Das Erntedenkfest steht vor der Tür. Philipp Behyl bietet spannende Impulse aus evangelischer Perspektive. Was etwa, wenn wir nicht danken können?
Ja, Erntedank feiern wir. Auch in der evangelischen Kirche. Das steht außer Frage. Nur wann? In vielen Gemeinden mit den katholischen Gemeinden zusammen am ersten Sonntag im Oktober, wie es in diesem Jahr auch von evangelischer Seite offiziell publiziert wurde? In vielen anderen am ersten Sonntag nach Michaelis (in diesem Jahr der 30.9.) wie es 1773 im evangelischen Preußen eingeführt wurde und bisher üblich war? [1] Ja, Sie haben Recht, eine Diskussion über den Termin des Erntedankfestes ist spitzfindig und unnötig wie der Senf zu einem guten Leberkäse. Denn wichtig ist, dass wir Erntedank feiern. Dass wir uns Zeit nehmen, Danke zu sagen für das, was wir in unserem Leben empfangen, genießen und bewirken können.
Erntedank fällt in die Michaeliszeit.
Und dennoch ist mir das Feiern des Erntedankfestes am Sonntag nach Michaelis wichtig. Weil gerade nicht nur die zeitlich, sondern vor allem die inhaltliche Nähe beider Tage diesem Fest eine besondere Tiefe verleiht – anders als es eine rein kalendarische Festlegung des Termins auf den ersten Sonntag im Oktober vermag.
Die Michaeliszeit leitet in der evangelischen Kirche über zur Endzeit des Kirchenjahres, in sie fallen als Hauptfeste das Erntedankfest, das Reformationsgedenken, der Buß- und Bettag und als letzter Sonntag des Kirchenjahres der Ewigkeitssonntag mit dem Totengedenken. In der evangelischen Tradition stellt darüber hinaus der 29. September als Tag des Erzengels Michael und aller Engel ein besonderes Fest dar. Für die Reformatoren ist dieser Tag eines der vier Hauptfeste (neben Weihnachten, Ostern und Pfingsten), das außer Weihnachten, Ostern und Johannis (24. Juni) in der liturgischen Ordnung des Jahres den Rang eines Christusfestes hat und mit weißen Paramenten geziert wird[2], weil die Engel als Diener Christi und als die Werkzeuge seines Wirkens verstanden werden.[3]
Michael ist der Engel, der mit dem Teufel stritt.
Wer ist der Erzengel Michael?
Im biblischen Zeugnis erscheint Michael als ein im Dienste Gottes stehender und dem Volk zu Hilfe kommender Engel. Er ist der Beistand, „der für dein Volk eintritt“ (Dan 12,1). Er ist der Engel, der „mit dem Teufel stritt und mit ihm rechtete über den Leichnam des Mose“ (Jud 9) wie auch der Anführer der Engel im Kampf gegen das Böse (Offb 12,7). In frühchristlicher Zeit wurden diese Vorstellungen aufgenommen, in der Theologie wie auch in der kirchlichen Praxis. Um 500 beschreibt die Engellehre des Pseudoareopagit eine aus drei Triaden bestehende Engelhierarchie und in ihr die besondere Nähe der Erzengel zu den Menschen.[4] Die letzte Triade, zu der die Erzengel gehören, stellt eine Verbindung vom Thron Gottes zur Welt des Menschen her.[5] In dieser Tradition erscheint Michael dann auch als „schützende Kraft“, „Begleiter der Seele“ oder trägt Bezeichnungen wie „Himmelsstreiter (…), Schutz und Schirm der Menschen.“[6] Luther selbst betont: „Wir beten die Engel nicht an, denn sie sind Geschöpfe, aber wir danken Gott, das er solche Fürsten über uns als Geister gesetzt hat. (…) Er soll die Ehr haben, das er ein mechtiger, weiser und frumer Gott sey. Das geschicht dann, wenn uns Gott durch seine liebe Engeln hülfft, das wir den Teufel schlagen.“[7]
Siegreicher Kämpfer gegen Satan
Die Bedeutung des Festes im evangelischen Kontext fand ihren Niederschlag auch darin, dass in den lutherischen Kirchen lange Zeit ab dem 29. September die Zählung der Sonntage „nach Trinitatis“ abgebrochen und „nach Michaelis“ gezählt wurde.[8] Dass der Michaelistag mit der Feier des Erntedanks verbunden wurde, lag natürlich hauptsächlich an der terminlichen Verortung des Tages in der Zeit der Ernte. Aufgrund des Herbsttermins[9] ergab und ergibt sich jedoch eine weitere theologische Implikation.
