Gott im Osten? Ostdeutschland ist ein theologisches Zukunftslabor. Christinnen und Christen leben dort als Minderheit in einer nicht nur multireligiösen, sondern auch multisäkularen Gegenwart. feinschwarz.net fragt in einer dreiteiligen Reihe nach, wie dieser gesellschaftliche Kontext die Theologie verändert. Heute berichtet der Theologieprofessor und Dominikaner Ulrich Engel aus Berlin.
Der Osten, so behauptet die Redaktion von feinschwarz.net, sei ein theologisches Zukunftslabor. Wenn das stimmt, müsste so etwas wie eine kontextuelle Theologie für/in Ostdeutschland zu entwickeln sein. Ein solches ambitioniertes theologisches Projekt hätte sich (mindestens) dreifach zu verantworten: gegenüber dem Evangelium, gegenüber der Kirche und gegenüber den „Anderen“. Das gilt, insofern
- alle christliche Theologie ihren Grund und ihre Begründung im Evangelium Jesu Christi findet,
- die Theologie als vernunftgestützte Gottesrede auf die Nachfolgepraxen der Gemeinschaft der Gläubigen – sprich: der Kirche – reflektiert;
- die besondere Herausforderung für alle Glaubens- und Verkündigungspraktiken in Ostdeutschland – einschließlich der dazugehörigen theologischen Reflexionen – gerade in der (zahlenmäßig überproportionalen) Anwesenheit der ‚religiös unmusikalischen‘„Anderen“ besteht.
Belonging without believing – Believing without belonging
Allerdings ist nicht nur den Menschen in Ostdeutschland, sondern dem (post-)modernen Bewusstsein überhaupt die innere Einheit zwischen Glaube und Kirche fragwürdig geworden. Wo einst die Verbindung von Evangelium und Volk Gottes als für das Christentum konstitutiv angesehen wurde, gelten Glaube und Kirchenmitgliedschaft heute vielen durchaus als trennbar. Faktisch ist ein Glaube ohne formale Kirchenzugehörigkeit – „Believing without belonging“ (G. Davie) – genauso anzutreffen wie die umgekehrte Variante eines ‚Belonging without believing‘ (C. Geffré).
Für den ostdeutschen Kontext ist noch eine weitere Großvariante der spätmodernen Ausdifferenzierungsprozesse zu beobachten: die ‚religiös unmusikalischen‘ bzw. religionsinstitutionell ungebundenen „Anderen“ außerhalb der Reichweite kirchlicher Zugriffe. Gerade diesen „Anderen“ bzw. dem Verhältnis der Kirche zu diesen „Anderen“ hat m.E. die Aufmerksamkeit einer Theologie für/in Ostdeutschland vorrangig zu gelten.
Als systematisch-theologische Prolegomena stelle ich drei Thesen zu einer kontextuellen Theologie für/in Ostdeutschland zur Diskussion.
Die Botschaft des Evangeliums
Meine Überlegungen setzen an bei der Differenz zwischen der jesuanischen Reich Gottes-Botschaft auf der einen, vorösterlichen Seite, und der nachösterlichen Evangelien-Verkündigung der christlichen Gemeinde auf der anderen Seite. Natürlich sind beide Aspekte miteinander verbunden; dennoch ist aus gutem theologischen Grund auf der Differenz innerhalb der einen ‚Sache‘ zu beharren.
Etymologisch betrachtet meint das Wort euaggélion „eine Botschaft (-aggélion), die sich als neu erweist, jedes Mal, wenn man sie wirklich hört; eine Botschaft oder Neuigkeit bis dahin ungehörter und immer wieder neuer Güte (eu-).“ (Ch. Theobald)
Alle Menschen ohne Ausnahme
Der faktische Zustand der Welt, die vielerorts von Gewalt und Leid gekennzeichnet ist, straft diese Behauptung allerdings Lügen. Seine Glaubwürdigkeit kann das Evangelium also nicht geschichts- bzw. gesellschaftsimmanent begründen; allein eine Instanz von außen vermag die Gute Nachricht zu beglaubigen. Mk 1,14 bestimmt dieses Außen des Evangeliums in der Formel vom euaggélion tou theou, als Evangelium von und aus Gott. Dabei garantiert die Rückbindung des Evangeliums (euaggélion) an Gott (theos) die Universalität der neuen Nachricht der Güte: Alle Menschen ohne Ausnahme sind von ihr betroffen – Glaubende und Zweifelnde, Halb- und Ungläubige!
