Mit einem Artikel von Hubertus Lutterbach haben wir den Gründer der Arche, Jean Vanier, gewürdigt, der am 7. Mai dieses Jahres verstorben ist. Im Anschluss daran hat sich ein Mailwechsel zwischen dem Autor dieses Nachrufs und unserem Redaktionsmitglied Daniel Bogner entwickelt. Wir dokumentieren das Gespräch im Folgenden.
20. Mai 2019
Lieber Hubertus,
Du hast eine schöne Würdigung über Jean Vanier geschrieben, der am 7. Mai gestorben ist. Er war eine bekannte Persönlichkeit, und mir schien gerade in den letzten Jahren, als staatlicherseits das Thema ‚Inklusion‘ so steile Karriere gemacht hat, dass die von Vanier gegründete Arche-Gemeinschaft diesen Gedanken schon vor langem und aus christlich-biblischem Geist heraus entdeckt hatte und wirklich zu leben versuchte.
Aber es gibt eines, das mich erschreckt hat und mir wirklich weh tut, wenn ich Deinen Text lese: Über die verhängnisvolle Rolle von Père Thomas Philippe (+ 1993) , dem Dominikanerpater, mit dem Vanier seit den frühen 1960er-Jahren eng befreundet war und den er zum geistlichen Begleiter der Arche machte, sprichst Du gar nicht. Ich bin sicher, Du wusstest schlicht nicht um diesen Hintergrund. Aber dieser Thomas Philippe hat über viele Jahre hinweg Schwestern und Frauen, die für die Arche tätig waren, sexuell missbraucht. In Frankreich war das schon länger bekannt und die ARTE-Dokumentation „Gottes missbrauchte Dienerinnen“ hat es in aller Deutlichkeit ans Licht geholt.
Mich hat das zutiefst erschüttert und aufgewühlt – weil es unsäglich ist, was herauskommt. Von seinem Bruder, dem Dominikaner Marie-Dominique Philippe (+ 2006) bekam dieser Thomas eine Frau, die zunächst bei Marie-Dominique in Begleitung war und dort bereits Missbrauch erleben musste, regelrecht „zugespielt“: Thomas fuhr fort sie zu missbrauchen und kaschierte das unter der Form von „geistlichen Gesprächen“. Ich finde, das alles muss man unbedingt bedenken, wenn man heute über die Arche spricht.
Herzliche Grüsse aus Fribourg,
Daniel
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21. Mai 2019
Lieber Daniel,
ich danke dir fuer Deine Mail, die mich wie ein tiefer Schock getroffen hat. Ich habe Jean Vanier und seine Initiative bislang uneingeschränkt geschätzt, wie Du ja auch aus meiner Würdigung anlässlich seines Todes herausgelesen hast. Dass zur Geschichte dieser Gemeinschaft auch die von Dir beschriebene dunkle Seite der sexuellen Gewaltanwendung gehört, war mir trotz intensivem und international ausgreifendem Bücher- und Aufsatzstudium zur „Arche“ bislang tatsächlich unbekannt und erschreckt mich in der Tiefe.
Die von Dir genannte und Anfang März 2019 ausgestrahlte ARTE-Fernsehdokumentation „Gottes missbrauchte Dienerinnen“ habe ich leider verpasst und mir erst auf Deine Rückmeldung hin angesehen – eine über alle Maßen schockierende Präsentation!! Auch die kurze Internet-Stellungnahme der „Arche“-Gemeinschaft zu dieser TV-Sendung habe ich gerade erst gelesen. Darin gibt die Gemeinschaft jene Fakten zu, die sich ohnehin nicht mehr abstreiten lassen und bittet die Opfer um Verzeihung. Die Frage nach der Ermöglichung solchen Horrors – ich meine die strukturelle Aufstellung der Gemeinschaft damals wie heute – bleibt darin leider weitestgehend unbedacht.