Der Gedenktag eines Engels, der als Beschützer und Bewahrer, als siegreicher Kämpfer gegen den bösen Feind verehrt wurde, als „Gottes Schlagdrein“, wie ihn Luther nannte[10], passte gut in die Schwellenzeit des Herbstes, inmitten des Szenarios der kälter werden Tage, der aufkommenden Herbststürme und des bevorstehenden Winters. Der Michaelstag diente der Kirche schon früh dazu, sich in ihrem eigenen Kampf mit der Verheißung des Sieges über die bösen Mächte zu trösten.[11]
Michael wie auch die Engel Gottes wurden weniger als liebliche Gestalten verstanden, wie sie heute in der Volksfrömmigkeit eine Renaissance erleben, sondern als Kämpfer Gottes in einem ganz und gar nicht lieblichen Kampf, als die „starken Helden“ (Ps 103,20), die Gott zum Dienst aussendet.
Was ist, wenn ich nicht fähig bin zu danken?
Gerade die Besinnung auf die zeitliche wie die dadurch implizierte inhaltliche Nähe beider Feiertage mag für Fragen wie „Was ist, wenn ich nicht fähig bin zu danken?“ oder „Wie kann ich danken, wenn mir der Dank angesichts des eigenen Leides im Halse stecken bleibt?“ eine Perspektive geben, die das Erntedankfest in einer Beschränkung auf seine kreatürlichen Aspekte allein nicht zu geben vermag. Denn im Michaelistag steckt der Kampf: der Kampf des einzelnen Gläubigen wie der Kampf der Kirche mit der Wirklichkeit böser Mächte und gleichsam die Hoffnung auf den durch Christus errungenen Sieg über sie. Erntedank und Michaelis nehmen damit in der aufeinanderfolgenden Begehung diese differenzierte Lebenswirklichkeit des Menschen in den Blick. Erntedank erschöpft sich nicht allein in einem Danke sagen. Denn der Dank ist so durch die Widrigkeiten und Nöte des Lebens gegangen.
Worum es geht: existentielles Danken
Eine solche innere Zerrissenheit des Erntedanks im Leben des Menschen spiegelt schon die erste Erntedankerzählung der Bibel Genesis 4 (Kain und Abel) wie auch die nach der verheerenden Sintflut von Gott ausgesprochene Verheißung der immerwährenden Saat und Ernte Genesis 8 wider. Der Dank wird zu einem existentiellen Danken, weil er die Leiden und das Kämpferische, das Unverständliche des Lebens nicht ausklammert, sondern in die Perspektive der Siegesverheißung rückt. So steht der Erzengel Michael vor und in allem Dank als Synonym für das schützende, bewahrende und für den Menschen streitende Handeln Gottes, wie Luther es in seinem Morgensegen an das Ende seines Gebetes stellt: „Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde.“
Schön ist es in diesem Sinne, den Gottesdienstbesuchern am Erntedanktag nicht nur einen gesegneten Sonntag, sondern eine gesegnete Michaeliszeit zu wünschen.
[1] Vgl. Rauchenecker, Herbert, Lebendiges Brauchtum, München 1985, S. 200.
[2] Stählin, Wilhelm, Große und kleine Feste der Christenheit, Gütersloh 1963, S. 102f.
[3] Vgl. Buchrucker, Armin-Ernst, Das Kirchenjahr, Fürth 2001, S. 72.
[4] Vgl. Auel, Hans-Helmar, Michaelis – Tag des Erzengels Michael und aller Engel, in: Hans-Helmar Auel, Unentdeckte Feiertage. Das Kirchenjahr als Fest des Glaubens, Göttingen 2000, S. 163.
[5] Vgl. Buchrucker, S. 71.
[6] Brückner, Annemarie, Art. Michaelsverehrung, TRE 22, Berlin 1992, S. 717f.
[7] So Martin Luther in der Coburger Michaelispredigt von 1530, WA 32,117.121, zitiert nach Brückner, S. 718.
[8] Vgl. Buchrucker, S. 72.
[9] Der Festtermin des Michaelisfestes gründet in der Weihe der Michaelskirche in Rom am 29.9. oder 30.9.495 n.Chr. Vgl. Buchrucker, S. 71.
[10] Stählin, S. 106.
[11] Ebd.
Autor: Dr. Philipp Behyl ist Pfarrer in der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Nördlingen.
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