Zu verknüpfen ist diese Frohe Botschaft mit den vom Evangelium vorausgesetzten Texten der hebräischen Bibel, nicht zuletzt mit dem ersten Schöpfungsbericht, der – so Theobald – „in einer Art ‚Urevangelium‘ den Blick des Schöpfers auf das, was ‚gut‘, ja ‚sehr gut‘ ist, in Szene setzt.“ (Ch. Theobald) Mit diesem Konnex haben wir es bei dem Glauben, den die Evangelien bei den Hörerinnen und Hörern freisetzen, mit einem „niemals garantierbaren fundamentalen Vertrauensvorschuss“ (Ch. Theobald) zu tun.
In Konsequenz der einschlägigen Hinweise des französischen Linguisten É. Benveniste (1902-1976) könnte man von einer präreligiösen Ausrichtung des glaubensgenerierenden Aktes sprechen. Das meint, dass Jesus mit seinem Evangelium nicht notwendig oder zwangsläufig eine Stellungnahme des/der Angesprochenen sich selbst gegenüber provoziert. Erst die nachösterlich verkündigende Kirche verlangt von den Hörenden, dass sie sich in ein Verhältnis zu Jesus setzen, an ihn glauben, ihn bekennen und somit Teil seiner Nachfolgegemeinschaft werden. „Jesu Verkündigung geschieht umsonst!“ (T, 158) Um dieses „Umsonst“, um die grundsätzliche „Gratuität“ (im Sinne des italienischen Begriffs „gratuità“ mit Unentgeltlichkeit, Kostenfreiheit, Grundlosigkeit, Umsonstheit zu übersetzen) geht es dem von Jesus angesagten Evangelium der Güte.
These 1: Die Verkündigung des Evangeliums gilt ausnahmslos allen Menschen und ist umsonst; die Gute Nachricht verlangt nicht notwendig eine Stellungnahme zur Identität des Verkündigers.
Die Verkündigung der Kirche
Weil und wie Jesus das Evangelium nicht in eigenem Namen bzw. mit dem Ziel der eigenen Selbstbestätigung oder gar -rechtfertigung verkündet hat, sondern authentisch als Nachricht eines anderen: nämlich von und aus Gott, seinem Vater, so kann die Kirche das Evangelium nur in Jesu Namen und in ihm gegenwärtig setzen. Damit wird die gelebte Glaubwürdigkeit der Verkünderin bzw. des Verkünders der Botschaft von der Gratuität zum entscheidenden link zwischen Evangelium und Ekklesia. Das hat Konsequenzen für das Selbstverständnis der Kirche, ist es ihr doch quasi als Grundgesetz gegeben, die Gute Nachricht gratis zu verkünden. Mit Paulus gilt dies sogar noch radikaler, insofern das Evangelium allen Menschen umsonst verkündet werden muss: „Wenn ich […] das Evangelium verkünde, kann ich mich deswegen nicht rühmen; denn ein Zwang liegt auf mir. Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!“ (1 Kor 9,16) Ein solches kirchliches Selbstverständlich samt der Botschaft, die in der Unentgeltlichkeit des personalen Angebots Jesu gründet, ist schwach und bleibt prekär – ohne Frage –, aber sie ist nicht unbedingt machtlos!
These 2: Kirche bewährt sich in der Glaubwürdigkeit, mit der die Gläubigen Jesu Evangelium der Gratuität leben und verkünden.
