Viola Raheb, Religionswissenschaftlerin, selbst Palästinenserin und im Einsatz für den Frieden, benennt die zunehmende Entrechtung Palästinas. Und zugleich geht es um die Haltung gegenüber demokratischen Werten und den Einsatz für gesellschaftliche Entwürfe einer Region. Palästina steht für viele Orte, an denen diese Werte in den Hintergrund gedrängt werden.
Wochenlang beschäftigten sich viele Politiker*innen, Beobachter*innen, Journalist*innen und Aktivist*innen mit dem sogenannten Jahrhundert-Deal für Palästina. Der US-amerikanische Präsident Donald Trump versprach bereits in seiner Wahlkampagne einen „ultimativen“ Deal zur Lösung des Nah-Ost-Konfliktes.
Deutliche Boten des „Jahrhundert-Deals“ für Palästina
Die ersten Boten des neuen Deals waren schon längst erkennbar: Da war auf diplomatischer Ebene Trumps unilaterale Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und die darauffolgende Verlegung der US Botschaft nach Jerusalem (auch wenn der Beschluss des US-Kongresses dazu bereits 1995 erfolgt war). Hinzu kam die Degradierung der diplomatischen Beziehungen zu den Palästinenser*innen: Zuerst durch die Schließung der Vertretung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) in Washington im August 2018, später dann durch die Einstellung der Zahlungen für das Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) im September 2018 und nicht zuletzt durch die Schließung des US-Konsulats für palästinensische Angelegenheiten in Jerusalem im März 2019.
Wer braucht schon die Palästinenser*innen, wenn es um Palästina geht?
Schließlich offenbarte Jared Kushner, Nahost-Berater und Schwiegersohn des US-Präsidenten, bei dem „Peace to Prosperity“-Workshop in Bahrain Ende Juni 2019 den wirtschaftlichen Teil des Jahrhundert-Deals. Es war ein Deal mit Paradigmenwechsel, so hieß es wohl. Dabei gibt es zentrale Veränderungen gegenüber der bisherigen internationalen Haltung gegenüber diesem Konflikt: So werden die Besatzung und die illegal errichteten Siedlungen verschwiegen, die zwei Staaten-Lösung aufgegeben und die politischen Rechte der Palästinenser*innen für ein paar Milliarden Dollars zum Verkauf angeboten! Unter dem Strich soll die Besatzung weiterbestehen, nur halt unter einem anderen Namen, und am liebsten soll sie von den arabischen „Brüder-Staaten“ finanziert werden. Die Palästinenser*innen und ihre politischen Vertretungen nahmen am Workshop nicht teil, doch wer braucht schon die Palästinenser*innen, wenn es um Palästina geht. Die wohl alte/neue „white supremacy“ ist wieder salonfähig. Daher überrascht die Bemerkung Kushners, dass „die Palästinenser*innen im Moment unfähig seien, sich selbst zu regieren“, wohl kaum!
„The Neocolonial Arrogance of the Kushner Plan“
In seinem Artikel „The Neocolonial Arrogance of the Kushner Plan” vom 12. Juni 2019 erinnert der US-amerikanisch-palästinensische Historiker Rashid Khalidi an eine ähnliche politische Haltung, die allerdings 100 Jahre zurückliegt:
“This was not the first time the Palestinians have been told they cannot govern themselves, that they are obliged to remain under foreign tutelage, and do not warrant being consulted about their national future. In 1919, another British imperialist, Lord Balfour, wrote – in a confidential memo to Curzon himself – in Palestine we do not propose even to go through the form of consulting the wishes of the present inhabitants of the country … Zionism, be it right or wrong, good or bad, is rooted in age-long traditions, in present needs, in future hopes, of far profounder import than the desires and prejudices of the 700,000 Arabs who now inhabit that ancient land.”[1]
Über 100-Jahre nach dem Sykes-Picot-Abkommen und der Balfour Deklaration, nach mehr als 71 Jahren UN-Resolution 181 zur Teilung des geographischen Landes Palästinas und die darauf folgende Nakba (Katastrophe) für die Palästinenser*innen, nach mehr als 52 Jahren Besatzung und mehr als drei Jahrzehnten entleerter Friedensgespräche, und nicht zuletzt nach mehr als 12 Jahren Blockade des Gaza-Streifens wird den Palästinenser*innen nun ein Jahrhundert–Deal unterbreitet!
Das „Neue Palästina“ ist ein entleertes Palästina – ein Armutszeichen für die Weltgemeinschaft.
