Das Gemeinwohl ist ein zentrales Prinzip gesellschaftlichen Zusammenlebens. Kurt Remele (Sozialethiker, Graz) hat dazu das Buch „Es geht uns allen besser, wenn es allen besser geht“ (2021) verfasst. Elisabeth Zissler (Wien) mit einer Rezension.
In seinem jüngst erschienenen Buch liefert Kurt Remele, Professor für Ethik und Gesellschaftslehre an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz, einen ansprechenden Diskursbeitrag zur erneuten Auseinandersetzung mit dem Gemeinwohlprinzip.
Das Wohlergehen des Individuums und die Beschaffenheit der Gesellschaft sind stets auf einander zu beziehen.
Gleich zu Beginn seiner Ausführungen liefert Remele Anhaltspunkte, warum es zu einer Wiederentdeckung des Gemeinwohlgedankens in Politik und Ethik gekommen ist: „Weil ungezügelter Kapitalismus und soziokultureller Narzissmus, politischer Nationalismus und digitaler Individualismus zeitgenössischer Gesellschaften teils gefährlich erstarkt sind.“ (9) Entgegen einer ideologischen Instrumentalisierung des Gemeinwohlbegriffs (etwa durch die Verletzung von Menschenrechten) plädiert Remele für eine personenorientierte, menschenfreundliche und zeitgemäße Interpretation und Vermittlung des Gemeinwohlgedankens (9).
Dies bedeutet mitunter, den Gemeinwohlbegriff relational zu fassen, das heißt, das Wohlergehen des Individuums und die Beschaffenheit der Gesellschaft stets auf einander zu beziehen: „Soll mein eigenes Leben glücken, hat das etwas mit mir, meinen Fähigkeiten, meinem Handeln zu tun. Aber das Gelingen des eigenen Lebens hat auch etwas mit anderen und mit dem Gemeinwesen zu tun, in dem ich lebe, weil ich selbst etwas mit anderen zu tun habe.“ (9)
Best practice: Ökumenisches Projekt in Liverpool durch David Sheppard und Derek Worlock.
Ausgehend vom Niedergang Liverpools in der Ära Thatcher wird zunächst in Kapitel I die ökumenische Kooperation zwischen dem anglikanischen Bischof, David Sheppard, und dessen katholischen Amtsbruder, Derek Worlock, beschrieben. Ihr gemeinsamer Einsatz für das Gemeinwohl in der Stadt Liverpool und darüber hinaus (von 1976 bis 1996) wird als Best-Practice-Beispiel im Hinblick auf die Realisierung des Gemeinwohlprinzips sozialethisch reflektiert. Beide Würdenträger mischten sich in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen (Klassen- und Straßenkämpfe) ein und engagierten sich tatkräftig für die sozial Benachteiligten. Remele zufolge haben beide entscheidend dazu beigetragen, dass ein am Gemeinwohl orientiertes gesellschaftliches Handeln in einer Zeit, in der eine (neo)liberale Wirtschaftspolitik das Regierungsprogramm des Vereinigten Königreichs bestimmte, wieder stärker ins Bewusstsein und in den Fokus des kirchlichen und gesellschaftlichen Diskurses rückte (34). Ihr gemeinsames öffentliches Wirken zog in weiterer Folge sozialethische Erklärungen und gesellschaftliche Maßnahmen der britischen Kirchen in den folgenden Jahren und Jahrzehnten nach sich.
Öffentliche Theologie, die sich in die Gesellschaft einmischt.
Drei dahingehend besonders beachtenswerte Initiativen und Projekte werden in Kapitel II näher vorgestellt. Dabei handelt es sich um die beiden Dokumente »Faith in the City« (1985) und »The Common Good and the Catholic Church`s Social Teaching« (1996) sowie um die gemeinnützige Organisation »Together for the Common Good«. Letztere engagiert sich nach wie vor aktiv für das Gemeinwohl im Vereinten Königreich und darüber hinaus (34). Infolge dieser Initiativen wurde das theologisch-ethische Gemeinwohldenken nachhaltig in die britische Öffentlichkeit getragen, sodass sie als Beiträge zu einer „Öffentlichen Theologie“ aufgefasst werden können, die sich in die Gesellschaft einmischt. Den beiden Bischöfen gelang es dabei, das Sozialprinzip des Gemeinwohls in die Praxis zu übersetzen. Sheppard und Worlock gaben zahlreich dazu Anlass, „um gründlicher über die Gemeinwohlverpflichtung von Politik und Staat, Wirtschaft und Wissenschaft, Glaubensgemeinschaften und anderen intermediären Akteuren der Zivilgesellschaft nachzudenken.“ (61) In diesem Sinne liefert ihre Geschichte noch heute zentrale Kriterien für eine theologische Sozialethik und eine Öffentliche Theologie, die gesellschaftlich relevant ist, so Remele (170). Diese bis heute andauernde Relevanz ihres Vermächtnisses im Einsatz für das Gemeinwohl hat Remele entsprechend honoriert, indem er ihre eindrucksvolle Geschichte in seinen Überlegungen zum Gemeinwohl als wiederkehrenden Referenzpunkt heranzieht und sozialethisch reflektiert.