Das Verhältnis von Evangelium und Kirche zu den „Anderen“
In der markinischen Version lautet die synoptische Formel, welche die jesuanisch verkündigten Gratuität begleitet, so: „…dein Glaube hat dich gerettet.“ (Mk 5,34) Diese (der ihr innenwohnenden Macht durchaus bewusste) Glaubensbestätigung entstammt der Perikope von der Heilung einer blutflüssigen Frau in Mk 5,25-34. Die Frau taucht aus der Menge der Schaulustigen um Jesus auf und – das ist in unserem Zusammenhang bedeutsam – „wird am Schluß wieder in der Menge untertauchen.“ (J. Gnilka) Nichts also deutet hier darauf hin, dass die Menschen, die in ihren Begegnung mit Jesus von Nazaret zu solch rettenden oder heilenden Erfahrungen gekommen sind, notwendigerweise dem Kreis der Jüngerinnen und Jünger – der Kirche – beitreten müssen. Im Gegenteil: „Es scheint eher so zu sein, dass diese Sympathisanten eine eigene Kategorie bilden, mit der sich ‚Jedermann‘ identifizieren kann, ob er nun Jünger Jesu wird oder nicht.“ (Ch. Theobald).
Damit ist in den Evangelien selbst ein Platz für die bzw. der „Anderen“ markiert und auch – zumindest potentiell – als Leerstelle offengehalten. Der Platz der „Anderen“ kann auch jenseits der Kirche liegen. Dann ist er als ‚Heterotopos‘ beschreibbar. Nach M. Foucault (1926-1984) sind Heterotopoi Orte, die es als soziale, gesellschaftliche, religiöse, personale, kulturelle Tatsachen inmitten der Realitäten des Gewohnten gibt und an denen zugleich eine andere Ordnung der Dinge herrscht. Im Gegenüber zur ‚normalen‘ Ordnung der Dinge legen Andersorte verschwiegene, übersehene, verkannte Ausschließungsmechanismen frei, die uns beherrschen. Die ostdeutschen „Anderen“ als Heterotopos erinnern die Kirche daran, dass das Evangelium auch außerhalb ihres ekklesialen Innen einen Platz hat und wirkt.
Wechselbeziehung zu ihren Kontexten
Allerdings darf die hier verwendete Begrifflichkeit von dem Evangelium, der Kirche und den „Anderen“ nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es weder mit einer festgefügten und eindeutig bestimmbaren Identität des Christentums – nicht auf der Seite der Verkündigung, nicht auf der Seite der Rezeption – noch seines ‚religiös unmusikalischen“ Gegenübers zu tun haben. Denn insofern sich sowohl die Ansage als auch das Hören des Evangeliums prozesshaft in einem Beziehungsgeschehen vollziehen, ist die Interpretation der Botschaft einschließlich ihrer medialen Interaktionen notwendigerweise ein geschichtlicher Vorgang. In diesem Sinne steht die der Kirche anvertraute ‚Sache Jesu‘ selbst – ihrem inkarnatorischen Wesen gemäß – immer in Wechselbeziehung zu ihren Kontexten. In Ostdeutschland bedeutet dies: Kirche befindet sich wie Jesus selbst in einem dialektischen Lernprozess, in dem die/der ‚religiös unmusikalische‘ „Andere“ mit ihrer/seiner je eigenen präreligiösen Intuition der christlichen Gemeinschaft etwas Wesentliches über deren Identität als Empfängerin und Verkündigerin des Evangeliums von der Gratuität Gottes mitzuteilen hat – auch wenn sie persönlich nicht das ekklesiale ‚belonging‘ teilen (wollen oder können).
These 3: In den „Anderen“ und ihren präreligiösen Glaubensweisen erfährt die Kirche etwas Wesentliches über ihre eigene Identität und darin über ihren Herrn.
Vgl. Teil 1: Ulrich Engel zu „Gott im Osten“
Vgl. Teil 3: Karlheinz Ruhstorfer – Stirbt Gott schon wieder?