Die Proben zu den Bayreuther Festspielen haben längst begonnen. In christlichen Kreisen liebt man Richard Wagner nicht allzu sehr – und das mit guten Gründen. Rainer Bucher ist aber überzeugt, dass es etwas bringt, Wagner nicht länger auszuweichen. Er selbst konnte es nicht: Er ist in Bayreuth aufgewachsen.
Vor einiger Zeit saß ich mit einer evangelischen Theologin auf einem Podium der Konrad-Adenauer-Stiftung, es ging um Papst Franziskus. Als wir darauf zu sprechen kamen, dass dieser neben Mozart und Bach auch Richard Wagner als seinen musikalischen Favoriten benannt hat, bekannten wir uns als regelmäßige Besucher der Bayreuther Festspiele. „Wird es in Ihren katholischen Kreisen auch immer so merkwürdig still, wenn Sie sich als Wagnerianer outen?“ – so nachher die vorsichtige Frage der Kollegin.
„Wird es in Ihren katholischen Kreisen auch immer so merkwürdig still, wenn Sie sich als Wagnerianer outen?“
In christlichen Kreisen mag man Wagner normalerweise nicht so sehr und das mit guten Gründen: Er war ein übler Antisemit, seine Musik erleben viele als gewalttätig, noch mehr als langatmig, und die von ihm bereits mitbetriebene kunstreligiöse Überhöhung von Werk und Person ist christlichem Empfinden zu Recht peinlich. Hitlers Wagnerbegeisterung ist da noch nicht einmal eingerechnet.
Der Lieblingskomponist vieler kunstinteressierter Christen ist zumeist Johann Sebastian Bach und auch das mit guten Gründen, denn mit Bach bekommt man eine Ahnung, was es mit dem Himmel auf sich haben könnte. Bei Wagner aber kann man lernen, wie es auf der Welt zugeht, und das in schönster Einheit von Person und Werk.
Mit Bach bekommt man eine Ahnung, was es mit dem Himmel auf sich haben könnte, bei Wagner erfährt man, wie es auf der Welt zugeht.
Bach verführt mit der Vollkommenheit seiner kompositorischen Technik, Wagner mit der Ambivalenz seiner medialen Techniken: Mächtig sind sie darin beide.
Ich bin in Bayreuth aufgewachsen. Für Wagner war Bayreuth ein Podium, das er sehr bewusst ausgewählt hatte: groß genug, um ihm als Bühne zu dienen, überschaubar genug, um nur ihm Platz zu bieten. Die anderen Berühmtheiten Bayreuths, Jean Paul und Max Stirner etwa, waren gegen Wagner immer nur Außenseiter und sind bis heute Außenseiter der Literatur- und Philosophiegeschichte geblieben.
Bayreuth war ausgesprochen begeistert vom Nationalsozialismus und eine der Lieblingsstädte Hitlers. Er kam privat und öffentlich immer wieder hierher, wollte Winifred Wagner und ihre Kinder treffen und seine alte Liebe zu Richard Wagners Opern erneuern. Wenn man in Bayreuth aufwächst und halbwegs sensibel ist, kann man dieser Seite der Stadt nicht ausweichen. Zumindest dann nicht, wenn Wagners Villa Wahnfried und das ehemalige nationalsozialistische „Haus der deutschen Erziehung“ auf dem Schulweg liegen, wenn die Eltern vom Krieg berichten und die katholische Pfarrjugend bei einer Polenfahrt auch die Gedenkstätte des KZ Auschwitz besucht.
Was hat meine behütetes, katholisch-bürgerliches Leben mit Richard Wagner und Hitlers Bayreuther Hinterlassenschaften zu tun?
Wagners Festspielhaus, das ich mit 13 Jahren zum ersten Mal besuchte, war während meiner Jugend in Sichtweite: es selbst wie seine übermächtigen Geschichten von Gewalt, Liebe und Tod. Irgendwann fragte ich mich: Was hat das alles miteinander zu tun: mein behütetes katholisch-bürgerliches Leben, Richard Wagner und Hitlers Hinterlassenschaften?
