Ein Bericht von Sigrid Müller (Wien) über die Jahrestagung 2015 der Vereinigung „Bioethicists in Central Europe“ (BCE) zum Thema: Ethische Aspekte in der Sexualpädagogik im Kindesalter
Neuerungen in der Sexualpädagogik stoßen immer wieder auf Widerstand in Kirchen und christlichen Vereinigungen. Dabei zeigt sich für Europa kein einheitliches Bild. In manchen Ländern ist Sexualpädagogik nach wie vor ein Tabuthema. Deshalb wird weder in der Schule oder Öffentlichkeit, noch in den Familien darüber gesprochen, auch wenn die Mütter diesbezüglich auskunftsfreudiger sind als die Väter. In anderen gibt es bereits einen etablierten Sexualunterricht, der sich von der ersten Schulklasse bis in die Abschlussklassen durchzieht. In Österreich taucht das Thema als Querschnittsaufgabe in verschiedenen Fächern im Schulunterricht auf; oftmals beschränkt sich der Schulunterricht aber auf die Vermittlung bloßer biologischer Fakten, oft auch deshalb, weil sich die Lehrer selbst etwas unwohl bei diesem Thema fühlen. Manche Schulen finanzieren externe Workshops mit SexualpädagogInnen, mit denen diese Themen besprochen werden können.
Warum nun gibt es in manchen Ländern von kirchlicher Seite großen Widerstand gegenüber Sexualpädagogik in der Schule?
Warum nun gibt es in manchen Ländern von kirchlicher Seite großen Widerstand gegenüber Sexualpädagogik in der Schule? Grundsätzlich ist die Katholische Kirche bei Kritik an sexualpädagogischen Einheiten nicht unbedingt immer die Vorreiterin, sondern blickt in der Regel differenzierter auf das Thema als manche andere christliche Gruppierungen insbesondere aus US-amerikanischen christlichen Kirchen. Vielfach ist es einfach Angst, die den Widerstand anstachelt: Angst davor, dass die Eltern ihren Einfluss auf die Sexualerziehung der Kinder verlieren; oder Angst davor, dass Kinder zu früh von außen mit Themen der Sexualität konfrontiert werden („Frühsexualisierung“); oder Angst davor, dass Kinder aufgrund von Aufklärung über geschlechtliche Orientierungen in der Gesellschaft in ihrer persönlichen Geschlechtsidentität erschüttert werden könnten; oder Angst, das Leitbild der Ehe und Familie als Ort für praktizierte Sexualität nicht im Unterricht thematisiert oder durch eine Grundhaltung des „anything goes“ ersetzt zu finden.
Die Tagung der Association of Bioethicists in Central Europe (BCE) hat sich für die aktuelle Jahrestagung dieses Thema gewählt, weil es nicht nur in Österreich aufgrund des kürzlich aktualisierten Grundsatzerlasses zur Sexualpädagogik, sondern auch in zahlreichen Nachbarländern aufgrund von Gender-Diskussionen zu Katastrophenszenarien gekommen ist, in denen es schwierig wurde, sich ein vernünftiges Urteil zu bilden. Aus diesem Grund verfolgte die Tagung das Ziel, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine von Experten unterstützte sachliche Annäherung an das Thema zu ermöglichen. Dazu wurden Kollegen aus dem Bereich der Sexualpädagogik und der Sexualpsychologie eingeladen. Mit großem Einsatz boten diese sowohl einen Überblick über einen zeitgemäßen pädagogischen Zugang zum Thema der Sexualität, als auch über seine mögliche konkrete Umsetzung im Kontext von Kindergarten und Schule (Dr. Karlheinz Valtl, Zentrum für LehrerInnenbildung, Senior Lecturer, Universität Wien, Sexualpädagoge mit Schwerpunkt Bildung und Ausbildung im Bereich Sexualpädagogik). Sie vermittelten außerdem einen Überblick über die sexualpsychologische Entwicklung von der Geburt bis zum Jugendalter und mögliche moraltheologische Implikationen (DDr. Jochen Sautermeister, Universität München/Bonn, Psychologe, Moraltheologe und psychologischer Ehe- und Familienberater). Darüber hinaus führten sie in das Verständnis der Europäischen Sektion der Weltgesundheitsbehörde WHO von Sexualität ein und zeigten mögliche konkrete Umsetzungen derselben in der Praxis (Dipl.-Soz.päd. Olaf Kapella, Institut für Familienforschung, Universität Wien).
Von der ersten Entwicklung des Menschen an ist Sexualität ein bestimmender Faktor.
Eine ganz grundlegende Einsicht, der sich alle Vortragenden verpflichtet wussten, war das Verständnis von Sexualität in einem breiten Sinn. Dieses breite Verständnis von Sexualität lässt sich nicht nur darauf zurückführen, dass der Begriff sich kaum definieren lässt und daher selbst der Erläuterung durch unzählige Aspekte bedarf, sondern vor allem auf die Einsicht, dass Sexualität kein vom Menschsein abtrennbarer Teil ist. Vielmehr ist von der ersten Entwicklung des Menschen an Sexualität ein bestimmender Faktor, der sich vielschichtig von chromosomalen Unterschieden über die Entwicklung der Geschlechtsdrüsen (Gonaden) und die Ausbildung von Geschlechtsorganen sowie den von diesen gesteuerten Hormonhaushalt äußert. Der Mensch lässt sich daher grundsätzlich nur als ein sexuelles Wesen bestimmen.
Ein bedeutsamer Fokus ist dabei die Entwicklung einer Ausdrucksfähigkeit, die es Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen erlaubt, den Intimbereich mit adäquaten Worten sachlich und wertschätzend, nicht aber pejorativ zu benennen.
Eine zweite grundlegende Einsicht war, dass der modernen Sexualpädagogik in Europa dieses breite Verständnis von Sexualität zugrunde liegt und zu einem sehr weiten Spektrum dessen führt, was in diesem Sinne zu sexualpädagogischer Bildung dazu gehört, so z.B. die grundsätzliche Förderung sinnlicher Wahrnehmung (z.B. durch die phantasievolle Gestaltung der Kindergartenjause) ebenso wie die Fähigkeit, eigene Gefühle ausdrücken und die anderer Menschen empathisch wahrnehmen zu können oder fähig zu sein, einen Kuchen partnerschaftlich zu teilen. Ebenso geht es darum zu lernen, anderen Menschen Grenzen zu setzen, wenn diese die Intimitätssphäre verletzen, oder aber jemandem bewusst den Zugang zum eigenen Körper erlauben zu können. Ein bedeutsamer Fokus ist dabei die Entwicklung einer Ausdrucksfähigkeit, die es Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen erlaubt, den Intimbereich mit adäquaten Worten sachlich und wertschätzend, nicht aber pejorativ zu benennen. Oft fällt es den Eltern selbst schwer, darüber zu sprechen, und entsprechend sparen sie beim Spracherwerb ihrer Kinder etwa bei der Benennung der Körperteile gerade Begriffe für sekundäre Geschlechtsmerkmale und den After aus, so dass implizit die Botschaft weitergegeben wird, dass man über diese Körperteile und die Sensorik, die mit diesen verbunden ist, nicht spricht. Wie bedeutsam es ist, über Berührungen auch im Intimbereich sprechen zu können, zeigt sich nicht nur, wenn es zu Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Ehepartnern über die eigene Sexualität und sexuelle Praxis kommt, sondern auch im schlimmen Fall eines sexuellen Übergriffs durch eine andere Person.
Eine Sexualpädagogik, welche die Erlebnisfähigkeit und später auch die Diskurs- und Urteils- sowie die Handlungsfähigkeit von Menschen fördern möchte, muss immer altersgerecht sein.
