Wo Menschen von sich erzählen, werden sie für einen Moment Autor, Autorin des eigenen Lebens. Kerstin Rödiger schildert, was Erzählcafés ermöglichen und reflektiert die tiefere Dimension des gemeinsamen Erzählens und Zuhörens.
Es war einmal ein Mensch. Der hatte zwei Steine in seinen Taschen. Nahm er den einen Stein in seine rechte Hand, so stand darauf: Für dich ist die Welt gemacht! Nahm er den Stein aus seiner linken Tasche in die Hand, so las er: «Du bist aus Staub und wirst zu Staub zurückkehren.»
Wenn er sich Zeit nahm, das Gewicht des rechten Steins zu fühlen, so wurde er selbst gross und wichtig, er sah, was er alles konnte und schon geschaffen hatte. Er fühlte sich glücklich und frei und alles war möglich!
Nahm er sich Zeit für den Stein in seiner linken Hand, so fühlte er sich klein, hilflos und ohnmächtig. Er sah, was er alles nicht ändern konnte und welche Wege sich für ihn auf immer verschlossen hatten. Er fühlte sich erdrückt und allein und nichts hatte einen Sinn.
Und er begann zu erzählen…
So stand er nun da mit seinem Schicksal und schaute weinend und lachend gleichzeitig von einem Stein zum anderen. Da kam jemand auf ihn zu, und fragte, was er denn in der Hand halte und warum er weine und lache, und er begann zu erzählen, zuerst von der einen Seite des Schicksals, dann von der anderen. Der Andere hörte zu, lachte und weinte mit, denn er hatte auch zwei solche Steine in den Taschen und sie fanden heraus, dass sie einiges verband, und es schien, als knüpften sie aus ihren Erinnerungsfäden neue Geschichten, die andere Farben bekamen und trotzdem ihre Geschichten blieben. In diesen Geschichten hatten beide Steine ihren Platz. Und so waren sie getröstet und fühlten sich aufgehoben, und wenn auch nicht alles möglich war, so fanden sie heraus, was doch möglich war. So erzählen sie bis heute.
Menschenzeit und Sternenzeit: Erzählen als Brücke
Dies ist eine von mir erweiterte Erzählung basierend auf der kurzen Geschichte von Rabbi Nachman, in der ein Lehrer seinen Schülern rät, immer diese zwei Steine mit eben diesen Sprüchen in den Taschen zu haben.
Die Kraft des Erzählens
Die Weisheit dieser Erzählung liegt darin, die Spannung in unserem Leben mit wenigen Worten deutlich zu machen: Wir Menschen können so viel bewirken und verändern die Welt und doch sind wir sterbliche Wesen, die nicht alles in der Hand haben – manchmal sogar erstaunlich wenig. Das Leben ist ein Geschenk und eine Zumutung. Wir gestalten und uns widerfährt.[1] In der Geschichte des Rabbi habe ich das Erzählen als Brücke zwischen diesen Polen ergänzt, denn die Kraft des Erzählens fasziniert mich als Mutter, Theologin und Spitalseelsorgerin.
Sehnsucht nach Geschichten
Als Mutter merke ich, welche Sehnsucht nach Geschichten in Kindern da ist, als Theologin staune ich immer wieder über die Bibel als Geschichtenbuch und als Spitalseelsorgerin erlebe ich, wie Erzählen Erstaunliches ermöglicht. PatientInnen werden wenigstens für einen Moment neu AutorInnen ihres Lebens, wenn sie von ihrer Geschichte erzählen können.
Erzählcafés eröffnen einen Raum
Einen besonderen Raum für das Erzählen eröffnet die Form des «Erzählcafés». Darin geht es um biografisches Erzählen von Alltagsgeschichten. Das Erzählcafé von dem ich spreche ist weder ein «Plaudern» über (Themen oder andere Personen), noch eine Therapie- oder Geschichtsstunde.
Es geht um biografisches Erzählen von Alltagsgeschichten.
Es ist der Qualitätscharta des Netzwerks Erzählcafé Schweiz und damit einer «verantwortlichen Moderation» verpflichtet. Johanna Kohn, Professorin an der Hochschule für Soziale Arbeit Nordwestschweiz, entwickelte diesen Ansatz mit und weiter.[2] Sie betont, dass es erstens bei jedem Anlass eine Entwicklung, einen Spannungsbogen braucht und zweitens das Erzählen freiwillig bleibt, aber das Zuhören Pflicht ist.
Drei Beispiele:
Welchen Beitrag Erzählcafés möglicherweise gesellschaftlich leisten und welche spirituellen Impulse sie geben können, möchte ich hier anhand dreier Beispiele diskutieren.
Erzählcafé zum Thema «Hegen und Pflegen»
Mit Angestellten der Katholischen Kirche führte ich ein Erzählcafé zum Thema «Hegen und Pflegen» im Vorfeld einer Sitzung zum Thema Palliative Care durch. Meine Einstiegsfrage lautete, wen oder was sie denn in ihrer Kindheit gehegt und gepflegt hatten. Erzählt wurde von einer fast vergessenen Schneckensammlung, von den Wellensittichen und Schildkröten, erfüllten und unerfüllten Wünschen nach Tieren. Ins Heute führte der Impuls, wie es aktuell mit Hegen und Pflegen von sich selbst und anderen aussieht. Jemand aus dem Kreis konnte so erzählen, dass es erstmalig gelungen war, eine Orchidee wieder gesundzupflegen.
Erzählcafé zum Thema «Wärme»
Mit einer Gruppe von Pflegerinnen auf einer Station im Spital veranstaltete ich vor Weihnachten das dritte Erzählcafé, dieses Mal zum Thema «Wärme». Die Einstiegsfrage lautete, welches Getränk sie jetzt im Winter am liebsten haben, um sich zu erwärmen. Natürlich gibt es da den Glühwein am Weihnachtsmarkt, aber auch ganz besondere Getränke in anderen kulturellen Räumen, die mit Familienfesten und Ritualen verbunden sind. Auf die Abschlussfrage, was ihnen ihr Herz erwärmt, erzählten sie von besonderen Orten, an denen ihnen das Herz aufgegangen war, ein Meeresstrand in den USA oder ein Hochplateau in Argentinien, von dem aus sie Albatrosse beobachten konnten.
Erzählcafé zum Thema «Von Salz bis Pfeffer»
Das dritte Beispiel ist ein Anlass mit asylsuchenden Frauen, die sich als Gruppe regelmässig in einem kirchlichen Flüchtlingsprojekt treffen. Das Erzählcafé drehte sich um das Thema «Von Salz bis Pfeffer». Anfänglich fragte ich nach der Kochstelle, damit die Frauen aus Iran, Tibet, Ägypten, Peru und der Schweiz je nach Deutschkenntnissen zunächst von verschiedenen Herdformen erzählen konnten. Bei den typischen Gewürzen bemühten sich alle, die richtige Übersetzung zu finden. Schliesslich berichtete eine Schweizerin auf die Frage, wer denn was ganz Typisches in der Küche machte, von dem Waschkorb voller Brotteig, den ihre Mutter jede Woche verarbeitetet hatte. Der Bogen ins Heute war die Frage nach den aktuellen Kochgewohnheiten, und es wurde klar, dass die Frauen ihrem Essen aus der Heimat treu bleiben und es selbst unter grossen Anstrengungen hier kochen, denn Essen schmeckt nach Heimat.
Reflexion der Beispiele
Diese drei Beispiele zeigen einerseits, dass sich das Format Erzählcafé in Gruppenzusammensetzung, zeitlicher Länge, Thema und sprachlichem Niveau flexibel an Gegebenheiten anpassen lässt. Andererseits wird deutlich, dass sich diese Art von Erzählcafés dadurch qualifiziert, dass die Menschen in einem völlig selbstbestimmten Mass von sich, ihren Bildern und Geschichten erzählen. Diese Grenzen schützt und fördert die Moderation. Zweitens ist der Spannungsbogen entscheidend, ob nun zeitlich von damals ins Heute (Hegen und Pflegen) oder inhaltlich von aussen nach innen (Wärme).
