Morgen Abend beginnt das jüdische Jom Kippur Fest. Zehn Tage zuvor feiern die Jüdinnen und Juden Rosh HaSchanah, den Geburtstag der Welt. Die zehn Tage zwischen Rosh HaSchanah und Jom Kippur sind das Herzstück der jüdischen Feiertage. Rabbinerin Esther Jonas-Märtin skizziert den Weg der inneren Einkehr und Erneuerung.
Wollten Sie schon immer wissen, wann die Welt eigentlich Geburtstag hat?
Dafür gibt es je nach Zeitrechnung verschiedene Antworten und natürlich auch eine aus jüdischer Sicht: Nimmt man die gängige Zeitrechnung, dann wurde die Welt am 7. Oktober 3761 vor der üblichen Zeitrechnung geschaffen, d.h.: 3761 v.d.ü.Z. plus unser Jahr 2019 n.d.ü.Z. macht 5780 Jahre! Dieses Jahr im September 2019 feiert die Welt also nach dem jüdischen Kalender ihren 5780. Geburtstag. Ebenso wie Sie jedes Jahr Ihren Geburtstag feiern, so feiern Juden und Jüdinnen jedes Jahr mit Rosch HaSchanah[1] (lit: Beginn des Jahres) seit vielen, vielen Generationen jedes Jahr wieder den Geburtstag der Welt.
Rosch HaSchanah – der Beginn des Jahres
Wenn wir uns zu Rosch HaSchanah an Gottes Werke in der universalen Schöpfungsgeschichte erinnern, dann machen wir uns bewusst, dass die gesamte Schöpfung ineinandergreift und voneinander abhängig ist und wir stellen uns in einen Kontext, der insbesondere die Einheit der Menschheit betont.
Die biblische Beschreibung der Schöpfung Gottes beginnt mit der Beschreibung des Kosmos und dessen Begrenzung auf menschlichen Maßstab. Ursprünglich gibt es da die unvorstellbare, mit bloßem Auge unsichtbare Größe des Universums, in das Gott mit der Schöpfung des Lichts den Schlüssel für das Verstehen unserer eigenen Begrenztheit und gleichzeitig für die unglaubliche Weite des Schöpfungswerkes einpflanzt. Der Schlüssel für unsere Beziehung zur Schöpfung liegt einerseits in unserem Verstehen dessen, dass wir ein (kleiner) Teil dieser Schöpfung sind und andererseits in der Wahrnehmung unserer Verantwortung als Partner*innen Gottes in der Schöpfung.
An Rosh HaSchanah öffnet Gott das Buch des Lebens.
Von der puren Suche nach Gott in unserem Leben bis hin zu unseren Beziehungen zu anderen Menschen, versuchen wir, Gott ähnlich zu sein. B’Tzelem Elohim, im Ebenbild Gottes geschaffen zu sein, ist der biblische Auftrag an alle Menschen, das Beste in uns zu finden und die beständige Herausforderung, unsere Talente und unsere Segnungen in die Welt scheinen zu lassen. B’tzelem Elohim bedeutet, dass wir unsere Entscheidungen nach moralisch-ethischen Kriterien treffen, dass wir uns der Verantwortung der Welt gegenüber bewusst sind und die Schöpfung bewahren helfen.
Sehr lebendig ist die Vorstellung, dass an Rosch HaSchanah das Buch des Lebens geöffnet wird, in das alles Gute und Schlechte eingeschrieben ist. Im Verlauf insbesondere dieser zehn Tage zwischen Rosch HaSchanah am ersten Tag des siebenten Monats Tischri bis zum Versöhnungstag (Jom Kippur) haben wir die Chance, unsere Versäumnisse zu erkennen und unsere Fehler zu bereuen, und: Wir haben die Möglichkeit Versäumnisse wieder gut zu machen, in der Hoffnung, dass die Eintragungen im Buch des Lebens mehr zu unseren Gunsten ausfallen.
ein ganzer Monat Vorbereitungszeit
Für observante jüdische Menschen sind es indes nicht nur diese zehn Tage zwischen Rosch HaSchanah und Jom Kippur, die zum Gelingen beitragen, sondern die Reise in das neue Jahr beginnt mit dem ersten Tag des Monats Elul, dem sechsten Monat des jüdischen Jahreskreises. Ein ganzer Monat Vorbereitungszeit mit speziellen Gebeten, wie den Selichot (hebr.: Vergebungen) und im Anschluss daran Rosch HaSchanah und Jom Kippur, deren Wesen und Kernpunkte ich im Folgenden näher beschreiben und erklären möchte.
