Am 25.1.2024 wurde die Missbrauchstudie des Forschungsverbundes „ForuM“ zur evangelischen Kirche in Deutschland veröffentlicht. Damit stellen sich Fragen über die Zukunftsfähigkeit der evangelischen Kirche. Ein Kommentar der Pastorin Annette Behnken.
Für die evangelische Kirche ist es ein Beben, für die Nachrichten und den Rest der Welt eine Meldung unter anderen, als am 25. Januar 2024 die Studie des Forscherverbundes ForuM veröffentlicht wird, erarbeitet von Betroffenen und unabhängigen Forscher:innen unter Leitung des hannoverschen Erziehungswissenschaftlers Martin Wazlawik. Die Studie offenbart, wie es Betroffenen von Missbrauch und sexueller Gewalt in der evangelischen Kirche ergangen ist.[1]
Fließender Übergang vom religiösem zum sexuellen Missbrauch
Die Betroffenen sind im Durchschnitt elf Jahre alt, circa zwei Drittel sind Jungen und ein Drittel Mädchen. Die Täter: Fast nur Männer, meist um die vierzig und verheiratet. Etwa 40 % der Täter waren Pfarrer. Die „Pyrotechniker des Herrn“ nennt Dörte Hansen in ihrem Roman „Zur See“ den Typus Pfarrer, der eine toxischen Mischung aus Macht und Charisma mit einem feinen Sensorium für die Sehnsüchte seiner Schäfchen verbindet – der Übergang vom religiösem zum sexuellen Missbrauch verläuft fließend.
Etwa die Hälfte der Täter waren Mehrfachtäter, die immer weiter machen konnten. Weil die, die etwas wussten, geschwiegen haben. Weil Vorgesetzte sie „strafversetzt“ haben, in andere Gemeinden, wo sie weitergemacht haben. Weil den Betroffenen nicht geglaubt wurde. Bis zu acht Mal müssen betroffene Kinder ihre Geschichte erzählen, bis sie auf jemanden treffen, der ihnen glaubt.
Stattdessen wurden Beschuldigte geschützt. Anfängliche Unterstützung wurde abgebrochen, wenn sich nicht an die kirchlich vorgegebenen Abläufe gehalten wurde. Betroffene wurden pathologisiert. Eine proaktive Aufarbeitung von Missbrauchsfällen seitens der Kirche hat es selten gegeben. Vielmehr waren es die Betroffenen selbst, die Aufarbeitung initiierten.
geübt, den Missbrauch zu externalisieren
Die evangelische Kirche jedoch, so die Forscher:innen, ist darin geübt, den Missbrauch zu externalisieren, etwa durch die Darstellung, dass es sich um ein systematisches Problem der katholischen Kirche handele oder durch Projektion in die Vergangenheit. Zwar hätte der Blick auf die Milieus der von sexuellen Tabus geprägten 1950-er Jahre oder die sexualpädagogische Liberalisierung der 1960-er Jahre auch einen Wahrheitsgehalt, doch dienten sie zugleich als Verharmlosungsnarrativ. Die ForuM-Studie attestiert der evangelischen Kirche Harmoniezwang und Konfliktunfähigkeit, die das Vertuschen von Taten ermöglichen
Häufig wurden Betroffene vorschnell mit Wünschen nach Vergebung konfrontiert, ohne dass es eine Auseinandersetzung oder Aufarbeitung gegeben hätte – eine solche Vergebung schont die Täter, die Betroffenen hingegen werden in ihrem Leid im Stich gelassen. Die Rechtfertigungslehre, zentraler Topos evangelischer Frömmigkeit, wird hier aufs seltsamste zu einer Art Generalablass für Täter verdreht. Reue und Schuld, so scheint es, können nicht ausgehalten werden.
gute Anfänge
Immerhin: Die ForuM-Studie wurde von der Evangelischen Kirche in Deutschland in Auftrag gegeben, um in der Aufarbeitung von Missbrauch und sexualisierter Gewalt gezielter weitere Schritte gehen zu können. Erste Schritte wurden bereits getan, Schutzkonzepte erstellt, Fachstellen und Anlaufstellen eingerichtet, Fortbildungen zur Prävention installiert. Das alles sind gute Anfänge. Die föderale Struktur macht es bislang aber schwer, einfache und einheitliche Verfahren einzurichten. Doch haben sich evangelische Kirche und Diakonie bereits auf verbindliche Kriterien und Strukturen zur Aufarbeitung nach überregional vergleichbaren Standards verpflichtet, als sie am 13. Dezember 2023 zusammen mit Kerstin Claus, der Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, die gemeinsame Erklärung zur Aufarbeitung unterschrieben haben. Maßgeblich erarbeitet wurde die Erklärung unter anderem durch Betroffenenvertreter:innen. Darin ist verabredet, dass unabhängige regionale Aufarbeitungskommissionen aufgebaut werden. Es wird weitere Studien geben, weitere Erkenntnisse und weitere Schritte. Prävention wird weiter aufgebaut werden. Transparente Strukturen, einfache Melde- und Ombudsverfahren, einheitliche, verbindliche Interventionsverfahren, Sanktionsmöglichkeiten und Anerkennungsleistungen werden installiert werden.
Fragen nach der Zukunftsfähigkeit der evangelischen Kirche
Die Erkenntnisse der ForuM-Studie werfen Fragen nach dem Selbstverständnis und nicht zuletzt nach der Zukunftsfähigkeit der evangelischen Kirche auf.
Die Studie deckt auf, wie die Überzeugung, „besser“ zu sein als andere Glaubensrichtungen, einen spezifisch „evangelischen Modus der Selbstüberhöhung“[2] erzeuge, der sich, und so ist es in der katholischen Kirche ebenfalls zu beobachten, gegenüber einer als feindlich interpretierten Umwelt abgrenze. Dieses elitäre Selbstbild der evangelischen Kirche als „bessere Kirche“ hält der Kollision mit der beschämenden Realität nicht stand.
Die Kombination von Geschlossenheit und Abhängigkeit schafft Räume, in denen Gewalt gedeihen kann.
Mit der Hochrechnung der in der Studie lückenhaft vorliegenden Zahlen ist klar, dass die evangelische Kirche nicht besser dasteht, als die katholische und wohl alle geschlossen organisierten Systeme, die sich dem Zugriff von außen verschließen und in denen Hierarchien und Machtgefälle, Abhängigkeits- und Vertrauensverhältnisse herrschen. Auch für die evangelische Kirche gilt, wie für alle anderen: Die Kombination von Geschlossenheit und Abhängigkeit schafft Räume, in denen Gewalt gedeihen kann.
Diese strukturelle Gefahr kombiniert sich im kirchlichen Kontext mit einem religiösen Absolutheitsanspruch und Klerikalismus. Armin Nassehi beobachtet eine Immunisierungsstrategie durch Selbstüberhöhung, „die sich daraus speist, dass man sich gegen die Selbstüberhöhung der anderen wendet und sich mit einer Modernitäts-, Pluralitäts- und sogar Demokratiezuschreibung für Selbstzweifel immun macht.“[3]
Das Ideal kirchlicher Geschwisterlichkeit vernebelt den Blick auf Machtkonstellationen.
Das gilt auch für die evangelische Kirche, obwohl sie sich im Sinne des Priestertums aller Gläubigen als antiklerikal versteht. Aber gerade aus dieser Perspektive ist es möglich, Übergriffe weniger als Ausübung von Macht zu interpretieren, sondern stattdessen zielt „die evangelische Selbstzurechnung als liberale Alternative (…) mehr auf das Gewissen und individuelle Entscheidbarkeit und könnte die Dinge eher entsprechend verbrämen.“[4] Dabei vernebelt zusätzlich das Ideal kirchlicher Geschwisterlichkeit den Blick auf Machtkonstellationen.
Es ist Selbstanspruch der Kirche und ihr Auftrag vom Evangelium her, ein safe space zu sein, an dem Menschen geschwisterliche Solidarität und Segen erfahren, Schutzraum und Zufluchtsort, an dem jede:r sicher und geborgen sein, sich öffnen und anvertrauen kann. Ein Ort, an dem man nicht kämpfen muss, um gehört und gesehen zu werden. Die evangelische Kirche hat diesen Auftrag verfehlt, mit jedem Menschen, der in kirchlichem Kontext Missbrauch und sexualisierte Gewalt erleiden musste, mit allem, was Missbrauch ermöglicht, Personen, Strukturen und Netzwerke. Macht, Angst, Bequemlichkeit. Mit jedem Fall, der verschwiegen, vertuscht, bagatellisiert wurde.
Die Vermischung von Beruflichem und Privatem bleibt ein Risikofaktor.
Ausgerechnet das evangelische Pfarrhaus, kulturgeschichtlich als Bildungs- und Kulturort geprägt und überhöht, ist ein Risikoort. Gefährdet sind Angehörige der Pfarrfamilien, Kinder, Pflegekinder und Gäste. In den vergangenen Jahren hat sich durch den Wandel des Pfarrberufes zwar einiges geändert. Aber die Vermischung von Beruflichem und Privatem bleibt ein Risikofaktor, ebenso wie die Rolle des Pfarrers als Vertrauens- und Respektsperson, dem eine hohe theologische und grundsätzliche Deutungskompetenz zugeschrieben wird. All das erleichtert das Grooming, das Anbahnen sexualisierter Gewalt.
Gerade durch die „spezifische Aura der Vertrauenswürdigkeit und moralischen Reinheit“[5] wird der Missbrauch in den Kirchen zum gesellschaftlichen Skandal. Als irritierend wird dabei gelegentlich der Modus des Auftretens mancher evangelischer Kirchenvertreter:innen wahrgenommen, nämlich dort, wo der Eindruck entsteht, man wolle deutlich machen, dass die evangelische Kirche keine „‘Täterorganisation‘ (…), auch nicht nur Beschuldigte, sondern auch noch Seelsorgerin der Versehrten“ [6] sein will. Mindestens die Betroffenen nehmen sehr deutlich wahr und sind aufgrund ihrer Erfahrungen sensibilisiert dafür, wer in welcher Haltung auf sie zugeht. „Mit der ‚ForuM-Studie‘ erhalten die Evangelischen ‚schwarz auf weiß‘, wie ihre ‚Bemühungen um Aufarbeitung‘ bei den Betroffenen tatsächlich wahrgenommen werden. Das sollte jenen zu denken geben, die reflexhaft davon sprechen, Betroffene stünden selbstverständlich ‚im Zentrum‘. Die ‚ForuM-Studie‘ entlarvt dieses Reden als hohles Geschwätz oder mindestens als uneingelöste Willensbekundungen (fast) einer ganzen Generation von evangelischen Kirchenleitenden und Verantwortungsträger:innen“[7].
All das kostet die evangelische Kirche eine Menge Vertrauen und viele Kirchenmitglieder. Und es wird eine Menge Geld kosten. Die Anerkennungsleistungen nehmen niemandem den Schmerz, aber sie erkennen das Leid an – das muss mehr als ein symbolischer Betrag sein und das kann und darf nicht billig sein. Wer moralisch so kurz vorm Bankrott steht, rettet sich nicht, indem er versucht, den finanziellen zu verhindern.
Vielleicht fängt die evangelische Kirche gerade an, die Trümmer ihres Scheiterns zu sortieren.
Nassehi überlegt, ob „die Form des Kirchlichen sich in beiden Konfessionen von einem evolutionären Vorteil in ein Endspiel verwandelt. Vielleicht wird man das nun weniger bedauern als zuvor.“[8]
Vielleicht. Vielleicht aber hat Kirche angesichts des eigenen Scheiterns eine Chance, mehr die zu werden, die sie ihrem Auftrag gemäß sein soll. Das Wort „Scheitern“ stammt aus der Schiffahrt: Ein Schiff, das „scheitert“, zerbricht in viele kleine Teile, Holzscheite und Trümmer. Kirche ist Kirche in der Spannung zwischen Ideal und Realität. Aus dem Scheitern am Ideal kann Erkenntnis wachsen. Vielleicht fängt die evangelische Kirche gerade an, die Trümmer ihres Scheiterns zu sortieren und neu zusammenzusetzen. Nicht, um die bessere Kirche zu sein, aber um eine bessere zu werden, als die, die sie war. Und das, indem sie jetzt nüchtern anerkennt, was ist und das Notwendige tut.
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Annette Behnken ist Pastorin, Studienleiterin an der Evangelischen Akademie Loccum für das Arbeitsfeld „Religiöse Praxis in der Gegenwartskultur“ und Wort-zum-Sonntag-Sprecherin.
Beitragsbild: von Aneta Foubíková auf Pixabay
Autorin-Bild: (C) Patrice Kunte
[1] https://www.forum-studie.de
[2] S. 807, https://www.forum-studie.de
[3] https://kursbuch.online/montagsblock-258/
[4] Ebd.
[5] Ebd.
[6] https://eulemagazin.de/forum-studie-ein-guter-tag-evangelisch-ekd-diakonie-missbrauch-sexualisierte-gewalt/
[7] https://eulemagazin.de/forum-studie-ein-guter-tag-evangelisch-ekd-diakonie-missbrauch-sexualisierte-gewalt/
[8] Ebd.