Nach den beiden ökumenischen Kapiteln, wird in Abschnitt III explizit die katholische Perspektive herausgearbeitet, indem auf die katholische Soziallehre und Sozialethik Bezug genommen wird. Im Zuge dessen wird der Versuch unternommen, ein angemessenes Verständnis von Gemeinwohl herauszuarbeiten, was dem Autor auch gelungen ist. Anhand konkreter gesellschaftlicher Krisen der Gegenwart, wie Migration, die COVID-19-Pandemie, Gewalt in der Partnerschaft, gesellschaftliche Gleichheit und Ungleichheit wird dies kontextualisiert veranschaulicht.
Plädoyer für einen erweiterten Gemeinwohlbegriff, der ökologisch-ethische Perspektiven in den Blick nimmt.
Im IV. Kapitel wird schließlich für einen erweiterten Gemeinwohlbegriff plädiert, der ökologisch-ethische Perspektiven in den Blick nimmt, angefangen von der Klimakatastrophe, der Bedeutung der Ökosysteme für das Gemeinwohl bis hin zu tierethischen Überlegungen. Anlassbezogen wird ebenso dargelegt, welche Bedeutung das menschliche Verhalten bei der Ausbreitung der Covid-19-Pandemie hatte, indem etwa Fledermäuse und andere Wildtiere mit entsprechenden Krankheitserregern auf Wildtiermärkten verkauft, als Nahrungsmittel verspeist oder durch Abholzung ihres Lebensraums vertrieben werden (125 f.).
Ausgehend von diesen und weiteren Problemanzeigen (fehlender mitfühlender Naturschutz (135 f.), überbordender Fleischkonsum von empfindungsfähigen Tieren (140 f.) wird mit Blick auf das Gemeinwohl begründet, warum eben „nicht nur der Mensch zählt“ (105). Infolgedessen resümiert Remele: „Es ist also besser für die Menschen und für die Umwelt, keine Tiere zu essen. Für die Tiere selbst ist es auch besser. Es ist besser für das Wohl aller und eines jeden Lebewesen(s). Sich vegan oder zumindest vegetarisch zu ernähren, ist also für viele und vieles von Vorteil: Besser für Tiere. Besser für Menschen. Besser für Umwelt und Klima. Besser für das Wohl aller und eines jeden (schmerzsensiblen) Lebewesen(s). Besser für das Gemeinwohl.“ (143) Wenn also das eigene Leben gelingen soll, ist man auf andere Menschen, auf nicht-menschliche Lebewesen sowie auf intakte Ökosysteme angewiesen.
Im abschließenden V. Kapitel wird das Vermächtnis der Bischöfe Sheppard und Worlock erneut dazu herangezogen, um das Gemeinwohl als gemeinsamen Auftrag in den Blick zu nehmen. Dabei werden zentrale Kriterien angeführt, „wie ein christlicher und kirchlicher Einsatz für das Gemeinwohl in einer pluralistischen Gesellschaft aussehen könnte und sollte.“ (12)
Summa summarum ist das Buch eine empfehlenswerte Lektüre, die aufschlussreich Einblick in die aktuelle Gemeinwohldebatte gibt, diese in einen interessanten Rahmen einbettet und die gegenwärtige Relevanz des Gemeinwohls als ethisches Prinzip klar verdeutlicht.
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Autorin: Elisabeth Zissler ist Post-Doc Assistentin im Fachbereich Sozialethik der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien
Buchangaben: Kurt Remele, Es geht uns allen besser, wenn es allen besser geht. Die ethische Wiederentdeckung des Gemeinwohls, Ostfildern: Grünewald, 2021.