Ob Jean Vanier schon sehr früh etwas gewusst oder zumindest geahnt hat von dieser dunklen Seite seines geistlichen Begleiters und damit seiner Gemeinschaft? Nach langem Ringen mit dieser Frage bin ich inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass es ein Gebot der Fairness ist, hier nicht zu spekulieren. Jedenfalls hatte die TV-Dokumentation „Gottes ungeliebte Dienerinnen“ eine Vorgeschichte der Investigation, so dass die gegen Pater Thomas Philippe erhobenen Vorwürfe seit 2014 auch einem größeren Kreis von Menschen bekannt waren. Rückblickend ist festzuhalten, dass Jean Vanier im Mai 2015 einen Brief an die Gemeinschaft geschrieben hat, in dem er das gewalttätige Verhalten von Pater Thomas Philippe anspricht: „Einige Jahre zuvor“ sei ihm von einigen Taten („acts“) des Pater Thomas Philippe erzählt worden, wobei die „Schwere der Taten“ für ihn „gänzlich im Dunkeln geblieben“ sei.
So zeigt sich Jean Vanier in diesem Brief einerseits schockiert über die sexuelle Gewalt durch den Ordensmann, andererseits sieht er in ihm weiterhin den Seelenführer („He led me to Jesus“). Beide Seiten bringt er nicht zusammen („I do not understand“). Er spricht über seinen Schmerz angesichts der Opfer; die institutionell bedingte Ermöglichung des Fehlverhaltens bleibt unbedacht. Inzwischen hat „Arche“-International eine Kommission beauftragt, einen „Code of Conduct“ zu entwickeln, so dass sexuelle Gewalt in den eigenen Reihen nicht wieder vorkommen kann. Die Ergebnisse wurden im Dezember 2018 vom „International Leadership Team“ bestätigt und im April 2019 in Slowenien der Delegiertenversammlung vorgelegt.
Freilich bleibt das Thema „Sexuelle Gewaltanwendung“ selbst im offiziellen Nachruf der „Arche“-Gemeinschaft für ihren Gründer vom 7. Mai 2019 ebenso ausgespart wie überhaupt der biografisch prägende Kontakt von Jean Vanier zu P. Thomas Philippe darin keinerlei Erwähnung mehr findet! Das ist nicht nachvollziehbar; denn immerhin hat Papst Franziskus sowohl P. Dominique Philippe als auch seinen Bruder P. Thomas Philippe am 5. Februar 2019 ausdrücklich unter jenen Priestern genannt, die Ordensschwestern als „Sexsklavinnen“gehalten hätten.
Besonders die zuletzt genannten Auslassungen können darauf hindeuten, dass die „Arche“-Gemeinschaft das missbräuchliche Handeln von Pater Thomas Philippe schlussendlich doch allzu sehr auf dessen Person reduziert und ihn ebenso aus der Gesamtgeschichte der „Arche“ herauszuschneiden versucht, wie der Filmemacher Ridley Scott 2017 aus seiner neuesten Produktion alle Szenen mit dem amerikanischen Schauspieler Kevin Spacey herausgeschnitten hat, weil er der sexuellen Gewaltanwendung angeklagt ist. Aber ob für die „Arche“ unter einem solchen Horizont Glück und Segen möglich sind?!
Mit dieser offenen Frage grüßt Dich herzlich
Dein Hubertus.
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am 23. Mai 2019
Lieber Hubertus,
ja, mein Eindruck ist auch: Die Arche gesteht natürlich ein, was geschehen ist – alles andere wäre ja auch gar nicht möglich. Aber ähnlich wie Vanier, den Du zitierst, seinerseits diese zwei Seiten – hier seine Verehrung für den geistlichen Begleiter, dort das Entsetzen über dessen Taten – nicht zusammenbringt, so ergeht es der Gemeinschaft als ganzer, und vor allem: So ergeht es im Zuge der Enthüllungen zum Missbrauch gegenwärtig so vielen Menschen in der Kirche. Da wird eine Ambivalenz sichtbar, für die wir alle noch nach Verstehenshilfen suchen.
