Kerstin Rödiger berichtet von ihren Erfahrungen mit Tieren und reflektiert darüber, was diese für ihre Spiritualität bedeuten.
Haben Sie einen Hund oder eine Katze? Oder waren sie als Kind ganz begeistert vom Zoo? Vielleicht war Ihnen ein Hamster Gefährte in der Nacht? Auch ich sammelte schon als Kind Tier-Erfahrungen, unternahm mit dem Nachbarhund lange Fahrradausflüge und wollte ein Tierpflegehotel gründen. Nun reite ich seit längerer Zeit regelmässig und durfte Esel näher kennen lernen. Um diese Erfahrungen haben sich Gedanken zu einer „Spiritualität der Tiere“ verdichtet.
1. Erfahrungen
Die Esel
Seit drei Jahren ziehen wir vom Pastoralraum Basel-Stadt mit zwei Eseln und Maria und Joseph an drei Tagen vor Weihnachten durch die Stadt Basel, gleichsam als verlebendigte Weihnachtsgeschichte und Erinnerung an die eigentliche Erzählung hinter dem kommerziellen Trubel und Treiben. Es sind wunderbare Bilder, wenn diese vier Gestalten in Basel über die uralte Mittlere Brücke, über die Tramschienen oder vor den Einkaufsläden vorbeiziehen. Es wirkt wie aus der Zeit gefallen und doch ganz echt, wenn die Esel mit ihrem Gepäck und zwei Gestalten in den alten Kleidern durch die Stadt streifen. Manche lässt das völlig unberührt, bei anderen löst dieses Bild eine grosse Resonanz aus.
wie aus der Zeit gefallen und doch ganz echt
In der Begleitung dieses Geschehens kann man wunderbare Begegnungen beobachten. Einmal kam eine Person aus dem Laden herausgestürmt, um die Esel hingebungsvoll zu streicheln. Sie hatte selbst früher Esel gehalten. Die Asylsuchenden an der Brücke machten etwa 1000 Selfies, denn auch sie haben «zu Hause» Esel. Die Kinder staunten manchmal ehrfürchtig oder knuddelten zutraulich. Auf dem Weihnachtsmarkt unter dem Weihnachtsbaum und beim gemeinsam gesungenen «Stille Nacht» verdichten sich dann Bild und Liedtext durch die Zeiten hindurch.
Die Esel ermöglichen einen direkten Zugang zum Herzen.
Dabei ist aber klar, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, auf Maria und Joseph allein so direkt und zutraulich zuzugehen. Nein, bei «nur» Menschen hält man einen respektvollen bis misstrauischen Abstand. Die Esel aber sind wie eine Brücke für Begegnung, Nähe, Emotionen und auch durch die Zeit hindurch. Eine Frau formulierte es so: Die Esel ermöglichen einen direkten Zugang zum Herzen. Sie lassen alles andere wie den Stress oder auch Bedenken vergessen – die Hand in dieses weiche Fell zu vergraben, das hilft irgendwie, einen Moment glücklich zu sein und zu sich selbst zu finden.
Die Pferde
Ein weiteres Bild, das ich Ihnen vermitteln möchte, liegt noch nicht lange zurück: Es ist ein strahlender Sonnentag, im Galopp dem Meer entlang, durch Salzwasser und Sand. In der Camargue ist dieser Traum für mich möglich geworden. Ich reite regelmässig, und auch im Alltag mit Pferden erlebe ich Aussergewöhnliches. Jedes Reiten (und auch Bodenarbeit) kann viel mehr sein, als auf einem Pferderücken durch die Welt zu schaukeln. Reiten ist Kommunikationstraining, Selbsterfahrung, Vertrauensübung und noch vieles mehr.
Pferde sind sehr sensibel, da sie als Fluchttiere darauf angelegt sind, ihre Umgebung immer wieder auf Gefahren hin zu scannen. Ausserdem sind sie sozial organisiert, das heisst sie suchen als Herdentiere den Kontakt, auch zu Menschen. Noch dazu sind sie sehr gross und wunderschön, ja sogar edel, und von ihnen getragen zu werden veredelt sozusagen den Menschen obendrauf ebenfalls. Ihre Bezauberung hat also viele konkrete Gründe und Facetten.
Kommunikation mit Pferden ist in einer sehr feinen und beinahe mystischen Art und Weise möglich.
Nun interessiert mich aus dieser ganzen Palette besonders die Kommunikation mit den Pferden, die in einer sehr feinen und beinahe mystischen Art und Weise möglich ist. Wenn Pferd und Reiter:in gut kommunizieren, reicht die Anspannung eines Muskels, um die Richtung gemeinsam einzuschlagen, letztlich genügt sogar nur das Bild in meinem Kopf, das sich auf meinen Körper überträgt und so vom Pferd gelesen werden kann.
Wissen, was ich will.
Damit ich mich mit dem Pferd aber auf diese feine Weise verständigen kann, muss ich mir zunächst selbst darüber klar sein, was ich will; dies muss wiederum darauf abgestimmt sein, was ich und das Pferd können, und drittens muss meine Körpersprache dieses Wissen und Wollen in eine Pferdesprache übersetzen. Es ist zum Beispiel für das Pferd natürlich, dem Gewicht zu folgen. Das heisst, wenn ich über den Sitz links mehr belaste, dann folgt es dieser Vorgabe automatisch. Es ist eigentlich ganz leicht. Ich muss nur erst mal wissen, was ich will. Ich muss auch wissen, was ich kann – und was das Pferd kann. Und ich muss die Regeln kennen, die es in der Kommunikation zu befolgen gilt. Dies gelingt umso besser, je weniger Anspannung in meinem Körper herrscht. Und wenn ich weiss, wie ich mein Gewicht verlagern kann. Dazu genügt es, in der Grundhaltung entspannt und ausbalanciert zu sitzen. Im Prinzip ist dies leicht, in der Ausführung dann aber doch recht schwer. Es braucht viel Aufmerksamkeit auf mich und meinen Körper, viel Balance und Klarheit.
Könnte die Grundformel für diese Haltung lauten: Wenn ich ganz bei mir bin, kann ich ganz mit dem Pferd verbunden sein?
Die Vögel
Ein letztes Bild. Hoch über Marseille wacht die Kirche mit ihrer goldenen Figur der «Notre Dame de la Garde» seit uralten Zeiten über die Seefahrer, die Stadt und die Menschen. Als ich die Kirche betrat, fiel mein erster Blick auf die Pfauen unter dem wunderschönen Altarbild.
Ganz prominent stolzieren sie dort umher und erinnerten mich an meine Exerzitien (Tage der Besinnung und Stille). Dort wurden mir die Vögel zu Boten. Ich konnte letztes Jahr noch nicht ganz entschlüsseln wofür. Das ganze Jahr hindurch haben sie mich immer wieder an diese Momente erinnert.
In der Stadt waren es die Spatzen, auf dem Meer die Möwen, hier bei «Notre Dame de la Garde» die Pfauen. Auch in der Bibel begegnen mir die Vögel: Da ist die Taube bei der Erzählung der Arche Noahs und seiner Frau. Da sind die Vögel auf dem Feld in einem Gleichnis Jesu… Sind sie als fliegende Geschöpfe vielleicht Botschafter vom „Mehr“, von dieser Verbindung von nah und fern, oben und unten?
2. Reflexionen
Mir scheint, Tiere sind überhaupt Botschafter und erinnern uns an… ja, an was?
Zunächst einmal zeigen mir die Erfahrungen mit den Eseln und Pferden, dass sie uns an unsere Menschlichkeit erinnern. Oder uns lehren, wie wir ganz Mensch sein können. Über die Begegnung mit ihnen ist ein Zugang zu den Emotionen möglich: die Berührung des weichen Fells, die Erinnerung an Tiere als Gefährten, aber auch ihr wacher Sinn und ihre Intuition. Sie spüren uns manchmal so viel mehr, als wir uns selbst. Schliesslich leben die Tiere immer im Jetzt. Sie wollen jetzt gestreichelt werden – oder nicht, sie wollen jetzt Fressen und jetzt laden sie mich ein, mich so zu spüren, wie es jetzt ist.
So helfen sie mir, ganz bei mir zu sein, weil ganz im Jetzt. Dann kann ich auch ganz bei dir sein, jetzt.
Was meint: „ich bin ganz bei mir“?
Ich bin diesem Satz so ähnlich in einer psychologischen Theorie wieder begegnet. Thomas Harns hat einen Ansatz der «emotionalen ersten Hilfe» für den Lebensanfang entwickelt, in der er Bindungs- und Körpertheorien verbindet. Er hat dabei vor allem das Kommunikationsgeschehen zwischen Eltern und Babys im Blick. Die Kinder fühlen sich sicher, wenn die Mutter (das gleiche gilt auch für den Vater) sich gelassen, klar und sicher fühlt, anders ausgedrückt «ganz bei sich» ist.
Aus dem Bewusstsein meiner Bedürfnisse kann Freiheit erwachsen.
