In ihrer Auseinandersetzung mit der dekolonialen Philosophie und Theologie von Enrique Dussel (1934-2023) eröffnet Ulrike Sallandt einen Blick in zentrale Diskurse lateinamerikanischer Geisteswissenschaft.
Sein zehnjähriger Studienaufenthalt in Europa hat ihm die Augen geöffnet, so schreibt Anton Peter zu Beginn seiner Einführung in Leben und Werk von Enrique Dussel.[1] Einsicht und Erkenntnis in die komplexen Abhängigkeitsstrukturen, geopolitische Machtkonstellationen – im Bewusstsein seiner eigenen europäisch-westlich kolonialen Ausbildung in seiner Heimat Argentinien – legten den Grundstein Dussels Denkens, das sich durch eine inter-/transdisziplinäre Ausrichtung auszeichnet. Als Historiker, Philosoph und katholischer Theologe analysiert Dussel ausgehend von und mit Blick auf die ,glokalen’ Begebenheiten der Welt. Nach seiner Rückkehr von seinem Studienaufenthalt in Europa Ende der 1960er Jahre muss er nach kurzem Aufenthalt vor den Peronisten nach Mexiko flüchten. Dort schreibt er im Exil, ohne Zugriff auf wissenschaftliche Literatur, sein wegweisendes Buch Philosophie der Befreiung (1977). Der Ausgangspunkt eigenständig philosophischen Denkens (er)fordert eine differenzierte Wahrnehmung des geopolitischen Raums und zwar ganz konkret. Dussel fordert die lokale kulturell-politische Differenz zwischen den Kontexten weltweit wahr- und ernst zu nehmen. Es gibt keine universale Philosophie! „Klugerweise entsteht die Philosophie nicht in diesem Raum“, im Zentrum Europas[2].
Widerstand gegen den
europäischen Universalanspruch.
Dussel orientiert sich am Gedanken des dekolonialen Forschungskollektivs Kolonialität/Moderne.[3] Die Entwicklung der Moderne muss im Zusammenhang mit der Kolonialzeit/-geschichte analysiert werden. Das cartesianische cogito ergo sum – ich denke also bin ich – stehe mit dem conquista ergo sum – ich erobere also bin ich – in einem unzertrennlichen Zusammenhang. Aus der Theopolitik wurde seit René Descartes eine Egopolitik, die an das „konstitutive Ich!“ als Gott gleich glaubte[4]. Dussel lässt keinen Zweifel daran, dass die Philosophie der Befreiung „das Nichtphilosophische: die Wirklichkeit!“ an sich denke bzw. denken müsse[5]. Es gehe darum, die eigene kulturelle Wirklichkeit in den Blick zu nehmen, sie in den Mittelpunkt der Reflexion zu stellen – die Peripherien sprechen zu lassen – Widerstand gegen den europäischen Universalanspruch zu leisten.[6] Die Herausforderung liege im Dilemma, so Dussel, dass die kolonialisierten Subjekte selbst einen Beitrag zur Reproduktion kolonialer Strukturen leiste(te)n.[7] Er habe es als kolonialisiertes Subjekt, zugleich als Teil der Elite im eigenen Land, am eigenen Leib erfahren und erst in Europa erkannt, dass er die Weltwirklichkeit(en) reduziert, d.h. kolonialisiert, wahrnehme: Als Nicht-Europäer habe er europäisch gedacht!
Gesellschaftliche Diskurse
dezentralisieren.
In seinem Projekt Transmoderne entwickelt Dussel seinen gesellschaftskritischen Ansatz weiter. Während er befreiungsphilosophisch das widerständige Verhältnis von Peripherien und dem Zentrum Europas, das für sich dieBedeutung der Modernität in Anspruch nimmt, im Blick hatte, unterläuft seine Vision der Transmoderne diese binären Aufspaltungen, Zuordnungen und Machtverhältnisse, sprich die strukturellen Folgen der modernen kolonialen Entwicklung.[8] Transmoderne ist demnach Dussels Ausdruck für den notwendigen Prozess eines gesellschaftlichen Paradigmenwechsels. Er fordert einen interkulturellen Dialog, zugleich transversalen Polylog, der nicht nur zwischen Peripherie und Zentrum stattfinde, sondern zugleich einen Austausch zwischen den Peripherien untereinander fördernd umfasse. Dabei versucht er die nicht gesehenen epistemischen Potenziale und Erfahrungen sichtbar zu machen. Erst der Prozess, gesellschaftliche Diskurse zu dezentralisieren bzw. zu dekolonialisieren, ermögliche, demokratische politische Teilhabe zu denken.[9] Transmoderne übt Kritik an den globalen gesellschaftlichen politisch-ökonomischen Verhältnissen, vertieft dabei deren Entstehungskontext geschichtlich, kulturell und geopolitisch. Ausschlaggebend ist letztlich die Selbst-Wahrnehmung. Sich selbst wertzuschätzen, sich als Person anzuerkennen, eingebettet in die eigene Lebenswirklichkeit, ermögliche in einer ersten Phase Kritik an der eigenen Tradition zu üben, d.h. sie zu dekonstruieren.[10] Das befreiungstheologische Narrativ, ausgehend von den Armen zu denken, erweitert sich.