Für mich ist das eine ganz tief gehende Frage: Was macht es mit uns Gläubigen, mit dem Glauben selbst, wenn es diese Janusköpfigkeit gibt, und zwar an Orten und bei Personen, die man immer für zutiefst „gut“ gehalten hatte und von denen man glaubte, da liege die Zukunft der Kirche? Der Schock ist ja, dass sexueller Missbrauch und dieser laue und angestrengte, irgendwie doch etwas pflichtschuldige Umgang damit nun auch an Orten vorkommt, die, wie Du einmal gesagt hast, eine Pionierrolle in einer aufbrechenden Kirche hatten. Man hat den Eindruck: Was da passiert ist, hat sie alle auf dem falschen Fuß erwischt, damit hatte keiner gerechnet, aber vor allem hat auch keiner eine irgendwie angemessene Art zu verstehen, was das für die eigene Art des Christseins bedeutet …
Das scheint mir ein, vielleicht der Kern zu sein: dass wie verstehen müssen, dass Missbrauch offenbar nicht nur einfach in die Kirche hinein importiert ist, dass da irgendwelche Einzeltäter benannt werden müssen, die eben isoliert werden und dann kann alles weitergehen. Sondern dass Kirche offenbar ein Biotop bietet, das sexuellen Missbrauch ermöglicht und die Aufklärung sogar verhindert oder bremst. Und dafür scheint es Regelmäßigkeiten zu geben, die so stabil sind, dass ihnen auch ein ansonsten wacher, sensibler, am Puls der Zeit befindlicher Jean Vanier (und er ist hier nur ein Beispiel für andere) nicht entkommt.
Mich schockiert das und es verändert die eigene innere Landkarte von Grund auf: mein Vertrauen, meine Gewissheiten über den Wert einer geistlichen Existenz – die ich immer wertgeschätzt habe – sind erschüttert, meine Bereitschaft, diese Art religiöser Existenz nach außen, gegenüber Kirchenfernen zu „verteidigen“, ist gesunken, meine Sorge darum, in welche Lebensformen und Sozialmodelle ich meine Kinder überlasse, wenn ich sie auf den Weg einer kirchlichen Sozialisation schicke (wie ich sie erlebt habe), ist gewachsen. Was kann Kirche für mich noch sein, wenn sie sich so zeigt?
Herzliche Grüsse,
Dein Daniel
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Freitag, 24. Mai 2019
Lieber Daniel,
Du verstehst mich in meiner Ambivalenz richtig: einerseits meine fortdauernde Wertschätzung für die „Arche“ mit ihrem Engagement zugunsten des Zusammenlebens von Menschen mit und ohne Behinderung; andererseits der Umgang mit der dunklen Seite der sexuellen Gewalt durch eine geistliche Schlüsselperson in der Anfangszeit der Gemeinschaft. Und daraus folgend die Frage: Was bleibt von der „Arche“ angesichts dieser Gemengelage? Auf mich selbst gewendet: Du weißt, dass ich der Arche-Gemeinschaft und Jean Vanier in meinem Buch „So prägt Religion unsere Mitmenschlichkeit, Kevelaer 2018“ ein eigenes Kapitel gewidmet habe. Ich habe Jean Vanier und seine Initiative als Beispiel für ein christliches Miteinander auf Augenhöhe vorgestellt! Würde ich dieses Kapitel mit meinem Wissen von heute noch einmal so schreiben können? Oder wie würde ich es umschreiben, wenn derlei für eine 2. Auflage des Buches nötig würde?
Ohne dass ich Insider-Wissen habe, finde ich es in jedem Falle vorwärtsweisend, wenn die aktuell Verantwortlichen miteinander überlegt haben und auch auf internationaler Basis weiter darüber reflektieren, wie man sexuelle Gewalt in den eigenen Reihen zukünftig möglichst verhindern kann. Zugleich stellt sich mir die Frage – und ich muss sie angesichts meines krassen Unverständnisses in diesem Brief wiederholen -, was alle diese Reflexionen am Ende wert sind, wenn Pater Thomas Philippe im Nachruf zu Jean Vanier trotz dessen Schlüsselbedeutung für die Gründerpersönlichkeit überhaupt nicht mehr genannt wird? Dieses Faktum lässt mich nicht los.
Ohne Frage hat Pater Thomas Philippe die „Arche“ dadurch schwer beschädigt, dass er diakonisch einsatzfreudigen Mitmenschen sexuelle Gewalt angetan hat. Aber dadurch, dass heutige Verantwortliche der Gemeinschaft Pater Thomas Philippe in einer entscheidenden Würdigung aus ihrer Geschichte herausstreichen, tun sie sowohl ihrer „Arche“ (und deren Suche nach Maßnahmen zur Verhinderung sexueller Gewalt) als auch den Opfern neuerliche Gewalt an. Insofern bestürzt es mich zutiefst, dass auch die von mir so hoch geachtete „Arche“ als Beispiel für eine „Kirche“ herhalten muss, die mitunter „Aufklärung sogar verhindert oder bremst“, wie Du schreibst.