In Relation zur motorischen, psychologischen, emotionalen und kognitiven Entwicklung des Kindes muss eine Sexualpädagogik, welche die Erlebnisfähigkeit und später auch die Diskurs- und Urteils- sowie die Handlungsfähigkeit von Menschen fördern möchte, immer altersgerecht sein. Ein diesbezügliches Problem wurde mehrfach thematisiert: Erwachsene deuten das Verhalten von Kindern oft aus der Sicht einer Erwachsenensexualität und auf dem Hintergrund der Angst, dass die eigenen Kinder missbraucht werden könnten. Das kann dazu führen, dass altersgemäße Berührungen und Entdeckungen, die Kinder aus eigenem Antrieb am eigenen Körper und am Körper anderer Kinder (meist im familiären Rahmen) machen, mit Argwohn beobachtet werden. Es fällt Erwachsenen schwer, sich in die Wahrnehmungsperspektive von Kindern einzufühlen. Daher besteht auch methodisch eine Schwierigkeit darin, die Entwicklung der Sexualität im Baby- und Kindesalter, die noch nicht kognitiv geprägt ist, sondern von einer Einheit von Wahrnehmungen und Gefühlsäußerungen bestimmt ist, wissenschaftlich präzise zu erfassen.
Die Aufgabe der Sexualpädagogik ist es, Kinder und Jugendliche darin zu begleiten, einen verantwortungsvollen, aber auch selbstbestimmten Umgang mit ihrer Sexualität zu entwickeln.
Die europäische Sexualpädagogik hat sich in den von ihr ausgearbeiteten Standards für Sexualaufklärung in Europa (https://publikationen.sexualaufklaerung.de/cgi-sub/fetch.php?id=734) von Tendenzen gelöst, die in den USA zum Teil noch stark vertreten sind. Diese verstehen Sexualität enger, d.h. im Sinne der genitalen Sexualität, und lehnen daher Sexualität vor der Ehe bzw. Sexualunterricht vor dem reproduktionsfähigen Alter grundsätzlich ab. Da die europäischen Standards zur Sexualpädagogik das Grundprinzips der Altersgemäßheit vertreten, schließen sie ein libertinistisches Verständnis von Sexualität aus, das die Sicht von Erwachsenen auf das Kindesalter übertragen und sexuelle Praxis in jedem Alter gutheißen würde. Dennoch lehnt der europäische Entwurf der Standards auch die „abstinence only“-Bewegung und den „comprehensive approach“ in den USA ab, welcher als einzige Antwort auf die Gefahr sexueller Krankheiten oder ungewollter Schwangerschaften Enthaltsamkeit vorsieht; vielmehr sieht er als Aufgabe der Sexualpädagogik, Kinder und Jugendliche darin zu begleiten, einen verantwortungsvollen, aber auch selbstbestimmten Umgang mit ihrer Sexualität zu entwickeln und so einen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung zu leisten. Dieser Ansatz nennt sich in Unterscheidung von den vorher genannten „Holistic approach“.
Sexualität wird als ein positives Potential des Menschen gesehen.
Die europäischen Vertreter des Ansatzes berufen sich dabei auf das Menschenrecht von Kindern und Jugendlichen auf Information, die beschrieben wird als ein Recht, über kognitive, emotionale, soziale, interaktive und physische Aspekte der Sexualität etwas zu lernen. Sexualität wird als ein positives Potential des Menschen gesehen. Das bedeutet eine grundsätzliche Bejahung der Sexualität und ihrer Sinnperspektiven, die weitgehend mit den vier Sinndimensionen der Lust, Identität/Selbstbestätigung, Beziehung/Bindung und Fortpflanzung/Fruchtbarkeit dargelegt und von manchen Autoren um die Sinndimension der Transzendenz erweitert wird. Im Unterschied zur Position einiger christlicher Kirchen und Gemeinschaften wird sexuelle Aktivität nicht grundsätzlich auf die Institution der Ehe eingeschränkt, sondern an die Werte der Verantwortung für sich und den Partner sowie für die möglichen Folgen des Geschlechtsverkehrs gebunden. Das Leitziel der Sexualpädagogik ist daher die kompetenzorientierte sexuelle Selbstbestimmung. Erforderliche Kompetenzen sind eine Selbstkompetenz, Sachkompetenz, Sozialkompetenz, eine Sprach- und Wertkompetenz. Normen von religiösen Gemeinschaften und Kirchen sowie staatliche Rechte werden ebenfalls in die Diskussion eingebracht.
