Körperliche, sexuelle und seelische Entwicklung fließen bei Etty Hillesum zusammen. Ursula Rapp über einen besonderen Aspekt in den kürzlich erschienenen Tagebüchern.
Etty H. wollte Schriftstellerin werden und etwas Großes schreiben. Auch wenn ihr Weg dorthin ein jähes Ende gefunden hat, kann man sechzig Jahre nach ihrer Ermordung in Auschwitz uneingeschränkt davon sprechen, dass sie ein großes Werk hinterlassen hat. Ihre Tagebücher, die heuer erstmals gesamt auf Deutsch erschienen sind[1], bleiben auch nach mehrmaliger Lektüre spannend.
Innerer Entwicklungsweg
Wer den zehn Tagebüchern folgt[2], bemerkt einen ungeschönt ehrlichen, immer wieder mit Witz und Selbstironie beschriebenen, tiefgreifenden inneren Entwicklungsweg dieser jungen Frau. Da sie ihr sexuelles und erotisches Empfinden und ihr körperliches Leiden mit einbezieht, ist das Tagebuch auch das Zeugnis von Entwicklungen in ihrer Sexualität und im Umgang mit ihrem Körper und ihren Stimmungen. Manchmal bringt sie diese Verbindung in Sätzen, wie dem folgenden, auf den Punkt: „Es ist schwierig mit Gott und dem Unterleib in gleicher Weise zurecht zu kommen.“ (S. 105, 4.8.41). Ich möchte im Folgenden den Weg, den sie mit ihrem Körper und ihren Empfindungen und ihrer Sexualität bzw. der Beziehung zu Julius Spier geht, skizzieren.
„Etwas weniger Gedanken und etwas mehr kaltes Wasser und Gymnastik“ (186, 22.10.41)
Etty Hillesums sehr hohes Körperbewusstsein drückt sie in wiederholten Wahrnehmungen von Kopf-, Magen- und Menstruationsschmerzen aus, die sich in negativen Stimmungen, Unruhe und Unlust äußern und die sie zunächst ablehnt und mit Aspirin bekämpft.
„Körper und Seele sind bei mir sehr stark eins.“
Sie nennt auch Erschöpfungszustände und später Rheuma. Leiden ist für sie ein Verwobensein von körperlichen und seelischen Empfindungen: „Körper und Seele sind bei mir sehr stark eins. Sobald etwas in der Seele schief läuft, läuft es auch in meinem Körper schief.“ (S. 168, 5.10.41). Diese Verbindung ganz bewusst zu haben, sieht sie als eine Entwicklung im letzten halben Jahr, seit sie bei J. Spier in Therapie war. Körperliche und „seelische“ Arbeit sind deshalb sehr wichtig. So begegnet sie den leidvollen Erscheinungen mit „Disziplin“, einer „Form“, die sie für jeden Tag finden will. Sie will sich keinesfalls „gehen lassen“. Zu dieser Form gehört die allmorgendliche Gymnastik und das Waschen mit kaltem Wasser, die Spier ihr rät, sowie eine Art Meditation, ein Stillwerden und in sich Horchen[3]. Etwa nach einem Jahr schreibt sie zu den Kopf- und Magenschmerzen: „… ich werde nicht mehr davon beherrscht so wie früher […], was ich fühle, ist ein unzerstörbarer starker Kern, der nur so stark bleibt bei einer andauernden ‚seelischen‘ Disziplin.“ (325, 21.2.42)
Die Verbindung zu ihrer Mitte wird ihr ganz wichtig.
So erkennt sie zunehmend in sich eine Verbindung zu ihrer Mitte, eine Quelle, aus der Kraft und Ruhe sprudeln, wenn sie schreibt, dass sie sich „bleiern vor Traurigkeit“ fühlte, „Aber dann sprudelte plötzlich aus verborgenen Quellen eine Kraft…“. (642, 27.6.42) Der Wandel, den sie erlebt, besteht zunächst darin, dass ihr diese Verbindung zu ihrer Mitte ganz wichtig wird. Sie betont vehement, dass es Veränderung auch nur im eigenen inneren Zentrum gibt. Das ist in der Zeit des enormen Terrors, dem jüdische Menschen ausgesetzt sind, immer wieder sehr gewagt: „Ich glaube nicht mehr daran, dass wir in der Außenwelt etwas verbessern können, das wir nicht zuerst in uns selbst verbessert haben.“ (315, 19.2.42) Etty H. lernt, diese innere Verbindung zu halten. Das zeigt sich besonders darin, dass ihr Gebet nicht mehr aufhört: „Es ist (sic!) ob etwas in mir sich verdichtet hat zu einem ständigen Gebet, es betet immer weiter in mir […] Und auch: es ist so eine große Zuversicht in mir.“ (623, 14.7.42).
„Es betet immer weiter in mir.“
Durch diese Arbeit an sich selbst lernt sie auch am eigenen Leib das Annehmen des Leidens. Bereits am 14.12.41 notiert sie, dass Spier Menschen gesund macht, „indem er ihnen beibringt, das Leiden zu akzeptieren“ (243).
