufgabe. Bergoglio ist anders als seine unmittelbaren Vorgänger. Es entspricht seinem bedachten Charakter, dass er dies selbst nicht mehr hervorhebt. Aber man muss schon bis Johannes XXIII. zurückgehen, will man ernst zu nehmende Anknüpfungspunkte finden. Solche Zäsuren, Brüche und Neuanfänge hat es in der Geschichte der Bischöfe von Rom immer wieder gegeben. Das ist gut, denn darin ist auch Reflexion und Mut zur Umkehr und zum Neubeginn, eben zur Re-form, zu erkennen. Spätestens seit seiner Rede in der Versammlung der Kardinäle eine gute Woche vor seiner Wahl ist aktenkundig, dass Bergoglio von der Notwendigkeit eines kräftigen neuen Impulses überzeugt war.[6] Seither hat er dies mehrmals wiederholt, prinzipiell und vor allem auch im Blick auf die Verwirklichung des Zweiten Vatikanischen Konzils.[7] Das war vom ersten Abend an zu sehen. Und jetzt, nach fünf Jahren?
Zunächst – und das soll ausdrücklich ausgesprochen werden – können wir mit Erleichterung feststellen: Es ist gut, dass wir nach fünf Jahren nur über eine Zwischenbilanz nachdenken müssen, und wir dürfen hoffen, dass dies noch lange so bleibt.
Ein konsequenter Reformer
Bischof Franziskus hat nicht nur ein eigenes Verständnis seines Leitungsdienstes, er hat auch eine Vorstellung von Kirche, mit der er an die biblische Überlieferung und an seine eigene Leitungserfahrung in Lateinamerika anschliesst. Vom ersten Tag an hat er Änderungen vorgenommen, und er ist konsequent dabei geblieben. Das bezieht sich nicht nur auf sein Brustkreuz, auf seinen Wohnort, auf die Eucharistiefeiern in Santa Marta und seinen Lebensstil – obwohl dies alles deshalb bedeutsam ist, weil es seine Grundhaltung und seine Lebensart erschliesst.
Franziskus versteht sich nicht in erster Linie als „Papst“, sondern als Bischof von Rom.
Es ist bedauernswert und bemerkenswert zugleich, dass weder die kirchliche noch die zivile Öffentlichkeit wirklich zur Kenntnis genommen haben, dass sich Franziskus nicht in erster Linie als „Papst“, sondern als Bischof von Rom versteht und verstehen will, wie dies seinerzeit bereits Johannes XXIII. versucht hat.[8] Selbst die leitenden Mitarbeitenden im eigenen Konzern „Kirche“ und deren Medienabteilungen vermeiden es beharrlich, auf den Papsttitel zu verzichten, von der römischen Kurie ganz zu schweigen. Hier scheint sich die gruppendynamische Erkenntnis zu bewahrheiten, dass Würde und Ansehen der Untergebenen mit dem herausragenden Ansehen der Leitungsperson zunehmen – weshalb letzteres auch von unten gepflegt und möglichst hochgehalten wird. Franziskus selbst braucht dies offenbar nicht. Kult um seine Person ist ihm fremd. Auch aus kirchentheoretischer Perspektive hat er sein Amt zurechtgerückt. Seit 2014 fehlt im päpstlichen Jahrbuch in der Liste der Titel seines Amtes die Bezeichnung „Souverän des Vatikanstaates“, und es ist bekannt, dass er sich durchaus mit der Würde eines Patriarchen des Westens begnügen könnte.
Die Ungeduld muss wach bleiben.
Mit Klugheit und Beharrlichkeit versucht Franziskus, der Gemeinschaft Kirche auf ihrem Weg in das Morgen neue Konturen zu geben. Nicht Reform um der Reform willen, sondern Reform zum besseren Gelingen der Nachfolge Jesu, zur Vertiefung der Gemeinschaft und der Zusammengehörigkeit der Menschen in der Kirche als Schwestern und Brüder und zur Förderung der Glaubwürdigkeit dieser Gemeinschaft als Zeugnis der Liebe und Liebesbefähigung Gottes für alle Menschen.[9] Unbeirrbar und „gelegen oder ungelegen“ (2 Tim 4,2) ist Franziskus darum bemüht, die Impulse in diese Richtung auf allen Ebenen – inhaltlich, spirituell, strukturell – zu vertiefen. Unverständlich, darin keine theologische Linie erkennen zu wollen.[10] Natürlich sind da auch Themen und Problemfelder, die wir gerne intensiver besetzt hätten: Die Frage einer Geschlechtergerechtigkeit auch in der Kirche, die Ungereimtheiten in der Struktur der Kirche und der Ordnung ihrer (Leitungs-)Dienste. Der diesbezügliche Stillstand durch Jahrhunderte ist wohl kaum in wenigen Jahren zu überwinden. Die Ungeduld muss wach bleiben. Der mühsam erreichte Teil-Konsens in kleinen Schritten zu Ehefragen lässt uns zugleich schmerzhaft erkennen: Der Bischof von Rom ist kein Factotum, und die Kirche selbst muss allmählich auf allen Ebenen in Bewegung kommen – auch wenn dies für die Vorstellung vieler zu langsam geschieht.
… eine strukturelle Orientierung an Jesus von Nazaret, die eine Haltung der Umkehr bei allen Menschen in der Kirche unabdingbar voraussetzt.
Kardinal Oscar Andres Rodriguez Maradiaga, Erzbischof von Tegucigalpa (Honduras) und Koordinator des Kardinalsrates K 9, spricht von 19 Reformschritten, dies in Anlehnung an die vorweihnachtliche Ansprache an die Mitarbeitenden der römischen Kurie 2016.[11] Aus diesen vorweihnachtlichen Ansprachen der letzten Jahre, die sich alle mit der Notwendigkeit der persönlichen Korrektur und Umkehr beschäftigten, geht auch deutlich hervor, dass die Absicht von Bischof Franziskus nicht mit einem administrativ-funktionalen Umbau der römischen Kurie erledigt ist, sondern es für die Kirche vielmehr um eine strukturelle Orientierung an Jesus von Nazaret gehen muss, die eine Haltung der Umkehr bei allen Betroffenen, also bei allen Menschen in der Kirche, unabdingbar voraussetzt.
Es ist in diesem Zusammenhang bedauerlich, dass sich von den persönlichen Umkehrschritten von Bischof Franziskus selbst so wenige seiner leitenden Mitarbeitenden in Rom und weltweit erkennbar beeinflussen lassen. Die Kultur des Wohnens, des Reisens, des Lebensstils in Einfachheit entspricht in den verschiedenen Leitungsetagen wohl nur in einzelnen Fällen einer Kirche, die sich an die Armen, die Marginalisierten und Benachteiligten gesandt weiss. Angesichts des in diesem Punkten besonders beharrlichen Handelns und Sprechens des gegenwärtigen Bischofs von Rom und der entsprechenden Vorbildfunktion ist dies mit Nachdruck zu beklagen. Eine solche kritische Analyse gilt aber zugleich für alle Menschen in der Kirche: Wir lassen uns seit fünf Jahren allenfalls vom Weg des Bischof Franziskus betroffen machen, erachten ihn als beispielhaft und Jesus-konform. Die Bereitschaft zur Veränderung ist allerdings unter uns nicht so, dass sie im grossen oder auch im kleinen Lebensumfeld als gesellschaftswirksam erkennbar wäre.
Ein prophetischer Mensch
Die Theologie von Bischof Franziskus ist nicht nur ein reflektierender Vorgang, sondern geschieht auf den Knien sowie mit Mund, Händen und Füssen, im ursprünglichen Sinn gelebt und im Bemühen, dass „Tat und Wort“ (vgl. Lk 24,19) so weit wie möglich übereinstimmen. Bischof Franziskus ist kein Heiliger, er selbst weit entfernt davon, dies zu meinen. Mit seiner Selbstcharakterisierung „Ich bin ein Sünder, den der Herr angeschaut hat“[12] reiht er sich unter die Menschen ein, allenfalls mit dem Vorzug besonders kritischer Selbsterkenntnis. Unverkennbar ist sein Bemühen, die Botschaft und das Lebensbeispiel Jesu genau zu nehmen und dabei sein mahnendes und ermutigendes Wort mit seinem Handeln zu unterlegen. So steigt er aus dem Papamobil, um einen von seinem Konvoi angefahrenen Polizisten zu helfen oder um behinderte Jugendliche am Strassenrand zu umarmen. So greift er zum Telefon, um Menschen in Not zu trösten, so fährt er von Heute auf Morgen nach Lampedusa oder wäscht am Gründonnerstag die Füsse von Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben. Und so tut er Dinge, die doch so selbstverständlich sind und wo frau oder man fragen muss: Warum erst jetzt?: Duschen und sanitäre Einrichtungen, Schlafplätze in den Colonaden des Petersplatzes, Mahlzeiten mit Obdachlosen, kein Besuch und keine Reise ohne spürbare Verneigung vor marginalisierten Menschen. Das sind keine Nebensächlichkeiten. Angesichts der überlieferten Jesusbotschaft gilt vielmehr: das ist die unverzichtbare Mitte (vgl. Mt 25,31-46).