Die Frage nach Befreiung wird nicht mehr in dualen Kategorien und Strukturen von Täter:in und Opfer, geschweige denn in Referenz zum westlich europäischen Entwicklungs- und Fortschrittsnarrativ, reflektiert. Stattdessen gibt Dussel dem kolonialisierten Subjekt seine Handlungsmacht zurück und fordert es auf, den ersten Schritt eigenständig – sich selbst kritisierend – zu gehen. An diesem Ort der kritischen (Selbst-)Destruktion verortet Dussel den gesellschaftlich kritischen dekolonialen Aufbruch.[11]Das Zusammenspiel von eigener Wertschätzung, Anerkennung und der damit einhergehenden Kritikfähigkeit lasse einen ganz anderen Raum kulturellen gesellschaftlichen Widerstands entstehen, in dem alle Akteur: innen weltweit in Beziehung stünden. Kolonial gezogenen Grenzlinien öffnen sich salopp gesagt zu vielschichtigen Räumen, in denen miteinander verhandelt wird. Folglich erweitere sich der Dialog zwischen den Kritiker: innen der eigenen Kultur untereinander. Aus der kritischen „Vielheit von optischen Brennpunkten“[12] konstituieren und dynamisieren sich die Widerstandsräume als demokratische Verhandlungsprozesse, die präventiv starren Machtstrukturen entgegenwirken.
Ein permanentes Ja
zugunsten kultureller Veränderung
Vergessen wir nicht, dass Kolonialisierung auch eine Form der Kulturalisierung bedeutet, mahnt die dekoloniale feministische Anthropologin Rita Laura Segato aus Argentinien.[13] Der Prozess der Entkolonialisierung muss demnach mit dem Neudenken von Kultur und Kulturalisierung einhergehen. Letzteres hat Dussel in den dekolonialen Diskursen Lateinamerikas vorangetrieben. Er denkt in diesen produktiven Prozessen theologisch ausgehend vom radikalen Anderen. Die/der/das Andere, der Schrei der Armen, die Marginalisierten, die Peripherien, das Unsichtbare und Unverfügbare, die lauten Stimmlosen bilden einen utopischen Ort außerhalb von zentraler Herrschaft und Macht – Dussel nennt ihn Exteriorität. Dieser Ort ermöglicht es, Kultur neu zu denken. Der etwas sperrige Begriff der Exteriorität entspricht hier nicht der reinen Negativität, sondern Dussel versteht ihn primär als permanentes Ja (!) zugunsten kultureller Veränderung: ein permanentes utopisches Streben nach einer Moderne, die jegliche Machtgrenzen, strukturelle Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen, trans-zendiert, d.h. mit anderen Worten über-steigt.
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Ulrike Sallandt, Prof.’in Dr.’in, Lehrstuhlinhaberin für Systematische Theologie und Ökumene an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.
Email: ulrike.sallandt@uni-oldenburg.de
Bild: Tumisu / pixabay.com
[1] Peter, Anton, Offenbarung Gottes im Anderen. Mainz: Matthias Grünewald, 1997, 15.
[2] Dussel, Enrique, Philosophie der Befreiung. Hamburg: Argument, 1989 (1977), 15.
[3] Vgl. Garbe, Sebastian; Quintero, Pablo (Hg.), Kolonialität der Macht. De/Koloniale Konflikte: zwischen Theorie und Praxis, Münster: UNRAST, 2013, 21.
[4] Dussel 1989 (1977), 21.
[5] Ebd., 17.
[6] Augusto Salazar Bondy stellt schon 1969 die kritische Frage, ob es aus einem kolonialen Sein möglich sei, philosophisch schöpferisch zu denken? (¿Existe und filosofía en nuestra America? Lima: sigloveintiunoescritofres?, 1969.
[7] Vgl. Dussel 1989 (1977), 25.
[8] Vgl. Dussel, Enrique, Der Gegendiskurs der Moderne. Kölner Vorlesungen. Berlin/Wien: Turia+Kant, 2013, 167.
[9] Vgl. Dussel, Enrique. Hacia una filosofía politica critica. Bilbao: Desclieé, 2001, 387.
[10] Vgl. Dussel 2001, 404; ders., 2013, 172.
[11] Vgl. Dussel 2013, 173.
[12] Ebd., 180.
[13] Vgl. Segato, Rita Laura. Wider die Grausamkeit- Für einen feministischen und dekolonialen Weg. Wien/Berlin: Mandelbaum kriti&utopie, 22023 (2021), 41.