Maria Elisabeth Aigner führte mit einer Betroffenen ein Gespräch anlässlich des Internationalen ME/CFS-Tages (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom). Auszüge aus diesem Gespräch sind hier wiedergegeben.
Mein Name ist Anna.[1] Eine Autoimmunerkrankung hat es mir vor gut zehn Jahren unmöglich gemacht, weiter meiner beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Seither erlebe ich in regelmäßigen Abständen Phasen großer Erschöpfung. Wenn diese Zustände wiederkehren, will ich es zu Beginn nicht wahrhaben, dass es so ist, wie es ist. Ich versuche, mich zu beruhigen, es zu beschönigen und nicht ernst zu nehmen, bis ich dann merke, dass die Traurigkeit und der Schmerz so groß sind, weil ich so vieles nicht tun kann. Bei der letzten Erschöpfung, nach meiner Corona-Erkrankung, hatte ich große Sorge, dass das so bleiben könnte. Während einer Wanderung in Griechenland bin ich plötzlich in eine totale Schwäche gekippt. Ich habe körperlich gemerkt, dass nichts mehr geht. Ich kann keine zehn Meter mehr gehen. Es ist aus. Ich kann nicht mehr. Das hat mich wirklich tief erschüttert. Es war ein Erleben der absoluten Kraftlosigkeit, wo du deinen Körper nicht mehr spürst und jegliche Kraft aus jeder Zelle weicht. Dann bist du dem Tod ganz nahe.
Rückzug heißt jedoch zugleich, mich von der Lebendigkeit abgeschnitten zu fühlen
Im Alltag gerate ich oft in einen Erklärungsnotstand, wenn Leute mich fragen: Was hast du denn? Denn ich bin so erschöpft, dass nichts hilft. Es hilft das Schlafen nicht, es hilft nicht, sich hinzulegen oder sich in die Sonne zu setzen. Es hilft einfach nichts. Oft versuche ich dann, mich selber anzutreiben. Die Trennung zwischen dem, wie es mir geht und dem, was die anderen empfinden wird dann riesengroß und das ist sehr schmerzlich. Wenn ich Dinge übernommen habe und sie dann absagen muss komme ich unter Rechtfertigungsdruck und glaube, mich erklären zu müssen. Dann hilft nur Rückzug von der Außenwelt, um nicht ständig diese Fragen spüren zu müssen. Das ist entlastend. Rückzug heißt jedoch zugleich, mich von der Lebendigkeit abgeschnitten zu fühlen. Es ist so, als würde ich langsam zugrunde gehen, so lange bis ich ganz am Grund bin. Dort erst ist ein Boden wahrnehmbar, der mir die Gewissheit vermittelt, dass ich auch ohne Leistung wertvoll bin. Dieser Prozess dauert unterschiedlich lange und ist unterschiedlich schmerzvoll. Irgendwann aber kann ich einwilligen in das, was ist. Dann kehren oft Ruhe und Befriedung ein. Ich kann die Situation annehmen und vertrauen, dass es wieder aufwärts geht. Es entsteht erneut eine Kraft. Es handelt sich um eine Kraft in der absoluten Kraftlosigkeit.
dass es – wie immer es ist – gut ist
In diesen langen Erschöpfungszuständen wird der Selbstwert sehr dezimiert. Wenn ich mich körperlich ein bisschen besser fühle, gehe ich hinaus in den Wald, in die Natur. Es tut dann gut, alleine zu sein. Wenn es mir der Rückzug ermöglicht, zu mir zu finden und ganz in mein Zentrum zu kommen, dann spüre ich meine Lebendigkeit, auch wenn sie gerade verschüttet ist. Sie ist durch etwas überlagert, aber sie ist trotzdem in mir. Ich werde mir dann meiner Verwurzelung in diesem Universum bewusst, fühle mich eingebunden in das große Ganze. Letztlich holt mich nur dieses Vertrauen aus diesen Zuständen heraus, dass es – wie immer es ist – gut ist. Die Gewissheit wächst, dass mein Sein nicht von Leistung abhängig ist. Wenn mein Ja zum Erschöpfungszustand halbherzig ist und ich mich selber dränge und antreibe, und mir sage, ja, morgen wird es anderes werden, komme ich nicht in diese Mitte. Doch wenn es gelingt, die Situation anzunehmen, ist es, als würde ich an eine unglaublich große Energie andocken, ohne dass diese nach außen geht. Sie ist da.
In meiner Erschöpfung stehe ich für etwas, das zu uns und zu unserem Leben gehört.
