Die Zeit der Corona-Beschränkungen lädt zu theologischen Deutungen und Vergleichen ein. Für Dag Heinrichowski SJ ist die Grundhaltung dabei entscheidend.
In vielerlei Hinsicht bin ich privilegiert. Während der coronabedingten Ausgangssperre habe ich in einer Jesuitenkommunität gelebt, wo sich viele existentielle Fragen nicht stellen, keine Kinder betreut werden wollen und wo weder Platz noch Gemeinschaft Mangelware sind. Und wir feiern täglich gemeinsam Gottesdienst, sogar Eucharistie.
Auf unterschiedlichsten Kanälen wird und wurde über die Bedeutung der Eucharistie, gestreamter Messen und anderer Gottesdienst-Formate für die Kirche und die Gläubigen diskutiert. Was mich stört, ist die Sprache und das Vokabular, mit denen manchmal diskutiert wird. Ein Topos waren die Entdeckungen, die man machen könne, in dieser Zeit des „Eucharistie-Fastens“ und durch „geistliche Kommunion“ – vorgetragen auch von denen, die Messe in leeren Kirchen oder Hauskapellen feiern konnten. Es wird die biblische Bedeutung der „Quarantäne“ betont: Jesus, der 40 Tage in die Wüste ging, um zu beten, die Apostel, die nach Ostern eingesperrt blieben und voller Angst sind vor dem, was außerhalb des Obergemachs lauert. Die Quarantäne wurde mit der Fastenzeit verglichen und auf die etymologischen Gemeinsamkeiten der Worte verwiesen. Es ist ohne Zweifel faszinierend und bereichernd, wie biblische Texte sich in einer neuen Situation nochmal ganz neu lesen lassen, aber ich bin froh, dass die ganz strengen behördlichen Auflagen nicht so lange aufrechterhalten worden sind, dass man die 40-jährige Wüstenwanderung zum Vergleich nehmen muss.
Deutungen sind hilfreich, aber haben ihre Grenzen
Es mag für manche Menschen hilfreich sein, einen Deutungsrahmen aus dem Reichtum der Bibel oder der Frömmigkeitsgeschichte für die aktuelle, oft nicht leichte und immer ungewohnte, Situation angeboten zu bekommen. Und es ist eine hilfreiche Grundhaltung, im Krisenmodus nach positiven Aspekten und Chancen Ausschau zu halten. Aber die Deutungsmuster haben ihre Schwierigkeiten, von denen ich drei nennen möchte.
1. Die Bilder sind schräg: Zum Fasten gehört, dass ich mich bewusst für eine bestimmte Zeit für einen bestimmten Verzicht entscheide. Fasten meint nicht, dass mir einfach der Zugang zu einer Möglichkeit durch äußere Umstände verwehrt bleibt. Wird nicht auf die Grenzen der Vergleiche verwiesen, traut sich manch einer vielleicht gar nicht, eine andere Perspektive gelten zu lassen.
Lässt der Vergleich eine andere Perspektiven gelten?
2. Die Deutungen können entmündigen: Die eigenen Bedürfnisse und Sehnsüchte wahrzunehmen, braucht Zeit und Ruhe. Aber warum soll ich mir die Frage nach meinen eigenen Bedürfnissen stellen, wenn mir auf Knopfdruck eine Deutung, die theologisch ihre Berechtigung und Argumente haben mag, geliefert wird und mir vorgibt, wie ich die Einschränkungen in der Krise zu sehen habe. Ich muss mich gar nicht damit auseinandersetzen, ob oder gar was mir eigentlich in dieser Zeit fehlt. Es ist schon vorher klar, was mir zu fehlen hat.
3. Die Sprechposition ist privilegiert: Priester und Ordensleute (vor allem Ordensmänner, so wie der Autor!) tappen manchmal in die Falle, dass sie Erfahrungen deuten, die sie selbst gar nicht machen. Sprache geht oft mit Macht einher: Wer ergreift das Wort, wem wird zugehört und wer legt die Kategorien fest, in denen gesprochen wird. „Es gibt viele Perspektiven auf diese Welt – so viele, wie es Menschen gibt. Jede einzelne ist aber für sich genommen beschränkt. (…) Wenn aber bestimmte Perspektiven (…) privilegiert werden über andere, dann verlieren andere Perspektiven und Erfahrungen ihren Geltungsanspruch. Es ist, als würden sie nicht existieren“, schreibt Kübra Gümüşay in ihrem Buch „Sprache und Sein“ (Hanser Berlin, 2020).
Sprechen aus privilegierter Position
Es ist ohne Frage wichtig, in einer Krise Deutungsmöglichkeiten anzubieten. Und es gehört zum „Job“ von Priestern, Ordensleuten, Seelsorger*innen und Theolog*innen. Aber dieses Angebot muss die Freiheit wahren, eine andere Deutung möglich zu lassen oder die Deutung in dieser (geistlichen) Perspektive einfach offen zu lassen.
Hören und Verstehen-wollen an erster Stelle
Wie erlebst du die Krise? Wie gehst du damit um? Welche Fragen stellen sich dir? Was sind die Dinge, die dir fehlen? Worauf konntest du leicht verzichten? Was hat dir geholfen und was hat dir gefehlt? Wo ist deine Sehnsucht?
An erster Stelle steht das Hören und Verstehen-wollen – der anderen Perspektive Raum und Aufmerksamkeit geben. Dazu braucht es Offenheit und ehrliches Interesse. Erst danach geht es um mögliche Deutungen und die Frage, welche Begriffe und Vergleiche passen.
—
Text und Bild: Dag Heinrichowski SJ studiert Theologie am Centre Sèvres, der Hochschule der Jesuiten in Paris.
Weiterer Text des Autors auf feinschwarz.net: