Die seit Anfang 2023 auf Deutsch erstmals vollständig vorliegenden Tagebücher und Briefe von Etty Hillesum geben Einblicke in das Leben und Erleben einer eigenwilligen jungen jüdischen Frau, die in «finsteren Zeiten» in radikaler Ehrlichkeit festhielt, was sie beschäftigte. Die Übersetzerin Christina Siever des über 900 Seiten umfassenden Buches geht der Frage nach, was es im wörtlichen und übertragenen Sinne heisst, Etty Hillesum zu übersetzen.
Die Jüdin Etty Hillesum verfasste von 1941 bis 1943 in Amsterdam ihre Tagebücher auf Niederländisch. Während ihr Gesamtwerk, das in der Originalsprache erstmals 1983 publiziert wurde, bereits seit längerer Zeit in den Sprachen Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch verfügbar war, fehlte eine deutschsprachige Ausgabe ihrer Tagebücher und Briefe. Der emeritierte Theologieprofessor Pierre Bühler, der Herausgeber der Anfang 2023 im Beck Verlag erschienenen deutschsprachigen Gesamtausgabe, hat mir die ehrenvolle Aufgabe übertragen, die Tagebücher ins Deutsche zu übersetzen. Im Folgenden möchte ich von meiner Arbeit als Übersetzerin berichten und darüber hinaus darlegen, inwiefern sich Hillesums Texte auch in die heutige Zeit «übersetzen» lassen.
Bei ihren Texten ging es Hillesum nicht nur um den Inhalt,
sondern auch um die Form, also um den Stil ihrer Texte.
Sie war nicht nur Chronistin ihrer Zeit, sondern wollte auch Schriftstellerin werden. Bedauerlicherweise können wir heute nur ihre Tagebücher und Briefe lesen, denn sie teilte das Schicksal ihres Volkes und wurde in Auschwitz ermordet. Dank ihren Bemühungen um eine angemessene Form sind die Tagebücher in einem literarischen Stil geschrieben, der sich auch während ihres Schreibprozesses entwickelte und den sie auf einer Metaebene immer und immer wieder reflektierte.
Für das Übersetzen war folglich neben dem Inhalt die Form von besonderer Bedeutung. Der deutsche Text sollte die Eigenheiten der Autorin bewahren, ohne zu ausgefallen zu klingen. Denn Hillesum hatte eine unverwechselbare Art, sich auszudrücken, die selbst für niederländische Ohren ungewöhnlich klingt. Charakteristisch für ihren Stil sind sprachliche Bilder und Wortneuschöpfungen. Sie benutzt gerne Personifikationen, wie etwa fröstelnde Schneeglöckchen und Krokusse, die sich «kaputtleben». Würde man lediglich den Inhalt übersetzen, könnte man auch sagen, die Krokusse seien völlig verblüht, doch damit ginge die Personifikation verloren. Wer also die deutschsprachige Übersetzung liest, wird sich vermutlich ab und zu über die aussergewöhnliche Ausdrucksweise wundern, wie im folgenden Satz: «Ja, diese Bäume, ihre Äste hingen nachts manchmal unter der Last der Sternenfrüchte schwer nach unten und nun sind sie bedrohliche Dolchstöße gegen den hellen Frühlingshimmel.»
Auch fanden sich bei Hillesum interessante Wortneuschöpfungen, wie etwa
«Die meisten Menschen sind doch eigentlich zufällige
Durchgangsheime für die großen Gefühle.»
Diese Wendung hat sie vermutlich in Anlehnung an «Durchgangsbaracke» oder «Durchgangslager» gebildet. Wer sich für solche Sprachbilder interessiert, findet im Schlagwortregister unter dem Schlagwort «Bild(er)» am Ende des Gesamtwerks ab S. 976 eine ganze Liste solcher Sprachbilder.
Die genannten Eigenheiten von Hillesums Sprachstil habe ich versucht, im Deutschen nicht zu glätten. Die Schwierigkeit bestand darin, die deutsche Leserschaft nicht allzu sehr zu irritieren. Gelegentlich stiess ich auf Formulierungen, die nicht eins zu eins übersetzbar waren. Beispielsweise bittet sie einmal Gott: «Maar God, geef me, dat ik geen atoompje kracht verspil aan angst of onrust …», was in der Übersetzung zu «Aber Gott, hilf mir, dass ich kein bisschen Kraft an Angst oder Unruhe verschwende …» wurde. Hier ist die wörtliche Entsprechung von «geen atoompje» mit «kein Atömchen» meiner Meinung nach zu ungewöhnlich im Deutschen.
Insbesondere dann, wenn Etty Hillesum über
Alltagssituationen schreibt, entsprechen die Tagebucheinträge
der Textsorte Tagebuch.
Bevor sie Gesprächssequenzen wiedergibt, leitet sie diese beispielsweise mit der niederländischen Formulierung «Zonet tegen S. in een gesprek» ein, die ich im Deutschen elliptisch (also ohne Verb) belassen habe: «Soeben zu S. in einem Gespräch.» Nur selten habe ich etwas ergänzt, wenn mir der Satz ansonsten unverständlich erschien. Eine weitere Besonderheit ihrer Tagebücher ist, dass sich Hillesum oft selbst anspricht. Das Niederländische «je» kann sowohl «du» als auch «man» bedeuten. In längeren Passagen war es mitunter schwierig zu entscheiden, ob sie sich weiterhin selbst anspricht oder allgemeinere Aussagen macht.
Viele Textpassagen, in denen sie sich Gedanken zu den verschiedensten Dingen macht, sind jedoch auch komplex formuliert, wobei der Autorin auch Fehler unterlaufen sind, die ich ebenfalls in der Übersetzung bewahrt habe. So wechselt sie in einem Satz plötzlich die Perspektive. Zuerst spricht sie Julius Spier direkt an, danach jedoch spricht sie in der dritten Person über «seine» Beziehung zu seiner Verlobten Hertha. Entsprechend lautet die deutsche Übersetzung: «Wenn ich eine vollständige Beziehung mit dir eingehen würde, wären der Schaden und die Konflikte, die daraus in seiner Beziehung zu Hertha entstehen würden, größer als die Bereicherung, die unsere Beziehung mit sich bringen könnte.»
Die Existenz der Tagebücher von Etty Hillesum verdanken wir dem soeben genannten deutschen Psychochirologen Julius Spier, der sie zum Schreiben anregte. In den Tagebüchern spiegelt sich wider, dass Hillesum viele Gespräche auf Deutsch führte und auch deutschsprachige Literatur rezipierte. Demzufolge finden sich im Tagebuch zahlreiche Passagen, die bereits im Original auf Deutsch verfasst wurden. In der Gesamtausgabe wurde dabei die Originalschreibweise beibehalten. Die fehlerhafte Syntax im folgenden Beispiel zeigt, dass Etty Hillesum Julias Spier nicht wortwörtlich, sondern dem Sinn nach zitiert: «Sie sind eine Verliebte in den Geist. Aber die Hauptsache ist, daß Sie mich inspirieren bleiben.» Einerseits stimmt hier bei «in den Geist» die Grammatik nicht, andererseits ist «inspirieren bleiben» eine Art Lehnübersetzung, bei der die Struktur des niederländischen Satzes auf den deutschen Satz übertragen wurde. In Bezug auf die Tatsache, dass Hillesum nicht wörtlich zitiert, erläutert sie in einem folgenden Tagebucheintrag:
«Im Nachhinein kann man ein Gespräch nicht aus dem Kopf abfotografieren, man kann versuchen, es nachzubilden.»
Nun liegen Etty Hillesums Texte also auf Deutsch vor und sie lassen sich mühelos auf die heutige Zeit und unser Denken und Leben übertragen. Man denke nur an die Coronazeit mit den Einschränkungen im Alltag. Viele Menschen waren empört darüber, dass ein Teil ihrer persönlichen Freiheit und Rechte eingeschränkt wurde. Wie hätten diese Menschen wohl damals zur Zeit des Nationalsozialismus reagiert, als das Leben jüdischer Menschen drastisch eingeschränkt wurde?
Obwohl ein Leben unter diesen Umständen sehr schwer
gewesen sein muss, erfreute sich Hillesum immer wieder an
kleinen Dingen im Alltag wie beispielsweise Blumen.
Dabei gesteht sie auch ein, dass das Umfeld darauf teilweise befremdet reagierte. Hierin liegt eine bedeutende Erkenntnis für die heutige Zeit: Die eigene Einstellung zu unveränderbaren Umständen ist von immenser Bedeutung. Allerdings ist damit keinesfalls toxische Positivität gemeint, bei der Schwierigkeiten oder Probleme verleugnet oder ignoriert werden.
Hillesum blickte der Realität ungeschönt ins Auge
– sie wusste um die Shoah –
und nahm dennoch die positiven Aspekte ihres Lebens wahr.
Aus heutiger Sicht würden wir sie als resilient bezeichnen, da sie trotz der schrecklichen Umstände gut mit Herausforderungen umgehen konnte. Unter anderem war ihr dies möglich, da sie Dinge auch mit Humor nahm. So schrieb sie am 19. März 1941: «Gerade eben meinen auserwählten Blutkreislauf gemeldet.» Sie spielt dabei auf die «Meldepflicht für Personen mit vollständig oder teilweise jüdischem Blut» an, die aufgrund des Erlasses vom 10. Januar 1941 in Kraft getreten war.
Etty Hillesum kann zweifellos als eine Meisterin der
Selbstreflexion bezeichnet werden.
Sie hegte ein starkes Interesse daran, nicht nur sich selbst, sondern auch andere Menschen besser zu verstehen und sich weiterzuentwickeln. In unserer heutigen hektischen Zeit sollten wir uns ebenfalls bemühen, uns intensiver mit uns selbst auseinanderzusetzen, vielleicht auch mittels Tagebüchern. Hillesum legte grossen Wert auf ihre spirituelle Entwicklung; in der heutigen technologieorientierten, zunehmend hektischen und säkularisierten Welt suchen viele Menschen nach Sinn in ihrem Leben und könnten sich hierbei ein Beispiel an Etty Hillesum nehmen.
Zweifellos war Etty Hillesum eine äusserst moderne Frau, deren Denken für ihre Zeit enorm fortschrittlich und emanzipiert war. Als hochgebildete Frau hegte sie ein leidenschaftliches Interesse an Literatur, Philosophie und Sprachen. In ihren Tagebüchern zeigte sie eine bemerkenswerte emotionale Offenheit, sie reflektierte tiefgründig über ihre Gefühle, Gedanken und inneren Konflikte, was zu ihrer Zeit unkonventionell war. Ihre klare Sicht auf ihre Rolle als Frau in der Gesellschaft zeigte sich darin, dass sie deutlich erklärte, sie wolle oder könne sich in Beziehungsangelegenheiten nicht auf einen einzelnen Mann beschränken.
Natürlich ist dies lediglich meine persönliche Betrachtung von Etty Hillesums Werk. Aufgrund der Vielschichtigkeit ihres Gesamtwerks konnten in diesem Text nur einige Aspekte hervorgehoben werden. Sicherlich lassen sich noch zahlreiche weitere Facetten auf die heutige Zeit übertragen. Die Lektüre ihrer Tagebücher ist zweifellos zeitlos und bietet allen Lesenden die Inspiration, einen positiven Wandel im eigenen Leben und in der Gesellschaft zu bewirken.
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Christina Siever, Dr. phil., Sprachwissenschaftlerin, hat u. a. Salo Mullers Erinnerungen sowie die «Liturgik» von Gerardus van der Leeuw aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt.
Etty Hillesum. Ich will Chronistin dieser Zeit werden. Sämtliche Tagebücher und Briefe 1941-1943. Herausgegeben von Klass A.D. Smelik. Deutsche Ausgabe herausgegeben von Pierre Bühler. Aus dem Niederländischen von Christina Siever und Simone Schroth. Mit einem Vorwort von Hetty Berg, C.H. Beck, München 2023, 989 Seiten.