Für mich bedeutet das in der Konsequenz: Erstens misstraue ich allen, die Heilige konstruieren, deren Heiligkeit und Vorbildhaftigkeit sich erkennbar dadurch speist, dass alles Dunkle ihrer Lebensgeschichte weggelöscht wird. Zweitens: So sehr der „Charismatiker“ eine Grundgestalt religiösen Lebens sein mag (wenn man Max Weber hier folgt), so sehr kommt es darauf an, dass dieses Charisma „eingehegt“ – sprich: in ein Netz von Kontrolle und Gegenkontrolle eingebunden wird. Offenbar waren ja Pater Thomas Philippe und Jean Vanier gleichermaßen ausstrahlende Persönlichkeiten. Als die großen Lichtgestalten der Gründungsgeschichte traute ihnen ihre Umgebung offenbar allein den Einsatz für das Gute zu. Zwar ist dieses Zutrauen für das menschliche Miteinander unbedingt wichtig; ebenso wichtig aber zeigt sich (besonders im Rückblick!) die Wichtigkeit eines Netzes von Kontrolle und Gegenkontrolle. Denn: Missbrauchstäter sind keine unausstehlichen Zeitgenossen, sondern fast immer Sympathieträger, die durch ihr soziales Engagement und ihre Fähigkeit zur Empathie auffallen – Begabungen, die für ein Miteinander im Sinne der Bergpredigt unverzichtbar sind und die diese Menschen zugleich zur Rekrutierung ihrer Opfer auf pervertierende Weise einsetzen.
Also: Wenn die Kirche als Institution von den Menschen neuerlich Glaubwürdigkeit zugesprochen bekommen will, braucht es in ihren Reihen eine Aufmerksamkeit dafür, dass das Charisma einzelner zum Zuge kommt, es aber zum Schutze aller (auch der Charismatiker!) in ein Geflecht von Kontrolle und Gegenkontrolle eingenetzt wird. Gewiss kann die Kirche bei anderen gesellschaftlichen Institutionen hilfreiche Anregungen finden, wie man ein solches Netz optimal gestaltet, damit sich für sexuelle Gewaltanwendung möglichst keine Räume auftun.
Aus meiner Sicht können solche Aufmerksamkeiten helfen, dass Menschen bei ihrer Suche nach glaubwürdigen Persönlichkeiten und menschenorientierten Organisationen auch kirchliche Angebote wieder in Betracht ziehen. Nicht zuletzt bin ich davon überzeugt: Dieses individuell entschiedene, organisational ansetzende und rechtsstaatlich rückgebundene Bemühen um die Vermeidung von sexueller Gewalt schulden wir den bisherigen Opfern sexueller Gewalt in der Kirche – und zugleich all jenen, die sich engagiert und ausstrahlungskräftig für ein aufrichtiges und faires Miteinander als Christinnen und Christen innerhalb und außerhalb der Kirche engagieren.
Es grüßt Dich herzlich: Hubertus.
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3. Juni 2019
Lieber Hubertus,
danke für Deine Gedanken. Sie treffen in die Mitte dessen, was mich in diesen Monaten bewegt: Wie kann es gelingen, dass ein „personales Prinzip“ im kirchlichen und spirituellen Leben erhalten bleibt, zugleich aber die Gefahren einer unkontrollierten, unsanktionierten und damit fast schon einladenden Übergriffigkeit vermieden werden? Wie kann das gelingen, was Du „gehegtes Charisma“ nennst, also eine Einbindung charismatischer, nur über personale Beziehungen mögliche Wirksamkeit in Spiritualität und Seelsorge?
Ich glaube, das ist eine wirkliche „Knacknuss“, wie man in der Schweiz jetzt sagen würde. Denn ich sehe, dass es auch in anderen Bereichen eine immense Herausforderung ist: Kunst und Kultur leben davon, dass Menschen „einfach mal machen“ und gerade über die Anarchie ihrer Inspiration und ihres Genies (wenn man dieses schwierige Wort verwenden darf) andere bewegen, begeistern, zu eigenem Tun anstoßen. Dass dieser Bereich missbrauchsanfällig ist, dafür gibt es leider viele Beispiele. Ein anderer Bereich ist das Leben in der Familie. Sogar unter Grundrechtsschutz gestellt, bildet die Familie einen zentralen „Gefahrenort“ für Missbrauch und Verletzungen und es ist schwierig und erst ein „zweites Moment“, Kinder zu schützen, weil dieser Schutz immer von außen kommen muss und in ein System personaler Bindungen und Verpflichtungen eingreift.