für die Kirche und für die Welt zum öffentlichen Gewissen geworden
Keine Frage: Darin wird Franziskus Jesus von Nazaret ganz ähnlich. Darin versucht er, „einander so zu tun wie ich euch getan habe“ (Joh 13,15) und einander zu lieben, „wie ich euch geliebt habe“ (Joh 13,34) und dies im Namen Gottes zu tun. Wenn ich richtig sehe, sind dies gemäss dem biblischen Befund die zwei bedeutsamsten Merkmale einer genuinen Orientierung an Jesus Christus. Schon Johannes XXIII. nannte diese von Gott erkannte Liebe als die „einzige und heilige, diese einzig notwendige Sache.“[13] Gerade in dieser Praxis ist Bischof Franziskus für die Kirche und für die Welt zum öffentlichen Gewissen geworden – das ist sehr viel: Ein prophetischer Mensch, der ohne Angst im Vertrauen auf das Feuer des Geistes auf das stürmische Meer hinausfährt und sich bis zum Letzten für die Sache Gottes einsetzt. Sich selbst nimmt er dabei nicht so wichtig, die von ihm vertretene Botschaft dafür umso mehr.
Wir, die Kirche, brauchen ihn notwendig. Daher ist Gott zu danken, dass wir ihn haben.
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Dr. theol. Walter Kirchschläger war von 1982 bis 2012 Professor für die Exegese des Neuen Testaments an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern. Er ist Gründungsrektor und Ehrensenator der Universität Luzern.
[1] Schlussdokument vom 17. August 2007. (Stimmen der Weltkirche 41), Bonn 2007, n. 551.
[2] Ebenda 552.
[3] So Herder-Korrespondenz 61 (2007) 450-451.
[4] Vgl. z. B. Walter Kirchschläger, Der Sprung nach vorwärts – mit Verzögerung, in: KIPA vom 13.3.2013; ders., „Habemus Papam“. Neue Kirchensignale aus Rom (17. März 2013), in: Vom Tisch des Wortes. Radiopredigten, Saarbrücken 2017, 10-13.
[5]Bischof Franziskus, „Und jetzt beginnen wir diesen Weg“, Freiburg 2013, 15.
[6] Jorge Mario Bergoglio, Wortmeldung im Vorkonklave, Sitzung vom 5. März 2013, in: Schweizerische Kirchenzeitung 181 (2013) 237.
[7] Siehe Bischof Franziskus, Predigt in der Casa Santa Marta am 16. April 2013, italienischer Text online: http://w2.vatican.va/content/francesco/it/cotidie/2013/documents/papa-francesco-cotidie_20130416_spirito.html [eingesehen am 9. März 2018]; sodann Antonio Spadaro SJ, Das Interview mit Papst Franziskus, Freiburg 2014, 57-58.
[8] Die Einberufungsbulle zum Zweiten Vatikanischen Konzil Humanae salutis Reparator Christus Jesus [„Christus Jesus als Wiederhersteller menschlichen Heils“] trägt die Unterschrift „Ego Joannes Catholicae Ecclesiae Episcopus [„Ich, Johannes, Bischof der Katholischen Kirche“]. Dokument in: Acta et Documenta Concilio Oecumenico Vaticano II Apparando II, I, Rom 1964, 132-143; Kommentar dazu in: Johannes XXIII., Ansprache Il Concilio Ecumenico Vaticano II, in: Acta et Documenta II, I, 144.
[9] Siehe Bischof Franziskus, Die Versuchung der guten Organisation. Predigt in der Casa Santa Marta am 30. September 2013, italienischer Text online: http://w2.vatican.va/content/francesco/it/cotidie/2013/documents/papa-francesco-cotidie_20130930_aria-della-chiesa.html [eingesehen am 9. März 2018].
[10] Siehe dazu z.B. Georg Gänswein, der noch 2014 „auf inhaltliche Vorgaben“ wartet, im Interview mit Peter Sebald in: Süddeutsche Zeitung, Magazin Heft 9/2014. Anders z. B. Kurt Appel, Ingeborg Gabriel, Christoph Theobald und andere anlässlich eines Internationalen Kongresses zu Evangelii gaudium in Wien (November 2015).
[11] Vgl. http://www.vaticannews.va/de/vatikan/news/2018-03/maradiaga-papst-franziskus-reform-kurie-kardinal.html [eingesehen am 9. März 2018].
[12] Antonio Spadaro, Das Interview mit Papst Franziskus, Zitat und Erläuterung 27-28; vgl. sodann 29.
[13] Johannes XXIII., Ansprache Il Concilio Ecumenico Vaticano II, in: Acta et Documenta II, I, 144 (Arbeitsübersetzung WK)