Die römische Bildungskongregation hat sich vor kurzem zu Gendertheorien geäußert („Männlich und weiblich schuf er sie“). Maren Behrensen unterzieht das Dokument einer ersten kritischen Analyse.
Das am Pfingstmontag veröffentlichte Dokument „Männlich und weiblich schuf Er sie“ der Kongregation für das Katholische Bildungswesen hat umgehend breite – oft erschütterte und verständnislose – öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Ich möchte hier den Versuch unternehmen, den Text an seinem eigenen Anspruch zu messen – nämlich der „Gendertheorie“ zuzuhören, bevor Urteile über ihren philosophischen Gehalt und ihren sozialen und politischen Einfluss gefällt werden.
Im Abschnitt des Dokuments, der mit „Zuhören“ (Listening) überschrieben ist, findet sich ein kurzer historischer Abriss der philosophischen Grundlagen der „Gendertheorie“ (§§ 8-10) aus der Sicht der Bildungskongregation.
So weit, so gut
In § 8 wird auf „neue anthropologische Theorien“ verwiesen, die ab der Mitte des letzten Jahrhunderts „in einer Reihe von Studien […] die Rolle externer Konditionierung [betonten], inklusive ihres Einflusses auf die Persönlichkeitsentwicklung.“ Und weiter: „Wo solche Studien auf das Themenfeld der menschlichen Sexualität bezogen wurden, geschah dies häufig mit dem Ziel, nachzuweisen, dass sexuelle Identität mehr ein soziales Konstrukt sei, als ein gegebenes natürliches oder biologisches Faktum.“
Namen werden nicht genannt, aber die Zeitangabe lässt vermuten, dass hier behavioristische Theorien gemeint sind – mit B. F. Skinner als wichtigstem Vertreter der Psychologie und John Money als wichtigstem Vertreter der Sexualwissenschaft. Methodische Grundlage des Behaviorismus ist die Deutung von „Verhalten“ als Reaktion auf äußere Reize – die entsprechend Konditionierung zulässt, wie sie etwa bei der Abrichtung von Tieren zur Anwendung kommt. John Money, von dem noch eingehender zu reden sein wird, hat diesen Gedanken der prinzipiellen Formbarkeit menschlicher Identität durch äußere Einflüsse in die moderne Medizin eingeführt – und mit ihm den heute geläufigen Begriff von gender als gelebte Identität und soziale Geschlechterrolle. Von dort hat sich diese Rede von gender – und mit ihr die Unterscheidung von sex und gender – in den Sozialwissenschaften und der Philosophie verbreitet. So weit, so gut.
Eine bloße Karikatur, die niemand vertritt
In § 10 heißt es dann: „Zu Beginn der 1990er Jahre lag [der] Schwerpunkt [der Gendertheorie] auf der Option des Individuums, seine oder ihre sexuellen Neigungen zu bestimmen, ohne auf die […] Komplementarität der Beziehung zwischen Mann und Frau oder das prokreative telos der Sexualität Rücksicht nehmen zu müssen.“ So weit, so erwartbar vatikanisch. Allerdings gibt es keine ernstzunehmende wissenschaftliche Theorie – auch nicht unter den radikalsten Vertreter*innen der „Gendertheorie“ –, die die Position verträte, dass Menschen sich ihre sexuellen Neigungen und ihre sexuelle Identität völlig frei – also ohne jeden Bezug auf existierende Normen und Strukturen – aussuchen könnten. Diese Darstellung der „Gendertheorie“ ist das, was man in philosophischen Kreisen ein Strohpuppenargument nennt – die Gegenposition, die hier attackiert wird, ist eine bloße Karikatur, die niemand wirklich vertritt.
Die Passage lautet weiter: „Darüber hinaus wurde argumentiert, dass man die radikale Trennung von gender und sex aufrechterhalten könne, wobei [gender] Vorrang vor [sex] habe.“ Daraus wird dann in § 11 abgeleitet, dass der „Begriff gender vom subjektiven Empfinden der jeweiligen Person abhängt, die sich ein soziales Geschlecht wählen kann, dass nicht mit ihrem biologischen Geschlecht übereinstimmt, sondern mit der Weise, wie sie von anderen wahrgenommen wird.“ Das ist eine bösartige Verzerrung der tatsächlichen Erfahrungen von trans* Personen, die in der Regel lange darum kämpfen, auch von anderen mit ihrer Geschlechtsidentität wahrgenommen zu werden – und die, wie Fr. James Martin SJ in seiner Antwort auf das Dokument betont, „ihre Geschlechtsidentität nicht wählen, sondern sie durch ihre Erfahrungen als menschliche Wesen in ihrer sozialen Welt entdecken.“
Philosophische Theoriebildung falsch wiedergegeben
Auch der Stand der philosophischen Theoriebildung wird falsch wiedergegeben. Wieder werden keine Namen genannt, aber der Zeitpunkt lässt darauf schließen, dass vor allem die sich in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren entfaltende queer theory gemeint ist, und dabei vor allem Judith Butler. Butler behauptet aber das genaue Gegenteil von dem, was hier unterstellt wird. In ihrem wohl auch außerhalb des Fachpublikums bekanntesten Werk, Gender Trouble, argumentiert sie gegen die Trennung von sex und gender – verbunden mit dem kritischen Aufruf, darauf zu schauen, wie mit den Begriffen „Natur“ und „Biologie“ Politik gemacht und Macht ausgeübt wird. Diese Kritik trifft auch die katholische Kirche, aber damit leugnet Butler nicht die Relevanz unserer körperlichen Existenz für unsere soziale Identität.