Dieser Zustand ist schwer in Worte zu fassen: Er meint vielleicht eine grosse Bewusstheit der eigenen Bedürfnisse, Anspannungen, Emotionen. Aus diesem Bewusstsein meiner Bedürfnisse kann die Freiheit erwachsen, diese weder negieren noch ihnen ausgeliefert sein zu müssen, sondern sie gestalten zu können. In dieser bewussten Freiheit erwächst dann, so nennt es Thomas Harns, der ganz persönliche Zugang zu einer intuitiven, weil der jeweils individuellen (problematischen) Situation angepasste Lösungsfindung. Diese ist also absolut einmalig, weil genau auf die Situation und die involvierten Personen zugeschnitten. Darin liegt das zentrale «Drehmoment»: In der Verbundenheit mit mir, eröffnen sich Möglichkeiten, in denen Lösungsideen und Vertrauen wachsen können.
Ruach und Intuition
Ist es verrückt, wenn ich diese Haltung und den Zugang zur Intuition mit Spiritualität verbinde? Tatsächlich kreisen meine Gedanken schon lange darum, dass die Ruach, diese uralte Dimension Gottes, auch diesen uralten mystischen Zugang zum eigenen Selbst, zur Welt und zu Gott umfängt und hütet. Bin ich in wacher und vertrauensvoller Präsenz mit mir verbunden, eröffnet sich darin ein Resonanzraum für die göttliche Kraft der Ruach und ich kann mich mit anderen verbinden. Durch das Wirken der Ruach in mir und in jedem Menschen entsteht auch eine Verbundenheit untereinander. Die Ruach wird biblisch mit dem Atem verknüpft, ohne den ich nicht leben kann. Den Atem kann ich beobachten und er verbindet mich, mit allem was lebt, denn wir alle atmen dieselbe Luft oder sind von ihr umgeben. Zu Beginn der Schöpfung – so sagt es das erste Buch der Bibel – schwebte die Ruach als Geist über dem Wasser. Sie ist eine Kraft, die als Wind weht wo sie will, die von Jesus uns als tröstende Kraft geschickt wurde.
Kurz gesagt behaupte ich also, dass Tiere mich zur Ruach führen können.
Gehe ich nun diesen Weg des „ganz bei mir seins“, gelange ich also zu meiner Intuition, die mich mit der eigenen Kraft verbindet: der Kraft, Lösungen zu finden, Ideen zu entwickeln – schöpferisch tätig zu sein, weil ich Neues entwickeln kann. Denn in dieser Kraft bin ich nicht allein, sondern verbunden.
Kurz gesagt behaupte ich also, dass Tiere mich zur Ruach führen können. Weil sie mir im jetzt und hier, über meinen Körper und sinnlichen Wahrnehmungen helfen, mich selbst zu spüren, meine Bedürfnisse, Anspannungen, Emotionen und so mir Zugang gewähren zu meiner Intuition, zu der göttlichen Ruach in mir und für dich.
Ein seltsamer Weg? Übertrieben? Alles etwas verkürzt und zu einfach dargestellt? Wahrscheinlich.
Für mich lohnt es sich, darüber weiter nachzudenken.
Und so möchte ich den Tieren danken.
Ich glaube, Tiere schenken uns eine eigene Möglichkeit, Spiritualität zu erleben und vor allem sie immer wieder als Haltung einzuüben. Weil sie uns Verbindung ermöglichen, Nähe, Zugang zu Emotionen, Wachheit im Augenblick und eine Echtheit, die uns Menschen oft abhandenkommt. So bleiben sie Botschafter für uns.
Und so möchte ich an dieser Stelle den Tieren danken. Für ihr Da-sein, ihre grosse Treue, dass sie uns Menschen tragen, unterstützen, anerkennen. Und helfen, uns selbst und so auch Gott zu finden.
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Hinweise:
Emotionale Erste Hilfe: https://www.emotionelle-erste-hilfe.org/ueber-die-eeh/philosophie/
Schöpfungstheologie: Bieberstein, Klaus; Bechmann, Ulrike: Weisheit im Leiden. Ijobs Ringen und das Lied der Weisheit in Jiob 28, Katholisches Bibelwerk 2007.
Ruach: https://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/die-bibel/glossar/?ruach (19.10.24)
Tiere in der Bibel:
Othmar Keel/Thomas Staubli, Im Schatten deiner Flügel: Tiere in der Bibel und im Alten Orient, Freiburg, Schweiz: Universitätsverlag 2001.
Silvia Schroer, Die Tiere in der Bibel. Eine kulturgeschichtliche Reise, Freiburg 2010.
Dr. Kerstin Rödiger wurde in Deutschland und Brasilien zur Theologin ausgebildet, lebt und arbeitet seit 2002 in der Region Basel, Schweiz. Aktuell ist sie im Universitätsspital Basel in der Spitalseelsorge und im Fachbereich Spiritualität und Bildung der RKK tätig. Sie ritt als Jugendliche gelegentlich, seit etwa 20 Jahren regelmässig, mit Kinderpausen.
Beitragsbild, Fotos im Text und Porträtfoto: © Kerstin Rödiger