Eine besondere Einladung, Socken als Ausdruck der Hoffnung, eine Botschaft aus Wolle, verfasst in der Sprache der Schafe. Eine Adventsgeschichte von Juliane Link.
Es ist der erste Advent und meine Mutter strickt. Tagsüber steht sie in einem Supermarkt in einer winzigen Postfiliale und nimmt Pakete entgegen. In den Wochen vor Weihnachten arbeitet sie dort im Akkord und jedes Jahr wird es schlimmer. „Es ist der helle Wahnsinn“ schreibt sie mir auf Whatsapp. Sie verbringt mindestens 8 Stunden hinter der piependen Kasse, steht eingezwängt zwischen den Pakettürmen, kann sich kaum umdrehen vor lauter Rücksendungen, bedient die gestressten Kund*innen, von denen immer sofort jemand nachrückt, denn die Schlange ist endlos. „Wir können das Ende der Schlange nicht sehen. Ich arbeite den ganzen Tag, ohne das Ende der Schlange zu sehen“, schreibt meine Mutter. Am Abend liegt sie mit Rückenschmerzen und zentnerschweren Beinen auf dem Sofa und strickt. Jedes Jahr strickt sie für mich zu Weihnachten. Immer sind es Socken und immer freue ich mich, weil die Socken meiner Mutter so warm sind, sie sitzen passgenau, ich kann mir die Farbe aussuchen und ich weiß, dass die Wolle Masche für Masche von ihrer Zuneigung zeugt. Mit den Socken trage ich den ganzen Winter die Zärtlichkeit meiner Mutter an den Füßen.
Wir können das Ende der Schlange nicht sehen.
Es ist der zweite Advent und meine Mutter strickt, dabei sind meine Socken schon fertig. Auch das ist nicht neu. Vor ein paar Jahren hat sie Socken in Größe 46 gestrickt, davor in 42, davor in 48 und an die davor erinnere ich mich nicht mehr. Während sie den Anschlag für das nächste Paar Socken fertigt, erneuert meine Mutter ihre Hoffnung. Dabei weiß sie von meinem aktuellen Freund noch kaum etwas. Vorname, Alter, Beruf und ob es mir gut geht mit ihm. Und seine Schuhgröße. Mehr Informationen braucht meine Mutter nicht. Mehr braucht sie nicht, um den Faden aufzunehmen und in einem Rhythmus, der in etwa ihrem Herzschlag entspricht, die Nadeln zu bewegen. Meine Mutter strickt für einen Unbekannten. Sie hat es schon mehrmals getan. Sie tut es, als sei es selbstverständlich. Die Socken halten sich jahrelang, sie überdauerten all meine Beziehungen. Meine Mutter nimmt es hin und beginnt mit jedem meiner Partner von vorn. Mit den Socken schenkt sie dem Fremden an meiner Seite ihr Vertrauen. Er wird ihre Zeit wert sein, die so streng rationierte Zeit nach dem Arbeitstag, die sie nutzen muss, bevor die Erschöpfung sie überwältigt und sie mit dem Nadelspiel in den Händen auf dem Sofa einschläft.
Mit den Socken schenkt sie dem Fremden an meiner Seite ihr Vertrauen.
Während aus einem nachtblauen Wollknäuel allmählich die Form eines Sockens in Größe 43 entsteht, macht meine Mutter sich ein erstes Bild von den Füßen des Mannes, der durch meine Straße läuft, die Treppen zu meiner Wohnung empor steigt, die Schuhe auszieht in meinem Flur und auf dem Terrazzoboden in meiner Küche kalte Zehen bekommt. Als sie die letzte Runde vollendet, hat sie eine Ahnung von seiner Größe. In ihrer Vorstellung kleidet meine Mutter seine Füße in die Gewänder des Heils und umhüllt seine Fersen mit dem Mantel der Gerechtigkeit. Dass sie für ihn strickt, ist mehr als ein Begrüßungsgeschenk oder eine Geste der Großzügigkeit, es ist eine Zusage. Mit den Socken wird mein Freund in die Familie aufgenommen.
Meine Mutter macht sich ein erstes Bild von den Füßen des Mannes, der durch meine Straße läuft.
Noch weiß er nichts davon. Ich habe heimlich nachgesehen, welche Zahl auf seinen Schuhsohlen steht, ich habe das im Auftrag meiner Mutter recherchiert. Die Zahl 4 findet sich in der Bibel bei den 4 Flüssen Edens, den 4 Enden der Erde, den 4 Evangelien. Die Zahl 3 steht für die Dreieinheit Gottes und bei Paulus für die dreifache Sicherheit der Erlösten. „Ich habe ein gutes Bauchgefühl“ schreibt meine Mutter in einem Brief und dass sie um ihn gebetet hat, kurz bevor ich ihn kennenlernte. „Kommt er an Weihnachten mit?“ fragt sie am Telefon. „Nein, sage ich, es ist noch zu früh und jetzt mit Corona …“ „Macht es, wie ihr wollt, das hat ja Zeit,“ erwidert meine Mutter, „Er braucht nicht kommen, aber richte ihm aus, dass er eingeladen ist.“
Es ist der dritte Advent und meine Mutter vollzieht, ohne auch nur eine Kerze anzuzünden, eine stille Gaudetefeier am Wohnzimmertisch. Sie trinkt ein Glas Rotwein und während die zweite Socke unter leisem Klappern Gestalt annimmt, bemerkt sie, dass ihre Stimmung sich verändert hat. Sonst nimmt im Laufe des Abends nur die Müdigkeit zu, aber diesmal spürt sie in sich, während das Wollknäuel schwindet, einen unerklärlichen Zuwachs an Helligkeit. Beim Abketteln wird das Gefühl konkreter: es ist eine Mischung aus Vorfreude, Sehnsucht und Geduld. Denn sie glaubt, dass der Mensch, den sie sich für mich wünschte, schon da ist in meinem Leben und dass er doch Zeit brauchen wird, um anzukommen. Aber das macht nichts, sie kann warten.
Sie glaubt, dass der Mensch, den sie sich für mich wünschte, schon da ist in meinem Leben.
Es ist der vierte Advent und meine Mutter verpackt ein kleines Geschenk, das sie nicht selbst übergeben wird. Sie weiß nicht, ob sie den Empfänger je zu Gesicht bekommen wird, wie lange das Bild von seinen Füßen in ihren Socken auf meinem Küchenboden der Realität entspricht. Aber sie weiß, dass sie ihn mit offenen Armen empfangen wird, wenn er kommt. Sie wünscht sich, dass er bleibt und traut der Verheißung einer Schuhgröße: 43. Das leichte, weiche Päckchen, das mir meine Mutter an Weihnachten in den Koffer legen wird, damit ich es ihm mitbringe, enthält eine Botschaft aus Wolle, verfasst in der Sprache der Schafe. Mit den Socken überreiche ich ihm all ihre Hoffnung. Ob er sich über sie freuen wird, weiß ich nicht. Aber ich glaube, er wird sie annehmen.
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Text: Juliane Link, Autorin, Kulturwissenschaftlerin, Referentin der Katholischen Studierendengemeinde Berlin.
Bild: Steve Johnson, unsplash