Das sind nur zwei weitere Beispielfelder, die für mich die Herausforderung beschreiben: Wie kann das gelingen – „gehegtes Charisma“? Die Hypothek der Kirche wiegt schwer: Sie ist eine Institution, die gerade bei Missbrauchsthemen in ihrer Organisationskultur traditionell auf Tugendethik setzt und nicht auf ein verbindlich geltendes Gerüst aus Normen und Regeln, die für die Institution und ihre Rollenträger gelten. Und natürlich gibt es viele nach bestem Wissen und Gewissen und auch wirklich tugendhaft handelnde Menschen in der Kirche, Priester, Laien, pastoral Verantwortliche. Wo das aber nicht der Fall ist, gibt es in dieser Kirche, das ist die brutale Erkenntnis aus dem Missbrauchsskandal, kein Netz, das wirksam greift. Der Rechtsstaat ist hier anders: Durch die Teilung der Gewalten hat es dort ein System aus Checks und Balances, es gibt verbindliche Kontrolle – die Betonung liegt auf dem Adjektiv „verbindlich“.
Lieber Hubertus, Dir als Kirchenhistoriker schreibe ich das mit einem besonderen Empfinden: Mir scheint, das grosse Versagen in der Geschichte des Katholizismus besteht darin, dass es nicht gelungen ist, das „Gefäß“ der kirchlichen Institution weiter zu entwickeln, in zumindest grober Tuchfühlung zur theologischen und ethisch-moralischen Entwicklung unserer Überzeugungen und Auffassungen von dem, was ein menschenwürdiges Leben und Christsein ausmacht. Was denkst Du zu dieser Einschätzung? Ich weiß, das ist eine ziemlich grundsätzliche Aussage, und ich weiß auch, dass ich damit viel klassische Dogmatik über Kirche und Amt in Frage stelle. Aber kann man das vermeiden angesichts der „Kosten“, die dieses System bisher produziert hat und worüber uns der Fall der Arche so schmerzhaft aufmerksam macht?
Ich wage mich einmal aus der Deckung und schreibe ganz offen: Ich möchte die besten Traditionen des Katholizismus erhalten, seine spirituellen Quellen, seine liturgisch-rituellen Praktiken, die künstlerischen und sprachlichen Werke, zu denen katholischer Glaube inspiriert hat und fortlaufend inspiriert, das vielfältige soziale Engagement, zu denen sich Christinnen und Christen aus dem Glauben motiviert fühlen. Zugleich bin ich zutiefst davon überzeugt, dass wir darauf nicht verzichten müssen, wenn wir diese Kirche einem institutionellen Aggiornamento an Leib und Gliedern unterzögen – wenn wir aus der monarchischen Kirchenverfassung eine demokratische machten!
Seelsorgerinnen und Seelsorger blieben weiterhin in personaler Beziehung handelnde Menschen, wenn sie in ein Netz der regelmäßigen Legitimierung und Evaluation durch das Gottesvolk und dessen kirchliche Repräsentanzen eingebunden würden; Bischöfe und Diözesanleitungen könnten an wahrer Autorität zulegen, wären sie von ihren Ortskirchen (mit-) bestimmt; ihr Reden und Handeln wäre glaubwürdiger, wenn sie rechtsverbindlich gerade stehen müssten für die von ihnen letztverantworteten groben Fehler und sich nicht auch noch als Aufklärer behaupten und mal eben im Amt verbleiben könnten.
Ja, ich glaube, wir brauchen eine Demokratisierung der Kirche. Damit meine ich, dass wir den organisationellen Rahmen des Kirche-Seins so gestalten, dass das Gottesvolk dessen Souverän ist, dass Modelle eines respektvollen Umgangs miteinander, wie sie die Kirche anderswo, im Bereich des demokratischen Rechtsstaats, längst lobt und einfordert, auch für ihre eigene Sozialgestalt zum Maßstab macht, dass Gläubige schließlich in der Kirche nicht plötzlich einen Personstatus zugewiesen bekommen, der ihrer geschöpflichen Würde als Kinder Gottes doch eigentlich nicht entspricht.