Erschöpfung hat mit Schöpfung zu tun. Es geht um etwas Kosmisches. Wenn ich erschöpft bin und versuche, zu ruhen, um mich zu erholen und es wird nicht besser – über Tage, Nächte und Wochen hindurch, dann ist das wie Folter. Ich werde auf die Folter gespannt: Kommt die Kraft oder gehe ich in den Tod? Es ist eine Erfahrung auf Messers Schneide. Wenn sich das über Wochen zieht und keine Nacht erholsam ist, wenn keine Nacht die Erschöpfung schmälert, dann macht das, Angst. Das hält kaum ein Gegenüber aus. Es wäre aber so wichtig, dass jemand diese Verzweiflung aushält und präsent bleibt, anwesend bleibt – ohne Ratschläge zu erteilen. Da hilft nur die Vergewisserung, dass es jetzt so sein darf und der Zuspruch, dass es noch etwas anderes in dir gibt. Das Gegenüber steht für die Lebendigkeit und ich stehe für die Ohnmacht. Du spiegelst den Menschen die eigene Ohnmacht, Verzweiflung, Bodenlosigkeit, Hilflosigkeit und Schwäche. In meiner Erschöpfung stehe ich für etwas, das zu uns und zu unserem Leben gehört. Wenn du schwach bist, erinnerst du mich daran, dass es das auch in mir gibt. Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, viel an Leistung zu erbringen. Das kann von einer Sekunde auf die nächste weg sein. Diese Gewissheit führt zu einem Stück Dankbarkeit, dankbar zu sein, für das, was ich habe, was ich kann und was ich bin. Vielleicht würde das den Blick auf jene, die das nicht können verändern und mehr Empathie ermöglichen. Ich denke dabei auch an Menschen mit besonderen Bedürfnissen, an erkrankte Menschen – wie zum Beispiel unsere Nachbarin, die MS hat. Es geht darum, zu sehen, was Menschen mit ihrem So-Sein in der Krankheit leisten, damit sie überhaupt ihren Alltag bewältigen können.
Ganz am Grund tut sich der Himmel auf.
So stelle ich mir das Sterben vor: Absolut und bis in die letzte Zelle erschöpft sein, wenn der Körper sagt, nein, jetzt geht nichts mehr. Wenn diese körperliche Erschöpfung in einen Ruhezustand tritt, wo ich mir vorstellen kann, so könnte ich zustimmen, zu gehen. Die Vorstellung, körperlich alles loszulassen ermöglicht es erst das Getragen-Sein zu fühlen. Ganz am Grund tut sich der Himmel auf. Neue Zugänge eröffnen sich, es wird hell, licht, leicht. Kognitive Überlegungen werden dann zur Gänze unwesentlich. Der Himmel ist ein helles Bild für die Kraft, die ganz unten ist. Das Licht wird stärker und stärker, der Raum größer und größer. Das Leben, der Kreislauf des Lebens geht weiter. Das hängt nicht an Tätigkeiten oder Aktivitäten, sondern es geht um den großen Rhythmus, in den ich mich eingebunden fühle. Es entsteht eine ganz eigene Energie, die da ist und die da sein darf – ungeschmälert und nicht von inneren und äußeren Plänen bestimmt. Es geht um eine Energie, die frei ist von Aktivität – eine Lebenskraft, die dich liebevoll anschubst, wieder gemütlich im Stuhl zu sitzen und in die Sonne zu schauen. In Griechenland war das Meer, der Wind, der Regen, die Blumen. So als würdest du das das erste Mal sehen und wahrnehmen – ein Genuss von besonderer Qualität.
In meinem inneren Bild taucht die Erschöpfung als alte, kleine und zierliche Frau auf, die sehr bestimmt auftritt. Sie nimmt mich bei der Hand, macht sich mit mir auf den Weg und ich merke, dass es kein Entkommen gibt. Ich kann mich dagegen wehren, und zerren und wegwollen – es geht nicht. Es ist so, als würde sie etwas wissen das ich noch nicht weiß. Ich kann mich ihr getrost anvertrauen und mir ihr gehen. Es gibt definitiv kein Entkommen – no way out. Jedoch hält sie einen verborgenen Schatz bereit, den es zu entdecken gilt.
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[1] Der Name ist anonymisiert.
Maria Elisabeth Aigner ist ao. Univ.-Professorin für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie sowie Vorsitzende des Arbeitskreises für Gleichbehandlungsfragen an der Universität Graz.
Bildnachweis: Maria Elisabeth Aigner