Damit diese Kompetenzen für den praktischen Umgang hilfreich sein können, sollen sie anhand von Themen, wie z.B. der Menstruation von Mädchen, weder zu früh, d.h. ehe sie altersgerecht sind, noch zu spät angesprochen werden, denn Ziel der Sexualpädagogik ist es zu vermeiden, dass Kinder und Jugendliche ohne vorige Information von der Praxis überrascht werden. Dies erfordert von den Lehrenden über eine professionelle Kompetenz hinaus auch ein gutes Gespür für die sich unterschiedlich rasch entwickelnden pubertierenden Jugendlichen in einer Schulklasse und Sensibilität bei der Behandlung der Themen.
Die Zentralstellung von Eigenständigkeit, Verantwortung und Beziehungsfähigkeit als Haltungen, die bei den Kindern und Jugendlichen gefördert werden sollen, verlangen von den Sexualpädagoginnen und Sexualpädagogen, dass sie nicht wertneutral allem zustimmen, wovon die Jugendlichen berichten, sondern durchaus auch kritisch hinterfragen und zu Prozessen der Selbstkritik anregen. Ein wichtiges Ziel pädagogischen Handelns ist dabei, bei Kindern und Jugendlichen die Einsicht und Haltung zu festigen, dass kein Junge oder Mädchen zu sexuellen Handlungen gedrängt werden darf, die er oder sie nicht möchte, und speziell, dass Gewalt im Bereich der Sexualität keinen Ort haben darf.
Eine Podiumsdiskussion, welche die Runde der Sprecher des Tages um VertreterInnen der Religionspädagogik und Moraltheologie (Dr. Andrea Lehner-Hartmann und Dr. Gerhard Marschütz, beide ProfessorInnen an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien) ergänzte, verband die allgemeinen Informationen mit Anfragen aus der aktuellen Debatte um den Sexualerlass in Österreich.
„Warum ist eine Sexualerziehung in der Schule wichtig?“
„Warum ist eine Sexualerziehung in der Schule wichtig?“, war die einleitende Frage. Unter Hinweis auf die Statistiken konnte festgestellt werden, dass höchstens jedes zweite Kind oder jeder zweite Jugendliche mit deutschen Eltern – und schwieriger noch bei Kindern mit Migrationshintergrund – tatsächlich im Elternhaus über das Thema Sexualität spricht. Auch aufgrund dessen sprechen sich Kinder und Jugendliche mit großer Mehrheit dafür aus, dass es sexualpädagogischen Unterricht in der Schule geben soll, der alle Kinder und Jugendliche erreicht. Sexualpädagogik im umfassenden Sinn kann auch zu Prävention vor sexuellem Missbrauch bzw. zur Sprachfähigkeit, wenn es dazu gekommen ist, beitragen.
Es wurde auch die Frage gestellt, ob die Geschlechtsidentität des Kindes durch Sexualpädagogik in Frage gestellt oder verändert werden könne, beispielsweise durch die Behandlung von Genderfragen, d.h. den gesellschaftlichen Vorstellungen davon, was eine Frau oder einen Mann charakterisiert, oder durch die Aufklärung über Intersexualität, d.h. das Phänomen, dass es aufgrund von Vorgängen der Genetik bei ca. 0,3% der Menschen zu einer nicht eindeutigen Ausprägung der sekundären Geschlechtsmerkmale kommt, oder auch durch die Besprechung homosexueller oder lesbischer Lebensformen. Aus entwicklungspsychologischer Sicht muss, so war die einhellige Auskunft der Experten, eindeutig festgehalten werden, dass die Geschlechtsidentität mit dem zweiten Lebensjahr feststeht und danach selbst bei intersexuellen Kindern nicht mehr rückgängig zu machen ist.