Ich glaube, die Kirche würde dadurch gewinnen. Dass Böses geschieht, auch in ihren Reihen, wird sie nie vollständig verhindern können. Aber sie hätte das ihr Mögliche dagegen getan. Dass der Glaube deswegen zu neuer Blüte kommt, das behaupte ich nicht – aber ich schließe es auch nicht aus. Dass Christinnen und Christen es sich aufgrund ihres Glaubens schuldig sind, Wesentliches zu verändern, davon bin ich überzeugt. Und auch, dass das Gute am Katholischen dadurch Sauerstoff bekäme, um neu zu lodern.
Das schreibe ich Dir, mit dem Herzen in der Hand, und weil ich weiß, dass unser Gespräch diese Offenheit erlaubt.
In alter Verbundenheit,
Daniel
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Mittwoch, 12. Juni
Lieber Daniel,
wie Du schreibst, stimmen die bisherigen Forschungsergebnisse zur sexuellen Gewalt darin überein, dass dieses Thema ein erstrangig familienbezogenes ist. Aber sexuelle Gewalt kommt eben auch in der Kirche vor. Vor diesem Hintergrund bin ich als Christentums- und Kulturgeschichtler davon überzeugt, dass man den Familienbegriff hier noch deutlich über die biologische Familie hinaus erweitern sollte. Die religiös fundierte Vorstellung der geistlichen Familie halte ich für die sexuelle Gewalt durch Priester gegenüber Frauen und Kindern sogar für mit ursächlich. Lass mich am Beispiel der sexuellen Gewalt von Priestern/Mönchen gegenüber Kindern erläutern, was ich meine.
Bekanntermaßen hat sich die katholische Kirche im 19. Jahrhundert in ihrer papstorientierten Mehrheit zentral am Ideal der Heiligen Familie ausgerichtet. Zur Erinnerung: Nach damaligem Verständnis galt die Heilige Familie aus Josef, Jesus und Maria als eine von jedweder Sexualität unberührte Dreierkonstellation, soll Maria ihren Sohn doch vom Heiligen Geist empfangen haben. Damit bot sich die Heilige Familie als sakral aufgeladenes Identifikationsbild für alle Ebenen der katholischen Ghetto-Gesellschaft an, das die Abgrenzung von allen als profan verunglimpften Aufklärern umso wirkungsvoller verstärkte.
Konkret: Ebenso wie die Kleinfamilie aus Vater, Kind und Mutter dem Idealbild der Heiligen Familie verpflichtet war, war es auch die Ordensfamilie (Beichtvater, Ordenskind und Ordensmutter), der Verein – zum Beispiel der Kolpingsverein – (Vater Kolping, Gesellensohn und Maria als Mutter), die Klosterfamilie (Abt, Mönchskind und Maria als Mutter) oder die Pfarrfamilie (Pfarrer, Pfarrkind und Maria als Mutter). Vor dem Hintergrund, dass sexuelle Gewalt zentral im Umfeld der Familie – und offenbar auch im Umfeld der geistlichen Familie! – vorkommt, ergab sich mit dieser familienzentrierten Schwerpunktsetzung, die die fast anderthalb Jahrhunderte umfassende Geschichte der Volkskirche beinahe bis heute durchzieht, tatsächlich ein günstiger Nährboden für sexuelle Gewalt gegenüber Kindern innerhalb der katholischen Kirche. Auch der geistliche Missbrauch – das kann ich hier allerdings nicht weiter ausführen – hatte (oder besser: hat?) in dieser volkskirchlich-familiären Grundstruktur seinen Nährboden.
Als erstrangig unvereinbar mit der Heiligen Familie – also mit der Ordensfamilie, der Vereinsfamilie, der Pfarrfamilie etc. – galt katholischerseits die Sexualität. Dabei konnte diese Tabuisierung der Sexualität auf eine anderthalb Jahrtausende alte Tradition zurückgreifen. Die erstrangigen „Profiteure“ dieser um 500 n. C. nach einem zivilisatorischen Kollaps einsetzenden Entwicklung waren die Kinder, die nach damaligem Verständnis als sexuell vollständig rein galten. Keinesfalls zufällig avancierten die Kinder in der Folge zum geistlichen Vorbild der Mönche und Priester. Diese nämlich sollten sich die naturgegebene Reinheit der Kinder durch asketische Anstrengungen erhalten.