Etty Hillesum wird im Herbst 1942 sehr krank. Sie kämpft dagegen an, weil sie zurück will zu ihrer Arbeit für die Menschen im Lager Westerbork. Schließlich lässt sie diesen Willen immer wieder los und merkt, dass sie keine Forderungen stellen kann (675, 26.9.42), dass sie sich somit ihr Leiden auch nicht aussuchen kann. Sie wollte mit den Menschen im Lager leiden und dadurch helfen, stattdessen muss sie das Bett hüten und annehmen, was ist. Sie lernt, dass Bereitschaft zum Leiden noch lange nicht bedeutet, für das eigene Leiden bereit zu sein.
„…einen Augenblick lang durch ein und denselben Mund zu atmen…“ (424, 16.4.42)
Etty H. war ein starkes erotisches Empfinden und ein reiches sexuelles Leben gegeben. Das durchlebt sie besonders in ihrer Beziehung zu ihrem Therapeuten Julius Spier. Spier ist Psychochirologe und hat bei C. G. Jung gelernt. Seine Diagnose schien er nicht nur über das Handlesen zu erstellen, sondern auch durch Kämpfe, die sich auch am Boden abspielten und die – zumindest zwischen Etty und ihm – nicht ohne erotische Anziehung blieben: Noch keine zwei Monate nach Therapiebeginn schreibt sie: „Schon beim zweiten Mal Ringen […] wurde auch er erotisch erregt…“ und sie denkt: „Du hast ja eine schöne Art und Weise, Patienten zu behandeln.“ (74, 24.3.41)
Sie ist gebannt von ihm, sie himmelt ihn an.
Die junge Frau ist verwirrt, leidet an erotischen Fantasien, die ihr die Energie fressen (28, 10.3.41) und gegen die sie monatelang ankämpft. Des Öfteren sitzt sie auf seinem Schoß, küssen sie einander (seinen „dämonischen Mund“, z.B. 406, 2.4.42) und haben (fast) jeden Tag Kontakt. Auch der geistige, intellektuelle Austausch zwischen beiden ist tief und bewegend und Etty lernt von diesem Mann, der 28 Jahre älter ist als sie, fachlich und menschlich sehr viel. Sie ist gebannt von ihm, sie himmelt ihn an. So schreibt sie, nachdem sie miteinander Sex hatten: „Ich werde eine ‚Schülerin‘ in seinem Geist, eine echte ‚Jüngerin‘“ (310, 24.1.42). Therapeutisch betrachtet ist das ein absolutes No-Go, auch wenn private bis sexuelle Kontakte zwischen Therapeut und Patientin, meist in dieser geschlechtlichen Konstellation, sehr verbreitet waren[4]. Auch Spiers Lehrer Jung ist davon nicht ausgenommen.
Nicht das Stereotyp von Mann und Frau leben.
In Etty Hillesum reift eine tiefe, große Liebe zu Spier. Sie leidet wiederholt daran, dass er eine Freundin in London hat, die er heiraten will, gelangt aber auch zu der Haltung, dass sie ihn nicht „besitzen“, nicht das Stereotyp von Mann und Frau leben will, obwohl sie feststellt, dass immer wieder „Elemente dieses kleinen Weibchens vorhanden [sind], das den Mann besitzen will“ (470, 23.5.42).
Sie kämpft gegen ihre erotischen Wünsche, auch weil er sie nicht immer beantwortet, später aber auch, weil sie merkt, dass in den Gesprächen mit ihm oder in kleinen Gesten mehr Nähe entsteht als in der körperlichen Nähe. Während Sex für sie früher rein körperlicher Genuss war, formuliert sie dann: „Ich möchte mit ihm zusammen sein, wenn der Körper Ausdruck der Seele ist, und nicht nur um des Körpers willen.“ (403, 1.4.42).
„Wenn der Körper Ausdruck der Seele ist.“
Etty Hillesums Ehrlichkeit mit sich selbst führt sie spirituell, körperlich und in ihrer Sexualität in eine Weite und Tiefe, in der sie große Liebe und Dankbarkeit empfindet. In einem Brief aus dem Lager Westerbork schreibt sie an Maria Tuinzing: „Ach, Maria, es ist hier ein bisschen dürftig, was die Liebe betrifft, und ich selbst fühle mich so unsagbar reich“ (810f, 8,8,43).
Ursula Rapp ist Professorin an der Kirchlichen pädagogischen Hochschule Edith Stein, promoviert und habilitiert im Fach „Exegese des Alten Testaments“ sowie Bioenergetische Analytikerin unter Supervision. Sie lebt derzeit in Salzburg.
Beitragsbild: John Mathew Smith auf Wikimedia Commons
[1] Etty Hillesum, Ich will die Chronistin dieser Zeit werden. Sämtliche Tagebücher und Briefe 1041-1943, hg. von Klaas A. D. Smelik, München: Ch. Beck 2023. Sämtliche Zitate sind aus dieser Ausgabe. S. dazu den Beitrag von Christina Siever vom 24.8.2023 (https://www.feinschwarz.net/etty-hillesum-uebersetzen/).
[2] Ursprünglich waren es elf Bücher, Heft sieben ging aber verloren.
[3] S. dazu Pierre Bühler, Leibliches Beten bei Etty Hlíllesum, Hermeneutische Blätter, 2014, 91-99, 95f.
[4] Vgl. etwa H. Sebastian Krutzenbichler / Hans Essers, Muß denn Liebe Sünde sein? Über das Begehren des Analytikers, Freiburg 1991. Sträfliche Handlungen werden im österreichischen Strafgesetzbuch §205 „Sexueller Missbrauch einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person“ oder im Deutschen Strafgesetz unter § 174 erläutert.