Keinesfalls ist Butler der Ansicht, dass man sich mit der Rede von gender über Machtstrukturen erheben und nun selbst der Umwelt seinen Willen aufdrücken könnte. Wir suchen uns kein Geschlecht aus, sondern es ist die Zuordnung zu einem Geschlecht und die Unterwerfung unter die dazugehörigen Erwartungshaltungen, die soziale Identität erst möglich macht. Tatsächlich ist Butler in diesem Punkt – dass Geschlecht Identität erzeugt, und nicht umgekehrt – gar nicht weit von der Position der Bildungskongregation entfernt; allerdings mit dem Unterschied, dass Butler die Geschlechternormen, die uns als Personen formen, kritisch analysiert, während die Bildungskongregation sie als unantastbare, natürliche Wahrheit verabsolutiert.
Butler würde auch zugestehen, dass die Herausbildung der eigenen Identität die Begegnung mit einem Du benötigt, das nicht Ich bin (§ 27) – aber danach fragen, ob die Differenz, die sich darin zeigt, wirklich eine binäre Geschlechterdifferenz sein muss; und ob wir nicht auch die Folgen beachten müssen, die eintreten können, wenn eine solche Differenz absolut gesetzt wird – dass nämlich Menschen, die sich nicht in eine solche Ordnung einfügen können oder wollen, keinen sozialen Ort mehr haben, an dem sie als Personen existieren dürfen.
Existenz zahlreicher Variationen
Was uns zu einer der bemerkenswertesten Passagen des Dokuments führt. In § 24 heißt es, dass die sexuelle Differenz von Männern und Frauen „wissenschaftlich von Disziplinen wie Genetik, Endokrinologie und Neurologie nachgewiesen werden kann.“ Verschwiegen wird, dass gerade die Biologie sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer weiter von der Annahme eines starren Geschlechtsdimorphismus entfernt hat, und sich inzwischen Konzeptionen durchsetzen, die biologisches Geschlecht als multidimensionales Spektrum begreifen, in dem unterschiedliche Faktoren – Chromosomen, Hormone, Keimdrüsen, Umwelteinflüsse – interagieren (hier sei auf die Arbeit von Anne Fausto-Sterling, Jean Roughgarden und Sari van Anders verwiesen). Aus dieser Perspektive ist die folgende Aussage schlicht Vulgärbiologie aus dem letzten Jahrhundert: „Vom Standpunkt der Genetik unterscheiden sich männliche Zellen (die XY Chromosomen enthalten) vom Zeitpunkt der Empfängnis von weiblichen Zellen (mit ihren XX Chromosomen).“ Sie verkennt die Existenz zahlreicher chromosomaler, gonadaler und hormoneller Variationen, die heute unter dem Begriff Intersexualität zusammengefasst werden.
Obwohl das Dokument Intersexualität – zusammen mit der Rede vom dritten Geschlecht – als selbstwidersprüchliche Fiktion abtut (§ 25), findet sich eine Äußerung zu den aktuellen Debatten um dieses Thema (§ 24): „[In solchen] Fällen, wo das Geschlecht einer Person nicht eindeutig bestimmbar ist, kommt es medizinischen Expert*innen zu, therapeutisch einzugreifen. In solchen Situationen dürfen weder die Eltern noch die Gesellschaft eine willkürliche Entscheidung treffen. Stattdessen muss die medizinische Wissenschaft […] auf Grundlage objektiver Parameter und mit dem Ziel, die konstitutive Identität der Person herzustellen, [handeln].“
Machbarkeitswahn der Medizin
Es war der bereits erwähnte John Money, der in den 1960er Jahren am Johns-Hopkins-Krankenhaus in Baltimore ein Forschungsprogramm ins Leben rief, das noch bis heute die medizinische Haltung zu Intersexualität beeinflusst. Money war der Meinung, das kleinen Kindern bis zum Alter von 24 Monaten eine beliebige Geschlechtsidentität (gender) anerzogen werden könnte. Mit diesem Gedanken rechtfertigte er Operationen, bei denen die Geschlechtsorgane gesunder intersexueller Kinder entfernt oder verstümmelt wurden, um ihnen ein weiblicheres oder männlicheres Aussehen zu geben; gefolgt von einem gender training, mit denen den Kindern eine entsprechende Geschlechtsidentität anerzogen werden sollte. Die Folgen dieser Konditionierung waren oft lebenslanges physisches und psychisches Leid für die Betroffenen; Money jedoch behauptete bis zum Ende seines Lebens, dass sein Programm ein voller Erfolg gewesen sei. Obwohl seine Arbeit als Sexualwissenschaftler heute in weiten Teilen diskreditiert ist – vor allem durch die Proteste Betroffener seit den 1990er Jahren – ist die Medizin auch heute noch vielfach auf dem Standpunkt, dass Intersexualität durch chirurgische und pharmakologische Mittel ausradiert werden muss. Ärzt*innen sollen also entscheiden, wer als Mädchen und wer als Junge leben darf – und zu diesem Zweck in die Schöpfung eingreifen.
Es ist tragisch, dass sich die Bildungskongregation in ihrer Ablehnung der „Gendertheorie“ mit einer Medizin gemein macht, die den Machbarkeitswahn, wie ihn gerade die katholische Kirche sonst gerne und oft kritisiert, zur Methode erhoben hat – und zwar auf genau jenen behavioristischen Grundlagen, die angeblich die Verderblichkeit der „Gendertheorie“ erklären.
Autorin: Dr. Maren Behrensen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Christliche Sozialwissenschaften, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Anmerkungen:
- Zitate aus dem Dokument der Bildungskongregation sind durchgängig meine Übersetzungen aus der englischen Version („Male and Female He Created Them“).
- „Gendertheorie“ ist durchgängig in Anführungszeichen gesetzt, um anzuzeigen, dass es „die Gendertheorie“ als einheitliches Theoriegebilde nicht gibt.
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