Noch heute tragen die Mönche die Kapuze – das Kinderkleid der Antike! – und die Priester das Schultertuch, eine aufgetrennte Kapuze. Und alle versprechen sie jene Evangelischen Räte, die die „Kinderspiritualität“ von Mönchen und Priestern unübertroffen zum Ausdruck bringen: Armut im Sinne der (familiären) Gütergemeinschaft, sexuelle Reinheit und Gehorsam – allesamt Eigenschaften, die man den Kindern zuschrieb. – Auf die sexuelle Gewaltanwendung von Mönchen/Priestern gegenüber Kindern bezogen: Wenn beiden Gruppen (Mönchen/Priestern und Kindern) das von Sexualität unberührte Leben in einer Idealität zugeschrieben wurde, wie sie für (verheiratete) Laien als nicht erreichbar galt – kann es da verwundern, dass das Miteinander von Kindern und Mönchen/Priestern gewissermaßen zu einem eigenen Sozialraum in der Kirche führte, den Laien viel zu wenig kontrolliert haben (oder besser: überhaupt nicht kontrollieren durften)?!
In der Konsequenz bedürfen aktuell all jene Settings in der Kirche einer grundlegenden Neuordnung, von denen man im Rückblick sagen muss, dass sie – wie Du schreibst – „dem Prinzip von Checks and Balances“ im Blick auf sexuelle (oder geistliche!) Gewaltanwendung durch Mönche/Priester zu wenig oder überhaupt nicht unterlagen.
Wenn Bischöfe heutzutage festhalten, dass das Zeitalter der Volkskirche vorüber ist, beinhaltet das aus meiner Sicht, dass die Träger für die Aufklärung der in Rede stehenden Verbrechen weder die Bischöfe noch „der Vatikan und seine Mitarbeiter“ sein dürfen. Stattdessen braucht es hier eine unabhängige und von Laien (auch Frauen!) getragene Verwaltungsgerichtsbarkeit, die mit umfassenden Ermittlungskompetenzen und ebensolchen umfassenden Berichtspflichten ausgestattet ist. Dies wäre aus meiner Sicht zugleich ein wichtiger Beitrag zu einer Weiterentwicklung der Kirche, die damit nicht zuletzt wichtige Impulse aus einem demokratisch geprägten gesellschaftlichen Umfeld aufnähme und sich umso mehr den Regeln des Rechtsstaates unterwerfen würde.
Zuletzt: Ich finde ich es auffällig (und richtungsweisend), dass man von sexueller Gewaltanwendung – auch durch Mönche/Priester – in all jenen gemeindlich-spirituellen oder diakonischen Initiativen bislang (fast?) nichts gehört hat, die sich um intensive supervisorische Einzel-, Gruppen- und Teambegleitung bemühen, die sich um echte Gleichberechtigung von Männern und Frauen sorgen, die mit entschiedener Aufmerksamkeit für Teambuilding unterwegs sind und die – nicht zuletzt – den Bedürftigen, für die sie sich engagieren, zu einer eigenen Sprache verhelfen!
Ich denke hier beispielsweise an die jahrzehntelange Tradition der Telefonseelsorge oder der Tafel-Initiative – für mich echte Hoffnungszeichen für das fortdauernde „institutionelle Aggiornamento“ christlich (mit)geprägten Miteinanders. Denn diese Signale machen erlebbar, wie wertvoll es ist, wenn sich im (christlichen) Miteinander jeder und jede in seiner/ihrer Originalität wertgeschätzt, gehört und gesehen fühlt… wenn die Buntheit im Miteinander (inkl. einer Neuaufstellung beim Zugang zu den Weiheämtern!) als Bereicherung erfahren wird und auch die Bischöfe ihren Teil dazu beitragen, dass sie mit von der Partie sind!
Mit vielen offenen wie auch bedrückenden Fragen grüßt Dich zum Schluss herzlich: Dein Hubertus.
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Prof. Hubertus Lutterbach lehrt Christentums- und Kulturgeschichte an der Universität Duisburg-Essen. Zuletzt erschien sind Buch „So prägt Religion unsere Mitmenschlichkeit„. Prof. Daniel Bogner lehrt Moraltheologie und Ethik an der Universität Fribourg und ist Mitglied der Redaktion von Feinschwarz. In seinem aktuellen Buch „Ihr macht uns die Kirche kaputt … aber wir lassen das nicht zu“ analysiert er die Lage der Katholischen Kirche.
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