Vom George-Kreis bis Ernst Jünger, von der Jugendbewegung bis zur militaristischen Freicorpsszene der Zwischenkriegszeit: Das Ressentiment gegen die „Masse“, gegen die „Verflachung“ war unter den Eliten damals weit verbreitet – und nicht nur bei ihnen. Dem Trott einer spießig selbstgefälligen Alltäglichkeit voller Regeln und kleinbürgerlicher Normen, voller kleiner und kleinster Freuden und großer Ängste und voller Tristesse entfliehen zu wollen, ist ja nur zu verständlich. Richard Wagner hat es als Mensch stets und oft auf Kosten anderer getan und in seinen Werken ebenso gefeiert wie ermöglicht.
Niemand hat früher und schärfer das uneigentliche Leben kritisiert als Friedrich Nietzsche: das Leben des Menschen des „Ressentiment“ mit seiner schielenden Seele, der gar nicht anders kann, als seine Kränkungen zu konservieren und sich durch die Abwertung anderer aufzubauen.
In Richard Wagners Gesamtkunstwerk sah Nietzsche für eine gewisse Zeit die Rettung aus all dem. „Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“, so heißt es in Nietzsches „Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“ (1872) und Wagner war für Nietzsche in seiner Vierten „Unzeitgemäßen Betrachtung“ (1876) jener Künstler und „Lichtbringer“, der dies leisten sollte, dessen „Musik als Ganzes“ nichts weniger denn „ein Abbild der Welt“, eine „Rückkehr zur Natur“ ermöglichte, jene verloren gegangene Erfahrung, in der Dionysisches und Apollinisches endlich wieder versöhnt waren und in der „die in Liebe verwandelte Natur“ ertönt.
Mit diesen Hoffnungen auf Wagner und sein Werk als Ort der Erlösung von den Krankheiten der Moderne ist es bald vorbei. Nicht so sehr persönliche Zerwürfnisse, die es auch gab, sondern wirkliche theoretische Neupositionierungen führten dazu: „Wagner den Rücken zu kehren, war für mich ein Schicksal“, so Nietzsche in „Der Fall Wagner“ (1888). Die „Genesung“ von der „Krankheit“ Wagner nennt er jetzt sein „grösstes Erlebnis“.
Mit Nietzsches Hoffnungen auf Wagner als Erlösung von den Krankheiten der Moderne ist es bald vorbei.
Worin bestand es? In der Einsicht, dass Wagner nicht die ästhetisch vermittelte Rückkehr zu den „Müttern des Seins“, nicht die erhoffte Erfahrung von Souveränität jenseits des Ressentiment liefert, sondern, im Gegenteil, die „Heraufkunft des Schauspielers in der Musik“ bedeutet: „ein capitales Ereigniss, das zu denken, das vielleicht auch zu fürchten giebt“.
Denn: „Man ist Schauspieler damit, dass man Eine Einsicht vor dem Rest der Menschen voraus hat: was als wahr wirken soll, darf nicht wahr sein.“ „Wagners Musik“, so Nietzsche, „ist niemals wahr“. Was immer das bei Nietzsche genau heißen mag, bekanntlich kritisiert Nietzsche einen naiven Wahrheitsbegriff: Wagner produziert für Nietzsche jetzt nur noch „wollüstigen Rausch für … Verarmte“. Er ist kein Weg aus der décadence, vielmehr deren raffiniertester Repräsentant. Man zahle daher die „Anhängerschaft an Wagner“ stets „theuer“.
Nietzsche hat damit ohne Zweifel Recht, zumindest wenn es eine naive Anhängerschaft ist. Naiv aber ist sie, wenn sie sich vorbehaltlos jenem Rausch hingibt, den Wagner anbietet und als erster in seinem mit viel medientechnischer Raffinesse gebauten Bayreuther Festspielhaus herzustellen vermag: die bewusste Inszenation vorbewusster Erlebniswelten ohne Ausweg und Distanz, das Kino vor dem Kino. Naiv ist die Anhängerschaft, wenn sie Wagner affirmativ kunstreligiösen Erlösungsstatus zubilligt, wenn sie Wagners Werk nicht bricht an den Realitäten der Gegenwart, sondern umgekehrt die Realitäten der Gegenwart an den thematischen Motiven von Wagners Opern ausrichtet und totale Räume medialer Überwältigung inszeniert, wie Wagner es erstmals tat.