Die Menschen erzählen von sich, ihren Bildern und Geschichten.
Mit Hilfe dieser Rahmenbedingungen eröffnet das Erzählcafé einen besonderen Raum «dazwischen», in dem Verbundenheit und Dichte spürbar werden können. Schon dieser Raum der ehrlichen Begegnung stellt eine Chance für die Gesellschaft dar, denn das Erzählen ist ein «miteinander», Geschichten inspirieren sich oft gegenseitig, lassen aber auch Raum für ganz eigenes.
Darüber hinaus sehe ich ein weiteres Potential in der Tiefendimension.
Die Tiefendimension in Erzählcafés
Ich veranstalte diese Erzählcafés als Theologin, ohne den Anspruch zu erheben, dass sich dies thematisch niederschlägt. Die oben beschriebenen Qualitäten von Verbundenheit und Dichte ermöglichen meines Erachtens auch Spiritualität, insofern dieses Erzählen vergessene Schätze ausgräbt und damit nährende Quellen erschliesst. Um im Bild von der Eingangsgeschichte zu bleiben: Ein Spitalaufenthalt bedeutet oft, mit dem Stein «Staub» unterwegs zu sein. Es gibt dagegen kein Zaubermittel; der Stein braucht seinen Platz im Leben, aber ihm können «für Dich» Steine an die Seite gelegt werden.
Manche Menschen schaffen es, sich einen Mantel der Dankbarkeit zu knüpfen.
Diese immer wieder im Alltag zu suchen, lohnt sich, nicht erst beim Eintritt ins Spital. Diese «für Dich» Steine sind wie Perlen, sie sammeln Gutes und Schönes, das einem in kleinen Alltagserlebnissen, manchmal auch mitten im Schmerz geschenkt wird. Manche Menschen schaffen es, sich daraus einen Mantel der Dankbarkeit zu knüpfen, der Schweres nicht ungeschehen macht, ihm aber einen Platz neben anderem gibt. Die Suche nach diesen «für Dich» Steinen will geübt sein. Eben dafür eröffnen Erzählcafés meines Erachtens einen kostbaren Raum und stellen an die Moderation die grosse Herausforderung, die Balance zwischen den beiden Polen zu halten.
Narrativität spielt eine wichtige Rolle im Judentum und im Leben Jesu.
Geschichten und Erzählen, also Narrativität, sind zentraler Bestandteil vieler Religionen und Glaubensrichtungen. Auch im Judentum haben sie tiefe Wurzeln und spielen eine wichtige Rolle im Leben Jesu. Damit sind sie auch heute noch Teil seiner Botschaft und unseres Auftrages. Vielleicht liegt in den Erzählcafés ein Format, das dieses Potential des jüdisch-christlichen Glaubens mit einem menschlichen Bedürfnis verbindet und damit Spiritualität, oraler Tradition und Liturgie einen neuen Raum eröffnet.
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Text und Bild: Dr. Kerstin Rödiger
Sie erzählt gerne biblische Geschichten mit Schwarzenbergfiguren, promovierte in narrativer Sozialethik und übt sich täglich als Spitalseelsorgerin am Universitätsspital Basel (CH) im Zuhören.
Von der Autorin bisher auf feinschwarz.net erschienen:
https://www.feinschwarz.net/jedem-anfang-wohnt-ein-wunder-inne/
[1] Paul Ricoeur erarbeitete eine narrative Theorie in der er diese Pole als biografische Zeit und Sternenzeit benennt. Ricoeur beschäftigte sich auch mit der Bedeutung der Erzählung als Vermittlung zwischen diesen Polen. Vgl. Rödiger, Kerstin: Der Sprung in die Wirklichkeit. Impulse aus dem rhetorischen Ansatz Elisabeth Schüssler Fiorenzas für die Rezeption biblischer Texte in narrativer Sozialethik, Münster 2009.
[2] Sie knüpft an Aaron Antonowsky und der Idee der Salutogenese an.