Das „Neue Palästina“, das versprochen wird, ist ein entleertes Palästina: entleert des Rechtes auf Selbstbestimmung, entleert seiner Souveränität, beraubt der Mehrheit seiner geographischen Landfläche, betrogen der Würde seiner Bürger*innen, und gewiss nicht überlebensfähig. Ein Armutszeugnis nicht so sehr für die Palästinenser*innen, sondern vielmehr für die internationale Weltgemeinschaft!
Denn die Frage nach der Eigenstaatlichkeit Palästinas wird nicht erst seit Trump global in den Hintergrund gedrängt, sondern die Verdrängung vollzog sich schleichend über die letzten Jahrzehnte hinweg. Daher wäre es eine Heuchelei, mit dem Finger auf Trump und seinen Schwiegersohn zu zeigen. Die ganze Welt hat tatenlos zugeschaut, als unter dem Deckmantel „Oslo“ die Zwei-Staaten-Lösung täglich untergraben wurde, und das ist kein Geheimnis. So schreiben etwa 35 ehemalige EU-Außenminister in ihrem Appell an die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, im April dieses Jahres (2019): „Israel und die besetzten palästinensischen Gebiete schlittern in Richtung einer Ein-Staat-Realität mit ungleichen Rechten.“[2]
Wer glaubt, die Menschenrechte für die jüdische Bevölkerung sichern zu können, während sie den Palästinenser*innen verweigert werden, unterschätzt die politischen Implikationen nach innen.
„Ein Staat-Realität mit ungleichen Rechten“ – eine sehr diplomatische Wortwahl! Doch wer glaubt, die Menschenrechte für die jüdische Bevölkerung sichern zu können, während sie den Palästinenser*innen verweigert werden, unterschätzt die politischen Implikationen nach innen. Da kommen mir die Worte des verstorbenen jüdischen Philosophen Jeschajahu Leibowitz aus dem Jahre 1992 in den Sinn:
„Seit fünfundzwanzig Jahren halten wir zwei Millionen Menschen unter unserer Herrschaft, die keine bürgerlichen und politischen Rechte genießen. Ist das Demokratie? Diese Herrschaft wirkt auch nach innen: Es korrumpiert furchtbar.“[3]
Stimmen von Aktivist*innen werden immer weniger gehört.
Viele palästinensische, israelische und internationale Aktivist*innen haben in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder von den täglichen Menschenrechtsverletzungen auf allen Seiten des Konfliktes berichtet und vor der Eskalation gewarnt. Ihre Stimmen wurden immer weniger gehört und wir wurden Zeugen und Zeuginnen einer Ära, in der immer mehr öffentliche Räume solchen kritischen Stimmen verweigert wurden. Die Orte änderten sich, die Namen änderten sich, die Allianzen änderten sich, gemeinsam blieben die immer enger werdenden Möglichkeiten einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Nah-Ost Konflikt jenseits der offiziell präsentierten Narrative.
Immer häufiger wurde der Einsatz für Palästina pauschal kriminalisiert oder als Ganzes teils als „radikal“, teils als „terroristisch“, teils als „islamistisch“ und nicht zuletzt als „antisemitisch“ abgestempelt. Jedes Mal wurde eine Front eröffnet und jedes Mal wurde vom Hauptthema abgelenkt: dass es hier nämlich um internationales Recht, um Freiheits-, Teilhabe- und Gleichheitsrechte und zwar sowohl für die Palästinenser*innen als auch für die Israel*innen geht!
Es geht also nicht nur um Palästina! Vielmehr geht es um die Haltung gegenüber demokratischen Werten und den Einsatz für gesellschaftliche Entwürfe einer Region. Palästina ist hier nur ein Ort und steht für viele Orte, an denen diese Werte in den Hintergrund gedrängt werden.
[1] https://www.nybooks.com/daily/2019/06/12/the-neocolonial-arrogance-of-the-kushner-plan/ (zuletzt abgerufen 23.07.19)
[2] https://diepresse.com/home/meinung/gastkommentar/5612668/IsraelPalaestina_So-kann-es-nicht-weitergehen (zuletzt abgerufen 23.07.19)
[3] http://www.rosalux.org.il/jeschajahu-leibowitz/ (zuletzt abgerufen 23.07.19)
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Autorin: Viola Raheb PhD ist Religionswissenschafterin und Univ. Ass. an der Evang. Theol. Fakultät in Wien. Sie ist gebürtige Palästinenserin und Friedensaktivistin.
Beitragsbild: Photo by Cole Keister on Unsplash