Naiv ist, wer Wagner affirmativ kunstreligiösen Erlöserstatus zubilligt.
Hitler übrigens hat beides, von Wagner inspiriert, getan, von den inszenatorischen Meisterleistungen der Reichsparteitage bis zur realisierten Götterdämmerung des Mai 1945. Gerade deshalb aber gilt:„Es hilft nichts, man muss erst Wagnerianer sein….“. Denn an Wagners Opern kann man studieren, wie die Welt heute funktioniert, was Menschen morden, stehlen, lieben, verraten, sich opfern lässt – und wie wenig logisch das alles ist.
An Wagners Opern kann man studieren, wie die Welt heute funktioniert und was Menschen morden, stehlen, lieben, sich opfern lässt.
Und man kann an Wagners Opern lernen, wie und mit welchen Mitteln in der Mediengesellschaft ästhetische Überwältigung und Verführung hergestellt wird und dass in ihr ästhetische und nicht mehr religiöse oder politische Identitätsmarker relevant sind, zumindest in den Wohlstandsgesellschaften des Westens, weswegen umgekehrt religiöse Identitäten beginnen, sich primär ästhetisch zu präsentieren.
Wenn man aber Wagners ungeheure Kraft bricht an den Ungeheuerlichkeiten der Gegenwart, wie es die großen Wagnerregisseure der letzten Jahrzehnte von Chereau bis Herheim taten, dann kommt ein Spiel der Erkenntnis in Gang, das wirklich Neues erfahren lässt. 2005 habe ich Christoph Schlingensiefs Parsifal-Inszenierung in Bayreuth gesehen. Schlingensief inszenierte nicht die Frage, was denn Erlösung sei, ob es sie geben könne, wovon man überhaupt erlöst werden wolle und wie viel Gewalt allein schon der Wunsch nach Erlösung in sich enthält: Er präsentierte all diese Fragen mit existentieller Wucht, ohne Rücksichten auf sich und andere, wie eben Wagner auch: eine bleibend verstörende Erfahrung für einen Theologen.
Wagner gehört zu jenen Phänomenen, von denen man entweder schnell und ein für alle Mal gefesselt ist, oder ebenso schnell und ein für alle Mal nie mehr etwas hören will. Wagner ist auch ohne Zweifel ein Verführer. Wer sich ihm naiv nähert, ist verloren. Wer sich ihm aber kritisch nähert, verliert Illusionen über die Welt und erfährt noch nebenbei, wie die moderne Medienindustrie funktioniert.
Konfrontiert man ihn ästhetisch, politisch, medial auf der Höhe der Gegenwart mit unserer Gegenwart, sprüht es unvorhersehbare Funken, wie bei wenigen Künstlern der Vergangenheit. Wagner war ein unmöglicher Mensch und seine Kunst ist bisweilen gewalttätig bis zur Schmerzgrenze. Aber er nimmt seine Themen ernst und er hat Mittel und Wege, andere dazu zu bringen, sie ernst zu nehmen.
Man verliert Illusionen über die Welt und erfährt noch nebenbei, wie die moderne Medienindustrie funktioniert.
Man sollte Wagner nur kritisch begegnen, aber gerade als Christ ihm nicht ausweichen. Denn das Christentum ist nicht Weltflucht, weder Flucht aus der Welt noch in die Welt, sondern Welt-Loyalität (A. N. Whitehead).
… Töne aus dem Reich leidender, gedrückter, gemarterter Seelen
Außerdem hatte Nietzsche auch darin Recht: „Da ist ein Musiker, der mehr als irgendein Musiker seine Meisterschaft darin hat, die Töne aus dem Reich leidender, gedrückter, gemarterter Seelen zu finden.“ Und das ist nun ganz ohne Zweifel christlich.
(Bild: Rainer Bucher)