Auch eine Rückfrage zur Bedeutung des sexuellen Missbrauchs wurde gestellt. Eine Kerndimension der Folgen sexuellen Missbrauchs ist der Vertrauensbruch, der durch die Überschreitung einer Intimgrenze durch eine Vertrauensperson entsteht. Dadurch werden eine Unsicherheit und der Verdacht eines möglichen Übergriffs gegenüber jeder intimen Beziehung grundgelegt.
Insgesamt wurde hervorgehoben, wie wichtig es ist, die konkreten Formen der Sexualpädagogik zu kennen, um einen angstfreien und objektiven Zugang gewinnen zu können. Deshalb betonten Vortragende wie TeilnehmerInnen, dass Sexualpädagogik für Kinder und Jugendliche ohne Einbeziehung der Eltern durch vorausgehende und begleitende Information oder gar eigene sexualpädagogische Fortbildungen kontraproduktiv sein kann. Die Einbeziehung der Eltern soll diese ermächtigen, selbst mit ihren Kindern über diese Themen zu sprechen, ohne den eigenen Bildungsauftrag der Schule zu schmälern.
Der Nachmittag war der Diskussion der TeilnehmerInnen untereinander gewidmet. Mit der Methode eines „Weltcafés“ wurden ethische Perspektiven teilweise kontrovers diskutiert: Was kann die Sexualpädagogik zur Missbrauchsprävention beitragen? Was sind die zentralen Werte in der Sexualpädagogik? Welches könnten die Grundlinien einer verantwortlichen kirchlichen Sexualpädagogik sein? Ist die Genderdiskussion an allem schuld?
Sexualpädagogik darf nicht beim kognitiven Vermitteln stehen bleiben, weil es auch um eine Veränderung im Verhalten gehe, für die es Räume der Entwicklung brauche.
Insgesamt wurde der Beitrag der Sexualpädagogik zur Missbrauchsprävention positiv hervorgehoben: Abstand und Nähe selbst bestimmen und „nein“ sagen können wurden als wünschenswerte Ziele festgehalten. Auch die biologisch-medizinische Aufklärung könnte besonders in den mitteleuropäischen Ländern, in denen Sexualität in der Gesellschaft tabuisiert und sexueller Missbrauch wenig thematisiert wird, als positiver Beitrag gewertet werden. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen hoben hervor, dass Sexualpädagogik nicht beim kognitiven Vermitteln stehen bleiben dürfe, weil es auch um eine Veränderung im Verhalten gehe, für die es Räume der Entwicklung brauche. Da Missbrauchshandlungen größtenteils in Familienkontexten erfolgten (obgleich dies oft verschwiegen wird), bedürfe es einer Prophylaxe in allen Schulen und diese dürfe nicht auf den kirchlichen Raum beschränkt werden. Darüber hinaus müssten auch die Medien einen Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Aufklärung leisten. Diskutiert wurde auch darüber, inwiefern nicht Erwachsene in stärkerem Maße Ziel missbrauchspräventiver Maßnahmen sein müssten als Kinder und wie sich die Methoden entsprechend der Zielgruppe unterscheiden müssten. Hervorgehoben wurde die Notwendigkeit, das Thema nicht nur auf den Biologieunterricht zu beschränken, sondern mit mehreren Fächern vernetzt zu arbeiten. Eine offene Frage blieb, auf welche Weltanschauung sich Sexualunterricht beziehen müsse.
