Fünf theologische Nachwuchswissenschaftler*innen plädieren unter dem Kürzel „et.al.“ für eine entindividualisierte wissenschaftliche Arbeitsweise, die das Theologietreiben bereichert. Sie werben für den eigenen Wert kooperativer Erkenntnisprozesse und kollektiver Publikationen auch in der Theologie.
Wir haben diesen Text zusammen geschrieben. Währenddessen saßen wir verstreut in ganz Deutschland. Oft haben wir zu ganz unterschiedlichen Zeiten geschrieben. Dennoch sehen wir den gemeinsamen Text nicht als Summe von Einzelteilen, die wir zusammengebaut haben. Welcher Abschnitt, welcher Satz, welches Wort wurde von wem geschrieben? Wir können es nicht (mehr) rekonstruieren. Es war ein längerer Prozess. Wir finden kollektives Schreiben gut, aber das gilt vielleicht nicht für alle Schreibende: Denn die üblichen Vorgaben für Texte mit vielen Verfasser*innen machen einen Teil ihrer Geburtshelfer*innen in der Headline mit einem reputationstechnisch ungünstigen ‚et. al.‘ unkenntlich. Wir schreiben hier als Autor*innenkollektiv bewusst von vornherein unter der Abkürzung ‚et. al.‘.
Öffnung hin zu einer Kollektivierung des theologischen Denkprozesses.
Wir wollen die Wahrnehmung von Texten mit mehreren Urheber*innen bewusst vom Kopf auf viele Füße stellen und dafür werben, dieses ‚et. al.‘ als einladende Öffnung hin zu einer Kollektivierung des theologischen Denkprozesses zu verstehen. Im Folgenden wollen wir teilen, welche Öffnungserfahrungen wir im Rahmen kollektiver Denk- und Schreibprozesse gemacht haben. Sie verweisen auf eine andere, intensive Form des Theologietreibens. Sie setzt auf eine Sichtbarmachung des kollegialen Geneseprozesses. Es geht dann darum, die Expertisen und Ideen der verschiedenen Akteur*innen in einen produktiven Dialog zu bringen. Wir fragen uns, welche theologischen Gedankengänge versanden, die sich in individualisierten Schreibprozessen schlicht nicht Bahn brechen. Denn im konsequent diskursiven Denken erschließen sich völlig neue Konfrontationen, Relativierungen und Korrekturen der individuellen Perspektiven. Sie lösen nicht nur die Schablonenhaftigkeit von Wissenschaftsschulen und Standortpolitiken auf, sondern schaffen auch eine neue Ebene der Kollegialität, die zu beziehungsbasierten und daher wohlwollenden argumentativen Zumutungen führen kann.
1. Anfragen
Wie realistisch und sinnvoll ist so ein kollektives Schreiben in der Praxis? Stecken wir nicht zugleich in eng getakteten zeitlichen Corsagen, die ein permanentes Teamwork schon allein aufgrund des Besprechungsaufwands sprengt? Und was ist eigentlich mit den Bewertungskriterien, die wir an wissenschaftliche Exzellenz anlegen?
Ein Phänomen der modernen Bildungsrevolution
Lange Zeit wäre diesen Fragen wohl mit Überraschung begegnet worden. Ko-Autor*innenschaft ist ein Phänomen der modernen Bildungsrevolution, die ihre Ideale an die individualisierte Subjektautonomie knüpft, während zuvor ganz selbstverständlich kollektive Prozesse des Schreibens, Redigierens und Fortschreibens als Kerngeschäft rhetorischer Praktiken verstanden wurden.[1] Sandro Zanetti bringt die Problematik der Ausblendung dieser Mehrschrittigkeit im Rahmen individualisierter Schreibprogrammatiken zugespitzt auf den Punkt:
„Der ganze Kult um das Genie, wie er in den europäischen Literaturen ab dem 18. Jahrhundert, also historisch spät und außerdem nicht sehr lange boomte, war Ausdruck einer Komplexitätsreduktion, die parallel mit dem aufkommenden Buchmarkt entstand (und die mit dessen Niedergang in andere Felder wie etwa den Film wechselte).”[2] Im Sinne wissenschaftlicher Schreibpraktiken, die der inhaltlichen Komplexität gerecht werden, kündigt sich hier auch eine Revision des Umgangs mit dem Prozess der Textentstehung selbst und den an ihm beteiligten Akteur*innen und institutionellen Settings an.
2. Methodik
Freilich zwingt diese Arbeitsweise zu durchdachten und stringent eingehaltenen Arbeitsprozessen. Die konkreten Abläufe führen zu eigenen Textproduktionen, in denen der Denkprozess über Gesprächsprotokolle, dokumentierte Prozesse der Textbearbeitung und festgelegte Arbeitsschritte und Zuständigkeiten abgestimmt und festgehalten wird.[3] Solche Prozesse brauchen Zeit und kollegiale Absprachen. Zugleich führen sie zu einer völlig neuen Transparenz der Genese von Gedanken und Textfragmenten – die Brüchigkeiten, Abhängigkeiten und Unsicherheiten, verschwinden nicht in den ‘Abstellkammern einzelner Köpfe’, sondern werden dokumentiert und so ganz neu verhandelt.
