Anne-Kathrin Ostrop lädt Sie alle ein, ganz einfach und konkret daran mitzuarbeiten, dass die Opfer und Überlebenden des Nationalsozialismus nicht vergessen werden. Das Projekt „every name counts“ braucht Ihre Unterstützung. Ein kleiner Ruck mit großer Wirkung.
Vor wenigen Tagen jährte sich zum 80. Mal die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee. 1996 hat der damalige Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar offiziell zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erklärt. Ziel war und ist es, das Andenken der Opfer zu wahren. Alljährlich finden an diesem Tag beeindruckende Veranstaltungen im ganzen Land statt. Nur noch wenige Zeitzeug:innen können von ihren erschütternden Erfahrungen berichten. Umso wichtiger und herausfordernder wird es, die Erinnerung wach zu halten. Wie kann das gelingen? Wie kann Erinnerung an Vergangenes über die Wahrung des Andenkens der Opfer hinaus für heute und morgen zum friedlich-demokratischen Zusammenleben der Menschen beitragen?1 Wie kann erreicht werden, dass – wie die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann es fordert – sowohl an die Opfer gedacht, die Taten bekannt und die Täter:innen benannt werden und sich gleichzeitig die heutigen Menschen in ihrem Herzen, ihrer Seele, ihrem Innersten vom Leid, vom Unrecht und auch der Hoffnung der Opfer berühren lassen?
Das Projekt „every name counts“ kann dazu einen Beitrag leisten, wenn sich möglichst viele Menschen, jung und alt, daran beteiligen. Seine volle Wirkung entfaltet das Projekt, wenn man sich aktiv in dieses digitale Projekt einbringt. Deshalb meine Bitte an Sie, liebe Lesende, werden Sie Teil dieses Projekts. Es ist ganz einfach. Sie müssen nur beginnen, den Cursor Ihres Rechners bewegen und Ihre Finger zum Schreiben weniger Worte und Zahlen benutzen. Mehr nicht.
Bauen Sie mit an einem digitalen Denkmal!
Ins Leben gerufen wurde das Projekt im Jahr 2020 von den Arolsen Archives, die nach ihrem Sitz in Bad Arolsen in der Nähe von Kassel benannt sind. Die Arolsen Archives „sind das internationale Zentrum über NS-Verfolgung mit dem weltweit umfassendsten Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Die Sammlung mit Hinweisen zu rund 17,5 Millionen Menschen gehört zum UNESCO- Weltdokumentenerbe.“ Es wurde kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als International Tracing Service (ITS) gegründet, um den Opfern der NS-Verfolgung und deren Angehörigen mit Hilfe seiner Archive bei der Aufklärung ihres Schicksals zu helfen. Immer noch werden jährlich über 20.000 Suchanfragen gestellt. Neben vielen archivarischen, forschenden und wissenschaftlichen Tätigkeiten widmen sich die Arolsen Archives zunehmend der Vermittlungsarbeit. Dieser Bereich zeichnet sich durch beeindruckende Projekte für Schulen, Gruppen und Einzelpersonen aus.
Beim Projekt „every name counts“ werden Sie Teil eines digitalen Denkmals, das von allen Orten der Welt mit Internetanschluss aus gebaut werden kann. Bisher haben bereits über 252.000 Menschen auf allen Kontinenten am Projekt teilgenommen. Was ist das Ziel? Die ca. 30 Millionen Dokumente, die das Schicksal von 17,5 Millionen Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus belegen, waren ursprünglich auf Karteikarten in Papierform geschrieben. Sie umfassen die Bereiche Inhaftierung, Zwangsarbeit und Displaced Persons und wurden in Konzentrationslagern, Ghettos, Arbeitslagern, Arbeitgeber- und Krankenarchiven etc. erstellt. Nun allerdings ist es wichtig, ein digitales Online-Archiv zu erstellen, um nach Stichworten Informationen über Menschen und ihre Schicksale auffindbar zu machen.
Wie funktioniert’s?
Diese immense Aufgabe wird beim Projekt „every name counts“ an Freiwillige – zum Beispiel an Sie Ihre Schulklasse, Ihre Pfarrei, Ihre Sportgruppe, Ihre Verwandten und Bekannten – übertragen. Nach dem barrierearmen Einloggen erscheint auf der linken Seite Ihres Bildschirms eine Karteikarte. Auf der rechten Seite findet man ein Formular, in das die Teilnehmer:innen das eintragen, was sie auf der Karteikarten lesen. Selbstverständlich gibt es überall Begleitinformationen, um zu begreifen, wer diese Daten eigentlich zu welchem Zweck wo erfasst hat. Vor einigen Monaten konnte ich dabei helfen, Karteikarten von Menschen, die in Konzentrationslager verschleppt worden waren, online-tauglich zu machen. Dabei – um nun zu der oben beschriebenen Wirkung des Projektes zu kommen – war ich unglaublich angerührt von dem Schicksal einer jungen jüdischen Frau, die vermutlich so wie alle ihre Verwandten, die auch auf der Karteikarten vermerkt waren, ermordet wurden.
Warum hat mich dieses eine Schicksal so besonders berührt? Weil diese junge Frau den gleichen Namen wie meine Tochter trug. In meinem Kopf kamen mir viele Fragen entgegen. Was wäre gewesen, wenn wir 80 Jahre früher gelebt hätten? Würde dann dort tatsächlich der Name meiner Tochter stehen? Was hätte ich in ihrer Situation gemacht? Konnte die Frau selbst überhaupt ihr Schicksal beeinflussen? Was muss ich, was muss meine Tochter heute tun, damit politische Verfolgung nicht stattfindet oder zumindest nicht wahrscheinlicher wird?
Zurzeit kann man dabei helfen, die Auswanderungen von Displaced Persons aufzuklären, indem man die Auswandererkartei Bremen online-tauglich macht. Nach dem Zweiten Weltkrieg befanden sich 12 Millionen Menschen außerhalb ihrer Heimat, nachdem sie aus Ghettos, Konzentrationslagern oder Zwangsarbeitslagern entlassen wurden. Viele konnten oder wollten aus Angst vor weiterer Verfolgung oder aufgrund des Todes aller Angehörigen nicht zurück in ihre Herkunftsländer. Viele von ihnen waren in Lagern untergebracht und bestiegen in Bremen Schiffe, um vornehmlich in die USA oder „Palästina“ auszuwandern. Fragen aus den aktuellen Diskussionen über Migration, Flucht, und Asyl drängen sich mir beim Abtippen der Karteikarten auf.
So wirkt ‚every name counts‘:
Das kostenfreie Projekt „every name counts“ eignet sich neben der privaten Beteiligung insbesondere auch für den Unterricht ab Klasse 9. Nach einer inhaltlichen Einführung könnten Schüler:innen im Unterricht, als Hausaufgabe oder in Freistunden am Projekt mitarbeiten und würden die Herrschaft der Nationalsozialisten und die Folgen sicher nicht als „Vogelschiss der Geschichte“2 beschreiben, weil sie die Schicksale der 17 Millionen Einzelpersonen nicht unberührt lassen. „Every name counts“ schafft es, eine niedrigschwellige Selbstwirksamkeitserfahrung zu machen, weil man nicht nur an einem symbolisch-metaphorischen Denkmal mit baut, sondern gemeinsam mit Mitstreiter:innen aus der ganzen Welt eine Institution bei einem großen Vorhaben real unterstützt. Das zunächst schlicht daherkommende Projekt eignet sich ganz hervorragend ins Nachdenken zu kommen und die christlichen Werte in die politischen Situationen der Gegenwart hinein zu formulieren, weil es Fragen aufwirft, Diskussionen ermöglicht und dazu einlädt, sich klar zu werden, was „every name counts“ mit mir heute und in Zukunft zu tun hat. Los geht’s. Klicken und starten! https://everynamecounts.arolsen-archives.org/
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Anne-Katrin Ostrop ist Leiterin des Fachreferats Schulkultur und Schulseelsorge im Erzbistum Berlin, war als Gründerin und Leiterin der Musiktheaterpädagogik über 20 Jahre an der Komischen Oper Berlin tätig. 2004 gründete sie das Institut für Szenische Interpretation von Musik und Theater (ISIM) mit und den Universitätslehrgang Musiktheatervermittlung am Mozarteum in Salzburg.
Bild: Aurelio Schrey
Bild: EveryNameCounts_229_148_fc_KatoUso-pdf.jpg
- In beeindruckender Weise hat darüber die deutsche Anglistin, Ägyptologin, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann geforscht und auch in Zusammenarbeit mit ihrem Mann, Jan Assmann, zahlreiche Bücher dazu veröffentlicht. ↩
- AfD-Vorsitzender Alexander Gauland sagte am 2.6.2018 beim Parteitag der Jungen Alternativen „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“. ↩