Als zentrale Werte der Sexualpädagogik wurde zunächst die Ehrlichkeit hervorgehoben, welche sich auf sich selbst und auf andere richte. Sie sei die Grundlage für ein ehrenwertes Verhalten (honestum). Wichtig sei, dass der Mensch das Maß vorgebe (Johannes Paul II: „Der Mensch ist der Weg der Kirche“). Angefragt wurde, ob dies auch in interreligiöser Perspektive möglich sei oder ob die Verschiedenheiten zu groß seien. Als gemeinsamer Wert wurde gesehen, dass die Menschen auf Beziehung hin orientiert sind. Gefragt wurde auch, inwiefern die Entwicklung von Toleranz zu wirklichem Verstehen und zu Akzeptanz auch zu einer möglichen Übernahme der Werte anderer führen kann. Im Hinblick auf Sexualität wurde die Bedeutung der Verantwortung und der Familie hervorgehoben, die insbesondere Liebe im Sinne von „jemandem Gutes wollen“ (velle alicui bonum) und Vergebung und Versöhnung implizieren. Dafür ist eine Dialogfähigkeit Voraussetzung. Im Umgang mit den vielfältigen Einflüssen auch der Medien bedürfe es sowohl der Ausbildung von Klugheit wie von Vertrauen sowie des Erwerbs einer Medienkompetenz. Die Gruppe hat alle diese Werte unter dem Stichwort der Menschenwürde und der Menschenrechte zusammengefasst, die als zentraler Leitwert der Sexualpädagogik fungieren können. Diese lassen sich in den Prinzipien der Autonomie, des Respekts, des Nicht-Schadens-Prinzips als Mindestanforderung sowie in der wertschätzenden Thematisierung von Sexualität anstelle von Tabuisierung oder Banalisierung entfalten.
Als Ziel wurde formuliert, die vielfach vorherrschende Stummheit zu überwinden, und zu einer wertschätzenden Thematisierung von Sexualität zu gelangen.
Zu den Grundlinien einer verantwortlichen kirchlichen Sexualpädagogik schilderten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die unterschiedlichen institutionellen Voraussetzungen, die von „gar kein Thema in der Schule“ über „teilweise“ bis zu kontinuierlichem Unterricht reichten. So ist in Polen die staatliche Sexualpädagogik in die Erziehung zur Familie eingebettet. Als Ziel wurde formuliert, die vielfach vorherrschende Stummheit zu überwinden, und zu einer wertschätzenden Thematisierung von Sexualität zu gelangen – in der Schule, aber auch bei den Eltern und in der Kirche. Dabei gelte es, die Eltern einzubeziehen und ihre Rechte zu wahren. Kritisch wurde angefragt, was das Ziel der Enttabuisierung sei. Als wichtig wurde angesehen, dass ein offener Raum entsteht, in dem Anliegen und Ängste der Kinder und Jugendlichen Platz finden können. Dieser Raum sollte interdisziplinär gestaltet werden, aber auf der gemeinsamen anthropologischen Grundlage beruhen, dass der Mensch ein sexuelles Lebewesen ist. Es bedarf dann, so das Resultat, bei einer guten Grundlegung der schulischen Sexualpädagogik eigentlich keiner eigenen kirchlichen Sexualerziehung mehr.
Bezüglich der vielfachen Polemiken gegen die so genannte „Genderideologie“ beanstandeten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine mangelnde Eindeutigkeit und mahnten zu einer Versachlichung der oft auf Überinterpretationen aufgebauten Debatten. Tatsächlich werden anhand der Gender-Debatte in unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Aspekte diskutiert, so die Frage, wie man heute Familie definieren soll, ob homosexuelle Lebensweisen heterosexuellen Ehen gleichgestellt werden dürfen oder die Frage, was als „natürlich“ bezeichnet werden könne. In manchen Ländern gebe die Kirche eine so klare Antwort, dass für eine differenzierte Diskussion gar kein Platz mehr bleibe.
Seit 2007 treffen sich die Bioethiker und Bioethikerinnen aus neun mitteleuropäischen Ländern jährlich, um aktuelle bioethische Fragen zu besprechen. Mitglieder der Vereinigung sind vor allem theologische Ethikerinnen und Ethiker aus Mitteleuropa, aber auch Ärzte und Ärztinnen, Juristen und Juristinnen sowie Publizistinnen und Publizisten. Das Thema dieses neunten Treffens soll aus ethischer Perspektive aufgearbeitet werden und als Buch erscheinen.
Sigrid Müller, KTF Wien (sigrid.mueller@univie.ac.at; www.bioethicists.eu)
Bildquelle: 144051_web_R_K_B_by_S.-Hofschlaeger_pixelio.de_.jpg