eine Reise zurück zum Ursprung – eine Reise zu Gott
Vom ersten Tag des Monats Elul befinden wir uns auf einer Reise, einer Reise zurück zu Gott, einer Reise zurück zu dem, was ursprünglich in uns angelegt war. Die weltweit erste, in Deutschland ordinierte Rabbinerin, Regina Jonas, brachte es auf den Punkt: „So hat ein jeder die Pflicht, ob Mann oder Frau, nach den Gaben, die Gott ihm schenkte, zu wirken und zu schaffen“. Rabbinerin Jonas selbst ist das beste Beispiel. Sie stammte aus einer armen und eher bildungsfernen Bevölkerungsschicht und folgte doch beharrlich und unerschrocken ihrem ganz eigenen Weg, nach den Gaben, die Gott ihr geschenkt hatte. Nach uralter jüdischer Weisheit braucht es diese Beharrlichkeit, um sich auf die Hohen Feiertage vorzubereiten und letztlich in der Lage zu sein, vor Gott zu stehen.
der Weg zu Gott – durch zehn Tore hindurch
Der Monat Elul wird oftmals beschrieben als ein Weg, der durch mehrere Tore hindurch letztlich zur Begegnung mit Gott führen wird[2].
Das erste Tor ist der Anfang des Monats Elul (Hebr.: Rosch Chodesch Elul), gekennzeichnet durch den erstmaligen Klang des Schofar (des Widderhorns). Das Schofar fungiert dabei wie ein Wecker, allerdings nicht als das gewohnte morgendliche Signal zum Aufstehen, sondern wie die Schwingungen einer Klangschale, die uns als spirituelle Wesen in Bewegung bringen.
Das zweite Tor erwartet von uns das Hinterfragen unserer täglichen Praxis, wobei das Schofar uns erinnert, dass wir häufig Illusionen anhängen, überholten Mustern folgen und uns der Wirkung unseres Handelns nur zu häufig nicht bewusst sind.
Mit dem dritten Tor werden uns Mittel in die Hand gegeben, die den Wirkungsgrad des Schofar erweitern und vertiefen helfen: das Gebet und das Studium der Torah (der hebräischen Bibel). Das Verb beten (hebr. Lehitpalel, lit: zu richten oder zu klären) ist, anders als im Deutschen, ein reflexives Verb, das darauf hinweist, dass beim Beten etwas mit uns geschieht. Beten ist etwas, das eine Wirkung auf uns selbst hat: Im Idealfall wird ein Mensch durch das Gebet bewegt. So wie das Gebet soll auch das Studium der Torah unsere spirituellen Kräfte aktivieren und stärken, was uns befähigen soll, unsere Fehler zu erkennen und unser Handeln entsprechend zu verändern.
Das Studium der Torah soll unsere spirituellen Kräfte aktivieren.
Den nächsten Schritt machen wir, indem wir uns am vierten Tor mit Moralliteratur (hebr. Mussar) beschäftigen. Diese Literatur soll dazu anhalten, das eigene Verhalten zu analysieren und uns zu überlegen, wo wir anders handeln oder sprechen sollten und worin unser Anteil besteht, wenn etwas schiefläuft.
Das fünfte Tor markiert den Abschluss dieser Vorbereitungen. Nun sind wir gefragt, Vorsätze zu formulieren und zu fassen, die allerdings so gefasst sein sollen, dass sie auch machbar sind.
Ungefähr zehn Tage vor Rosch HaSchanah ist das sechste Tor erreicht und mit diesem die nächste Stufe in unserem Prozess der Selbstbeurteilung. Hierzu gehören beispielsweise das Nachdenken über folgendes: Ärger, Klatsch (Rufmord), Menschen in der Öffentlichkeit beschämt zu haben, Eitelkeit, Eifersucht, sinnloser Hass und Wut, Arroganz, Lüge und Respektlosigkeit.
Das siebente Tor hält Worte der Ermutigung für uns bereit, wobei der Wert des Lebens an sich die wichtigste Triebfeder dafür ist, weiter zu schwimmen, selbst wenn man die rettende Küste – noch – nicht sieht.