Formen gemeinsamer Textarbeit
Alle Planung, Stringenz und Aufteilung bedeutet dann aber nicht, dass kollektive Schreibprozesse sich in ein chronologisches und personales Korsett sperren lassen. Im Gegenteil, die Transparenz gedanklicher Prozesse motiviert viel komplexere Vorgehensweisen: Entscheidend ist aus unserer Sicht dabei, dass der Text in seiner Gesamtheit als Produkt des Autor*innenkollektivs verstanden werden kann. Aus diesem Grund ist es nicht zielführend, einzelne Kapitel auf verschiedene Köpfe zu verteilen und die Homogenität des Textes am Ende lediglich durch funktionierende Überleitungen und Glättungen abzusichern. In einem ersten Schritt wird stattdessen ein gemeinsamer Prozess des Brainstormings angeregt, auf den – je nach Thema – eine zeitliche Phase thematisch aufgeteilter Rechercheaufgaben folgen kann. Nach einem durch die Recherche stärker informierten, zweiten Brainstorming beginnt das Verfassen des Fließtextes mit einer Person, die einen Entwurf vorlegt, der nicht ein einzelnes Kapitel fokussiert, sondern bereits – in aller Unabgeschlossenheit und Fragilität – die erste Rohversion darstellt. Im Anschluss wird der ‘Staffelstab’ an die übrigen Beteiligten immer wieder übergeben, die den Text weiterschreiben, umschreiben, kritisch kommentieren, kürzen. Diese Form gemeinsamer Textarbeit ist somit kein chronologischer und separierter Schreibprozess vom Anfang bis zum Ende, sondern ein gemeinsames und gleichberechtigtes Erarbeiten am Gesamt des Textes. Überspitzt formuliert: Kooperative Textgenese ist damit eher mit dem gemeinsamen Bauen eines komplexen Lego-Modells vergleichbar als mit dem Schreibspiel einer Falt- oder Fortsetzungsgeschichte. Der Prozess der Textgenese wird so zum innovativen Ereignis des Theologietreibens.
Von eigenen Eitelkeiten absehende Form der Vernetzung.
Möglich ist diese kollaborative Form des Arbeitens durch technische Formen der Vernetzung mit Videokonferenzplattformen und kollaborationsoffenen Textverarbeitungsprogrammen, die in der Covid19-Zeit einen enormen Aufschwung erlebt haben. Wichtige Voraussetzung für jegliche Form des kollaborativen Schreibens ist eine zuverlässige, transparente und von eigenen Eitelkeiten absehende Form der Vernetzung innerhalb des Autor*innenkollektivs. Gleichzeitig wird die Qualität des Textes darunter leiden, wenn über kontroverse Punkte der harmonische Mantel des Kompromisses gebreitet wird. Aus diesem Grund ist es unverzichtbar, immer wieder in Feedback-Schleifen einzutreten, in denen der stetig weiterwachsende Text einer ständigen kritischen Relecture unterzogen wird. Am Ende geht es dabei auch darum, verschiedene Schreibstile in Einklang zu bringen.
Damit ist zugleich die Frage nach Autor*innenschaft aufgerufen, die sich wie Zanetti anmerkt, „bei kollektiven Produktionsprozessen zunächst vielschichtiger, komplizierter, auch konfliktbehafteter als bei stärker individualisierten Formen künstlerischer bzw. literarischer Hervorbringung und ihrer Autorisierung” darstellen. Jedoch, so weißt Zanetti hin, bietet die „Vielschichtigkeit […] zugleich die Chance, Autorschaft insgesamt, auch mit Blick auf anscheinend weniger kooperative Arbeits- und Produktionsformen, in einem Feld ganz unterschiedlicher, dezidiert heterogener Akteure und Funktionen zu situieren. Methodologisch läge es hier nahe, mit einer Kombination aus Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und Michel Foucaults Überlegungen zu den unterschiedlichen Autorfunktionen zu arbeiten.“[4]
Zukunftsweisende Methodenwerkstatt
Ohne dies hier weiter ausführen zu können, wollen wir mit diesem Verweis verdeutlichen, dass es sich beim kollektiven Schreiben nicht um ein praxisfernes Gedankenexperiment handelt, sondern womöglich um eine zukunftsweisende Methodenwerkstatt des Theologietreibens. Als solche könnte sie Teil eines ‘Kulturwandels’ in der theologischen Landschaft sein, wie er sich gegenwärtig abzeichnet.
3. Perspektiven
Dieser Kulturwandel ist nicht allein von negativen Trends wie den sinkenden Zahlen von Studierenden und Habilitierten auszumachen.[5] Denn womöglich birgt die höchst angespannte Situation auch Potentiale für eine neue Form des Zusammenarbeitens. Das zunächst kontraintuitive Beispiel der Debatte um Kontinentale vs. Analytische Theologie des vergangenen Jahres belegt nicht nur, dass der Ton angesichts der angespannten Lage rauer wird, sondern auch den von allen Involvierten geteilten Wunsch nach einer produktiveren Form des Miteinanderstreitens.[6] Die an der aufgerufenen Debatte Beteiligten werben ja dafür, „dass wir […] nicht nur mit einer Hermeneutik des Dauerverdachts leben können, sondern auch eine Hermeneutik des Wohlwollens und des Übereinstimmens brauchen […]“[7].
Pluralitätsfähiges Gesamtmodell von Theologie
Auch ihnen geht es um „ein Abrüsten epistemischer Wahrheitsansprüche zugunsten eines pluralitätsfähigen Gesamtmodells von Theologie, das auch für den epistemologischen Kernbereich der eigenen Theoriebildung mit einem Deus semper maior rechnet“[8]. Welche “Wege aus der Sackgasse”[9] bietet vor diesem Hintergrund ein kollektives Miteinander, noch dazu wenn sich im Untergrund des individuellen Gegeneinanders persönliche Verwundungen und universitäre Machtfragen befinden? Zukünftig ist eher mit einer noch größeren Informationsflut in allen Wissensbereichen zu rechnen. Eine Arbeitsweise, bei der die Prozesse der Orientierung in den Wissensfluten durch unterschiedliche Expert*innen bereits in vielschichtiger und produktiver Weise miteinander verwoben sind, könnte hier neue Trends setzen.
Dafür steht hier das ‘et. al.’: Wir lesen es nicht als pragmatische Abkürzung, hinter der unsere einzelnen Namen verschwinden, sondern als programmatische Öffnung für eine neue Kultur des Schreibgesprächs.
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Et. al., das sind unabgekürzt die Nachwuchswisseschaftler*innen Cornelia Dockter (Bonn), Felix Fleckenstein (Würzburg), Hannah Judith (Salzburg), Thomas Sojer (Erfurt), Stephan Tautz (München).
Cornelia Dockter, Dr. theol., arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Systematische Theologie unter besonderer Berücksichtigung gesellschaftlicher Herausforderungen an der Universität Bonn
Felix Fleckenstein arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Systematische Theologie der Universität Würzburg.
Hannah Judith ist Mitglied im Doktoratskolleg der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Salzburg.
Thomas Sojer leitet die Bücherei in Hohenems, Vorarlberg. Zusammen mit Jörg Seiler betreibt er die Forschungsstelle Sprachkunst und Religion an der Universität Erfurt, die schwerpunktmäßig mit aktuell entstehender Lyrik im deutschsprachigen Raum arbeitet.
Stephan Tautz, Dr. theol., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft der Kath.-Theol. Fakultät der Universität München.
Foto: Theresa Muth / pixabay.com
[1] Vgl. Claas Morgenroth, Kollaboratives Schreiben, in: Daniel Ehrmann / Thomas Traupmann (Hg.), Kollektives Schreiben (Zur Genealogie des Schreibens 28), Paderborn 2022, 263–281, hier 264f.
[2] Sandro Zanetti, Schreiben, zusammen. Kollektives Schreiben in Theorie und (avantgardistischer) Praxis, in: Daniel Ehrmann / Thomas Traupmann (Hg.), Kollektives Schreiben (Zur Genealogie des Schreibens 28), Paderborn 2022, 50–69, hier: 54.
[3] Vgl. zur Analyse solcher Prozesse und ihrer Effekte im Detail: Kirsten Schindler / Joanna Wolfe, Beyond Single Authors. Organizational Text production as Collaborative Writing, in: Eva-Maria Jakobs / Daniel Perrin (Hg.), Handbook of Writing and Text Production (Handbooks of Applied Linguistics 10), Berlin/Boston 2014, 159–173, hier: 159.
[4] Sandro Zanetti, Schreiben, zusammen. Kollektives Schreiben in Theorie und (avantgardistischer) Praxis, in: Daniel Ehrmann / Thomas Traupmann (Hg.), Kollektives Schreiben (Zur Genealogie des Schreibens 28), Paderborn 2022, 50–69, hier 57.
[5] Vgl. Bernhard Emunds / Marius Retka, Zur Lage des wissenschaftlichen Nachwuchses in der deutschsprachigen Katholischen Theologie, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 63 (2022), 331-380.
[6]Vgl. https://www.feinschwarz.net/?s=Onlinediskussion+der+AG+Dogmatik+und+Fundamentaltheologie, , abgerufen am 25.5.2023.
[7] Thomas Schärtl-Trendel, Analytische Theologie und die Herausforderungen der Zeichen der Zeit“, https://www.feinschwarz.net/analytische-theologie-und-die-herausforderungen-der-zeichen-der-zeit/, abgerufen am 25.5.2023.
[8] Christian Bauer, Theologische Diskursaffekte – und wie weiter?, https://www.feinschwarz.net/wissenschaftliche-affektstrukturen-und-wie-weiter/, , abgerufen am 25.5.2023.
[9] Margit Wasmaier-Sailer, „Wege aus der Sackgasse“, https://www.feinschwarz.net/wege-aus-der-sackgasse/, , abgerufen am 25.5.2023.