Wenn wir das achte Tor erreichen, dann gilt es, unsere Taten zu beurteilen, danach, was wir gewollt haben und danach, was (durch unser Handeln) ungewollt geschehen ist. Die Urteile, die wir hier fällen, sind die Basis für unsere Aufgabe im neunten Tor: die Korrektur unserer Fehler und Versäumnisse.
Das zehnte und letzte Tor besteht darin, dass wir uns von Begehren distanzieren, indem wir Versuchungen (innerlich und äußerlich) vermeiden. So wie es in Hiob 28:28 geschrieben steht: „Und zum Menschen sagte Gott: ‚Siehe, die Ehrfurcht vor Gott ist Weisheit, und sich vom Bösen fernzuhalten ist Verstehen’“.
Diese zehn Tage zwischen Rosh HaSchanah und Jom Kippur sind das Herzstück der Hohen Feiertage.
Der Klang des Schofar, der uns durch den gesamten Monat Elul begleitet hatte, wird mit Rosch HaSchanah drängender und dringlicher. Diese nun beginnenden zehn Tage sind das Herzstück der Hohen Feiertage, die letzte Gelegenheit mit sich selbst und mit anderen Menschen ins Reine zu kommen.
Jom Kippur: Wir fasten und konzentrieren uns so auf die Bedürfnisse unserer Seele.
Jom Kippur (hebr.: Tag der Sühnungen) ist der Tag, an dem wir dann ganz direkt und unmittelbar vor Gott stehen und Rechenschaft vor Gott ablegen. Jom Kippur ist der zweite Fastentag (neben Tisha Be’Av) im jüdischen Jahr, der höchstens 25 Stunden andauert (also von Sonnenuntergang zu Sonnenuntergang). Das Fasten an Jom Kippur ist das strengste Fasten: es bezieht sich nicht nur auf den Verzicht auf Essen und Trinken, sondern auch auf sexuelle Enthaltsamkeit, ausgiebige Körperpflege, Make up oder Autofahren. Das Fasten soll uns dabei unterstützen, uns auf die Bedürfnisse unserer Seele zu konzentrieren, so dass nichts Materielles unsere Katharsis stören kann. Wir sind B’tzelem Elohim, gleichen uns Gott in größtmöglicher Weise an, indem wir keine Nahrung brauchen und uns keinerlei materielle und physische Bedürfnisse erfüllen. Während dieses Tages werden wir durch Fasten, intensives Gebet und wiederkehrende Meditationen gereinigt von unseren Fehlern und Versäumnissen. Wir werden gestärkt und wir werden befähigt unsere Bestimmung wieder zu erkennen, zu erfüllen und, last but not least, uns Gott wieder nahe zu fühlen.
Wenn wir also ganz zum Abschluss der Hohen Feiertage beim Ne’ilah (hebr.: das Schließen der Tore), dem Abschlussgebet des Jom Kippur zusammenkommen, dann haben wir im besten Fall nicht nur unsere Beziehungen zu anderen Menschen repariert, sondern auch unsere Beziehungen zur Schöpfung. So beginnen wir das neue Jahr 5780 mit erneuerter Lebenskraft und spiritueller Stärke auf bestmöglichste Weise: Als Partner und Partnerinnen Gottes in der Verantwortung für unsere Welt.
L’Schanah tovah! Auf ein gutes neues Jahr!
[1] Mit Rosch HaSchanah, dem jüdischen Neujahrsfest, beginnen die Hohen Feiertage (Hebr. Jamim Nora’im, Tage der Ehrfurcht) im Judentum. Zehn Tage nach Rosch HaSchanah folgt der Versöhnungstag Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag des Jahres.
[2] Bei der Beschreibung der zehn Tore orientiere ich mich an Rabbi S. Wagschal: The Practical Guide to Teshuvah. Feldheim 1991. (Teshuvah, hebr.: Umkehr)
Autorin: Esther Jonas-Märtin, M.A. Jewish Studies, Religionswissenschaften, Moderne Geschichte, Master of Arts in Rabbinic Studies, Ordination zur Rabbinerin. Dozentin, Referentin, Leiterin des Lehrhauses Beth Etz Chaim in Leipzig und Promovendin an der Philosophischen Fakultät der TU Dresden.
Bild: Jon Tyson, www.unsplash.com
Weiterhin über Esther Jonas-Märtin auf feinschwarz erschienen: