Welche dogmatischen Impulse setzt Papst Franziskus? Wie sieht die Verwurzelung der Kirche in der Erlösungslehre (Soteriologie) und in der Gotteslehre aus? Markus Weißer (Regensburg) geht in den Texten von Papst Franziskus auf Spurensuche der Kirchenentwicklung.
1. Der Theozentrische Ausgangspunkt
Der eigentliche Kern des Christentums besteht zweifellos in seiner Soteriologie und ist – wo diese nicht einfach nur ex negativo bestimmt, sondern auch inhaltlich positiv gefüllt wird – letztlich sogar identisch mit dem Evangelium selbst, d.h. der frohen Botschaft von der in Jesus Christus bezeugten und durch ihn existentiell realisierten Universalität göttlicher Liebe und Barmherzigkeit, die jeden Menschen unmittelbar anspricht. Die bewegende und verwandelnde Macht dieser liebevollen Selbstzusage Gottes in seinem menschgewordenen Wort ruft uns in die Verantwortung, erweckt den Geist der Zuversicht und drängt hier und jetzt zum Handeln. Die sich aus dieser Liebe Gottes speisende Liebe zu seinen Geschöpfen sieht sich angesichts des Lebens, Sterbens und der Auferweckung Christi zu der Hoffnung berechtigt, dass sie sich nicht im Abgrund der Sinnlosigkeit verliert; sie darf darauf vertrauen, dass auch sie selbst in der Nachfolge Jesu ihre Erfüllung in der ewigen Wirklichkeit Gottes findet. Nach Karl Rahner finden wir Gott aber gerade „in der brutalen, gewöhnlichen, grauen Alltäglichkeit unseres Lebens […] und wir dürfen durchaus sagen, alles Gebet, aller Kult, alles Recht der Kirche, alle Institution der Kirche seien nur dienende Mittel, damit wir das eine tun: Gott und den Nächsten zu lieben, und wir können Gott nicht lieben, als daß wir ihn in unserem Nächsten lieben.“[1]
Wir finden Gott … in der grauen Alltäglichkeit unseres Lebens
Wenn wir also wirklich verstehen, dass das Christentum wesentlich eine Einheit von Gottes- und Nächstenliebe bezeugt (vgl. Mk 12,29 ff.; Mt 25,40; 1 Joh 4,19 ff.) und dies nicht zuletzt deshalb, weil Gott selbst für uns dieser Nächste geworden ist, dann verstehen wir auch, so Rahner, „welch göttlich einfache Sache es doch ist.“ Diese inkarnatorische Struktur des Christentums bedeutet umgekehrt auch, „Menschen glauben, daß Gott ist, weil sie seine Liebe erfahren haben in der Liebe der Seinen zu den Menschen“.[2] Hierin spiegelt sich auch die zentrale Aussage der Kirchenkonstitution des II. Vatikanischen Konzils wieder, denn nach ihrem eigenen Selbstverständnis ist die Kirche bekanntlich ja „gleichsam das Sakrament bzw. Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott und für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1). Auch Papst Franziskus setzt zunächst bei diesem theologischen Zentrum an und erkennt darin den eigentlichen Kern des christlichen Glaubens:
„In Wirklichkeit ist das Zentrum und das Wesen des Glaubens immer dasselbe: der Gott, der seine unermessliche Liebe im gestorbenen und auferstandenen Christus offenbart hat.“ (EG 11)[3]
Unter Verweis auf das II. Vaticanum und dessen Lehre von der „Hierarchie der Wahrheiten“[4] betont er mehrfach mit Nachdruck diesen „grundlegenden Kern“ (EG 36) und beruft sich dabei auch auf seinen Vorgänger, Benedikt XVI. (vgl. EG 7).
Durch die Begegnung oder aber Wiederbegegnung mit dieser Liebe Gottes werde der Mensch aus seiner abgeschotteten Geisteshaltung und Egozentrik erlöst. „Unser volles Menschsein erreichen wir, wenn wir mehr als nur menschlich sind, wenn wir Gott erlauben, uns über uns selbst hinaus zu führen, damit wir zu unserem eigentlicheren Sein gelangen.“ Wer selbst diese Liebe angenommen habe, die ihm den Sinn des Lebens zurückgibt, könne gar nicht anders, als sie mit anderen zu teilen. Denn „jeder Mensch, der eine tiefe Befreiung erfährt, erwirbt eine größere Sensibilität für die Bedürfnisse der anderen.“ (EG 8 f.)
Aus der Quelle dieser befreienden, für andere öffnenden, über uns selbst und unsere eigene Vergänglichkeit hinausführenden Liebe, die uns mit Sinn erfüllt, entspringt also nicht nur die von Franziskus immer wieder betonte Lebensfreude, sondern auch die dienende Dynamik einer Kirche, die in ihrer Heilssorge sensibel sein muss für Umwelt und Mitmenschen.[5]
2. Prioritäten – Aufgabe und sakramentales Wesen einer dienenden Kirche
Hatte schon die Pastoralkonstitution des Konzils programmatisch klargestellt: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi, und es findet sich nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihrem Herz seinen Widerhall fände“ (GS 1) – so wird diese neue (und ursprüngliche) Perspektive der Kirche zur Grundhaltung, aus der heraus sie ihre Mission, ihre Sendung als Dienst am Menschen versteht, der durch die Zuwendung der Jünger/innen Jesu die Zuwendung Christi spüren soll.[6] Der Dienst am Menschen wird zum primären christlichen Gottesdienst. Gerade in der Eucharistie wird dies nachvollziehbar. Denn Jesus selbst übereignet sich und seine gesamte Existenz an den Vater, indem er sich für seine Mitmenschen in Liebe einsetzt und hingibt, damit auch wir diese empfangene Liebe verinnerlichen und dankbar weiter transportieren. (vgl. Röm 12,1 f.; Eph 5,1 f.) Eben diese einst von J. Ratzinger[7] als Exodus des „Für“ charakterisierte christliche Grundhaltung ist immer verbunden mit der glaubenden, hoffenden, liebenden Bereitschaft, sich selbst auf die absolute Zukunft Gottes hin zu transzendieren. K. Rahner erinnert uns angesichts einer solchen Haltung:
„Die Hoffnung auf die absolute Zukunft Gottes, auf das eschatologische Heil, das der absolute Gott selbst ist, ist nicht die Legitimation eines Konservativismus, der – alles versteinernd – angstvoll die sichere Gegenwart einer unbekannten Zukunft vorzieht, nicht das ‚Opium des Volkes‘, das im Gegenwärtigen beruhigt, auch wenn dieses leidvoll ist, sondern die Ermächtigung und der Befehl zu einem immer wieder aufgenommenen, vertrauenden Exodus aus der Gegenwart in die (auch innerweltliche) Zukunft.“[8]
Dieser je neue Exodus bedeutet auch den „Mut, sich in Denken und Tat der unbegreiflichen Unverfügbarkeit anzuvertrauen, die unser Dasein durchwaltet und als dessen offene Zukunft trägt.“[9] Wenn sich die Kirche selbst als pilgerndes Volk Gottes auf ihrem Weg durch die Zeit versteht, dann ist sie mit Abraham, dem Volk Israel, den Jüngern Jesu und mit Jesus selbst unterwegs – dann bewegt auch sie sich auf einem Exodus in die offene Zukunft Gottes hinein, im Vertrauen auf den Geist Gottes, der sie auf den rechten Wegen führen wird, auch wo sie völliges Neuland oder verdorrtes Brachland betreten muss.
Eine Kirche, die … sich nicht aus Liebe ins Unkontrollierbare wagen will, ist tot
Eine Kirche, die jedoch nicht in Bewegung bleibt, sich nicht aus Liebe ins Unkontrollierbare und Unabsehbare wagen will, ist tot, weil sie ihrer Sendung und ihrem dynamischen Wesen nicht gerecht wird. Sie hat daher stets nur die Wahl zwischen Exodus oder Exitus – Weg zu den Menschen oder Kältetod, der eintritt, wo immer sie nicht vom feurigen Geist Gottes beseelt ist, der sie dazu antreibt, auf die Menschen zuzugehen, ihnen (wie gute Hirten) nachzugehen, sie auch im Scheitern und auf Irrwegen noch zu begleiten und nicht allein zu lassen, um neue Wege zu eröffnen.
Wenn die Kirche selbst in analoger Weise als Repräsentation und „Leib“ Christi in ihrer kommunialen Struktur den Menschen heute eine für sie heilsrelevante Begegnung mit Christus – mit Gottes Wort selbst – ermöglichen und vermitteln soll, dann müssen alle ihre Handlungen, Normen und konkreten Vollzüge zuletzt an dieser ihrer wesenhaften Bestimmung, Existenzberechtigung und heilsgeschichtlichen Notwendigkeit gemessen und im Zweifelsfall neu ausgerichtet werden. Nur so ist sie in der Lage, das menschgewordene Wort Gottes auch in dieser Zeit präsent werden zu lassen. Nur wo die Kirche auf Christus hin transparent bleibt, darf sie sich als heilig verstehen und nur wo sie unter Wahrung ihrer universalen Sendung in vielfältiger Einheit ihre Identität und Kontinuität bewahrt, kann sie sich weiter auf Christus berufen. Diese Kontinuität besteht aber gemäß ihrem eigenen Zeugnis und der Institution ihrer Sakramente primär in der sinnlich erfahrbaren Vermittlung der Zuwendung Gottes zum Menschen. Wenn dies ihre oberste Maxime ist und, dogmatisch gesehen, sein muss, dann bleibt sie herausgefordert, neue Wege zu erschließen und selbst zu beschreiten, um das Evangelium in neuen Situationen[10] und unter veränderten Umständen zumindest in seinem Kern bezeugen zu können.
Durch die ebenso schnelle wie selektive Wahrnehmung der heutigen Medienwelt sei die Botschaft der Kirche, so Franziskus, mehr denn je in Gefahr, auf zweitrangige Aspekte reduziert und verstümmelt zu werden. Einige Fragen ihrer Morallehre würden so aus dem Zusammenhang gerissen. „Das größte Problem entsteht, wenn die Botschaft, die wir verkünden, dann mit diesen zweitrangigen Aspekten gleichgesetzt wird, die, obwohl sie relevant sind, für sich allein nicht das Eigentliche der Botschaft Jesu Christi ausdrücken.“ Man solle realistisch sein und nicht davon ausgehen, dass die Gesprächspartner den gesamten Hintergrund dessen kennen, was man sagt, oder dass sie diese Worte mit dem wesentlichen Kern des Evangeliums verbinden können, der ihnen Sinn verleiht. „Eine Seelsorge unter missionarischem Gesichtspunkt steht nicht unter dem Zwang der zusammenhanglosen Vermittlung einer Vielzahl von Lehren, die man durch unnachgiebige Beharrlichkeit aufzudrängen sucht.“ (EG 34 f.)
Diese programmatische Ausrichtung der gesamten Kirche an ihrer Mission, d.h. an der für sie selbst wesenskonstitutiven Sendung, wird gestützt durch das vergleichsweise selten beachtete und immerhin in der Quellensammlung von Denzinger/Hünermann gar nicht berücksichtigte[11] Dekret des II. Vaticanum über die Missionstätigkeit der Kirche Ad gentes (AG), das aus dem dogmatischen Selbstverständnis der Kirche – wie es in Lumen gentium entfaltet wird – spannende Perspektiven für das kirchliche Handeln erschließt.
3. Die Mission der Kirche – Flexibilität und Dialog
In deutlichem Bezug auf die Kirchenkonstitution wird die Sakramentalität der Kirche betont, deren Aufgabe darin besteht, „dem Heil und der Erneuerung aller Kreatur zu dienen“ und so allen Menschen das Evangelium zu verkündigen. (AG 1) Die pilgernde Kirche sei ihrem Wesen nach „missionarisch“, d.h. als Gesandte unterwegs und entspringe selbst der Sendung des Sohnes und des Heiligen Geistes durch den Vater. (AG 2)
Auch wenn diese Sendung ihrem Wesen nach stets ein und dieselbe ist, hängen Umsetzung und Vermittelbarkeit des Evangeliums stets von den konkreten Rahmenbedingungen ab, die es sensibel und flexibel mit geeigneten Mitteln zu berücksichtigen gilt. Man kann nicht davon sprechen, dass die Kirche schon bzw. noch verwirklicht sei oder eben nicht, da es bei der Berührung mit dem Evangelium und seiner Durchdringung der Menschen, Gemeinschaften und Völker verschiedene „Stufen“ und fließend durchlässige Zustände gebe, die alle in die katholische Einheit integriert werden. (AG 6)
Das klar formulierte Ziel ist die Evangelisierung und die damit verbundene „Einpflanzung“ der Zeugnis ablegenden Kirche bei den Völkern und Gemeinschaften, die motiviert ist durch den universalen Heilswillen Gottes und dessen Zuwendung in Jesus Christus, welche an alle Menschen herangetragen werden soll (AG 7).
Die Notwendigkeit von Kirche besteht zunächst in ihrer Mission
So besteht auch die Notwendigkeit von Kirche zunächst in ihrer Mission. Denn der Heils- und Schöpfungsplan Gottes werde erfüllt, wenn alle Menschen sagen können: „Vater unser“. Damit wird die theozentrische Ausrichtung der Kirche erneut deutlich, sofern sie sich im eucharistischen Opfer mit Christus auf dem Weg zum Vater befindet. (AG 15) Sie muss daher, auch wo sie ihre Botschaft und Lehre noch nicht – oder nicht mehr – voll entfalten kann, je nach Möglichkeit einen je volleren Zugang zu Gott durch die Vermittlung der Begegnung mit Christus eröffnen oder offenhalten.
„Die Jünger Christi hoffen, durch die enge Verbindung mit den Menschen in ihrem Leben und Arbeiten ein wahres Zeugnis abzulegen und auch da zu deren Heil beizutragen, wo sie Christus nicht ganz verkünden können.“ (AG 12)
Jede Form von Zwang zum Glauben, Beeinflussung oder Anlockung durch ungehörige Mittel werden streng verboten (AG 13). Kirche darf wie Christus selbst niemals auf ihren eigenen Vorteil bedacht sein, sondern muss, so kann man wohl sagen, permanent in der Haltung einer eucharistischen Proexistenz leben.
„Die christliche Liebe erstreckt sich auf alle, ohne Unterschied von Rasse, gesellschaftlicher Stufe oder Religion; sie erwartet nicht Gewinn oder Dankbarkeit; denn wie Gott sich uns mit ungeschuldeter Liebe zugewandt hat, so sind auch die Gläubigen in ihrer Liebe auf den Menschen selbst bedacht und lieben ihn mit der gleichen Zuwendung, mit der Gott den Menschen gesucht hat.“ In der Nachfolge Christi sei die Kirche durch ihre Kinder mit allen Menschen verbunden, besonders mit Armen und Leidenden. Sie teile ihre Freuden und Schmerzen, leide mit in ihren Ängsten. (AG 12)
Hier zeigen sich deutliche Parallelen zur Pastoralkonstitution. Aus der theoretischen Nähe zu den Menschen muss allerdings eine lebenspraktische Anknüpfung an deren je verschiedene Lebensweise und Situation entspringen. In jedem sozio-kulturellen Großraum müsse die theologische Besinnung angespornt werden, um durch immer neue Erforschung der Schrift und der Tradition der Gesamtkirche einen Einklang der verschiedenen Gepflogenheiten und Lebensauffassungen mit dem Ethos der Offenbarung zu erlangen. Diese vielstimmige Harmonie ist Grundlage apostolischer Katholizität.
„Von da öffnen sich Wege zu einer tieferen Anpassung [aptationem] im Gesamtbereich des christlichen Lebens.“ (AG 22; vgl. GS 44)
Man darf solches „Anpassen“ (accomodare) keineswegs als relativistische und sich anbiedernde Preisgabe des Evangeliums missverstehen, denn dieses bleibt in seinem Wesenskern ja immer dasselbe: die Zuwendung Gottes in Jesus Christus, der uns durch seinen Geist in die Nachfolge ruft.
Eben diesen eingangs entfalteten Kern gilt es durch „Inkulturation“[12] je aktuell zum Leuchten zu bringen. Ch. Theobald spricht hier von der „prinzipiellen Relationalität der Frohbotschaft. Es gibt keine Verkündigung des Evangeliums Gottes ohne Einbeziehung des Adressaten; genauer gesagt: das, um was es in der Verkündigung geht, ist im Adressaten bereits am Werk, sodass er bzw. sie es in Freiheit annehmen kann.“[13] Diese Sensibilität für situative Kontexte nimmt somit die Adressaten des Evangeliums, die Hörer des Wortes zum Ausgangspunkt des eigenen Hörens und Verkündigens. Kirche entsteht daher immer aus „singulären“ Glaubensbegegnungen. Jede Begegnung mit Christus ist und bleibt so eine subjektive Begegnung mit verschiedenen Voraussetzungen und lebensgeschichtlichen Konsequenzen. Für einen Juden gestaltete und entfaltete sie sich anders als für einen Griechen oder Römer. Für einen Sünder wird die Begegnung oder Wiederbegegnung anders aussehen müssen als für den vermeintlich Frommen. Aufgabe der Kirche ist es, die Begegnung je neu sakramental zu initialisieren – nicht deren Ergebnis und durch Gottes Gnade getragene Entwicklung selbst zu präjudizieren. Alle Glieder und auch die Ämter der Kirche sind, wie Papst Franziskus eindrücklich schreibt, Vermittler und nicht Kontrolleure der Gnade Christi (vgl. EG 47). Kirche muss geduldig begleiten und ihrem Ursprung aus der offenen Seitenwunde Jesu treu bleiben, um so seine Barmherzigkeit bezeugen zu können. Sie muss tradieren, übersetzen, Werte und Ideale am Maßstab Christi orientieren; sie hat in ihren bekannten und anonymen Heiligen leuchtende Sternstunden ihrer Sendung – umfasst und integriert in ihrer Katholizität aber auch die dunklen Momente und muss sündhaftes Scheitern ebenso wie menschliche Schwäche anerkennen. Sie darf sich nicht als selbstgerechte Elite verstehen und hat Novatianern und Donatisten vehement getrotzt.
Eucharistie ist nicht die Belohnung für die besonders Frommen, sondern Heilmittel für die Kranken
Sie muss sich selbst und alle ihre Glieder als Sünder wahrnehmen. Deshalb ist die Eucharistie auch nicht die Belohnung für die besonders Frommen, sondern Heilmittel[14] – Begegnung mit Christus – für die Kranken. Wo nur die Sündenlosen zur Begegnung mit ihm zugelassen werden, wird Jesus nicht authentisch vermittelt (vgl. Mk 2,17) und dort müsste die Kirche leer bleiben, weil alle Sünder sind (1 Joh 1,8 ff.). Darf sich die Begegnung mit Christus im Sakrament des Altares nur daran entscheiden, wer am Türsteher und seiner Schlüsselgewalt vorbeikommt, wenn Christus selbst die Türe ist, die allen Menschen offen steht? (Joh 10,9) Deshalb ist es gut nachvollziehbar, wenn Papst Franziskus eine Kirche mit „offenen Türen“, vor allem jedoch mit „offenen Herzen“ fordert.[15] Eine offene und dienende Kirche muss dann auch den Lebenssituationen ihrer Adressaten Rechnung tragen, indem sie ihnen dort begegnet, wo sie gerade stehen. Sie darf nicht warten, bis etwa diese Adressaten zu ihr kommen. Wenn Kirche-Sein wesentlich Exodus bedeutet, dann muss sie sich zuerst bewegen und in Liebe auf sie zugehen, sie vielleicht sogar auf ihren Abwegen begleiten und, wenn nicht anders möglich, die Reinheitsgebote brechen und sich selbst schmutzig machen, so wie sich auch Christus für uns „zur Sünde“ machen ließ, um sie zu überwinden. (vgl. 2 Kor 5,19 ff.)
Speziell für den mitteleuropäischen Kontext, der erneut ins Blickfeld der kirchlichen Mission und Neuevangelisierung rückt, bedeutet dies aber auch die missionarisch-sensible Anpassung im Umgang mit der Vermittlung des – in sich – unveränderlichen Evangeliums. Offensichtlich wurde dies schon vor 50 Jahren durch die Konzilsväter in prophetischer Weitsicht erkannt: Sobald die Gemeinschaften, in denen die Kirche besteht, sich verändern, entstehen auch neue Bedingungen, welche die missionarische Tätigkeit der Kirche neu herausfordern. Wo es nicht möglich ist, „die Botschaft des Evangeliums direkt und sofort vorzulegen“, könne und müsse man „geduldig, klug und zugleich mit großem Vertrauen wenigstens Zeugnis ablegen für die Liebe und Güte Christi und so dem Herrn die Wege bereiten und ihn in gewissem Sinn gegenwärtig werden lassen.“ (AG 6)
Die flexible Reaktion auf regionale bzw. pastorale Erfordernisse meint daher keinesfalls einen Bruch mit der sichtbaren Einheit der Gesamtkirche, sondern konstituiert diese vielmehr aus ihren Gliedern. Deshalb spricht der Papst von einer „heilsamen Dezentralisierung“ (EG 16; 32) der Kirche, die nicht einfach unveränderlich fest steht, sondern sich als Sakrament dynamisch aktualisiert und im jeweiligen Kontext realisiert, um sakramental subsistieren zu können. Die Kontinuität und Identität der Kirche wird ja nicht durch sie selbst als fester „Besitz“ verbürgt und gesichert, sondern durch den Geist Gottes in Gnade geschaffen und bewahrt. Vertraut die Kirche auf das Wirken des Heiligen Geistes, so muss sie mit den Aposteln in Rückbindung an Schrift und Tradition die Bewegung Jesu sein, die mit Sündern Mahl hält, die Kranken heilt, den Gescheiterten neue Hoffnung gibt, aber auch die anspricht, deren Lebensauffassung und existentielle Situation ihr selbst zunächst vielleicht fremd ist. Im Laufe ihrer Geschichte ist ihr solches In-Bewegung-bleiben mit Christi Gnade und Gott sei Dank immer wieder mehr oder weniger gelungen, da sie in der vielfältigen Einheit ihrer Glieder aus verschiedensten Keimzellen lebt, die immer neue Früchte tragen.[16] Wo sie durch ihn bewegt auf alle Menschen zugeht, spiegelt sich die Güte Gottes auf ihrem Angesicht, das vor Heiterkeit und Barmherzigkeit strahlen und nicht voll Strenge sein soll (EG 6; 10). Wie darf man sich das im Alltag vorstellen? Franziskus verwendet hier Bilder, die für alle getauften Träger dieser Sendung verständlich sind.
4. Die geforderte Haltung der Kirche – skizziert in einfachen Bildern
Die Kirche müsste von den Menschen erfahren werden als eine liebende Mutter, als Familie, „in der man liebt und geliebt wird.“[17] Dort dürfen immer auch Fehler, Unvollkommenheiten und Sünden vorkommen, die sich der Vergebung Gottes, des barmherzigen Vaters gewiss sein können. Die Präsenz der Kirche muss daher „der Ort der ungeschuldeten Barmherzigkeit sein, wo alle sich aufgenommen und geliebt fühlen können, wo sie Verzeihung erfahren und sich ermutigt fühlen können, gemäß dem guten Leben des Evangeliums zu leben.“ (EG 114) Ob die Kirche von den Menschen tatsächlich so erfahren wird, hängt allerdings nicht von der beschränkten Wahrnehmung und apodiktischen Interpretation einzelner Kleriker ab, sondern vom Eindruck, den ihr konkreter Begegnungsstil bei den Adressaten faktisch hinterlässt. Eine bedingungslose Liebe Gottes repräsentieren zu wollen, diese Zuwendung im Zweifelsfall jedoch an bestimmte Bedingungen zu knüpfen, die oft nicht verständlich begründet werden können, führt in der Wahrnehmung von immer mehr Menschen zwangsläufig zu einer offensichtlichen Diskrepanz und Unglaubwürdigkeit der Kirche, die doch gerade Glauben generieren soll. Um diese Kluft zu überbrücken, braucht es wiederum einen Exodus auf die Menschen zu und, wie Franziskus mit Papst Johannes XXIII. betont, das „Heilmittel der Barmherzigkeit“.[18]
Wenn die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht schwerste und lebensbedrohliche seelische Wunden kurieren muss, dann braucht sie, mit Franziskus gesprochen, nicht erst nach erhöhten Cholesterinwerten zu fragen. Zuerst muss sie diese Wunden heilen.[19]
Dieser Papst revidiert nicht das Zeugnis der Kirche, sondern er setzt Prioritäten. Das ist nicht nur missionarisch legitim und pastoral erforderlich, sondern entspricht auch der Arbeitsweise der katholischen Dogmatik, die um eine Hierarchie der Wahrheiten weiß, in den Dogmen die essentielle Kernsubstanz des christlichen Glaubens von all ihren sekundären Ausgestaltungen unterscheidet[20] und hinsichtlich ihres Ursprungs und Zielpunktes immer schon „relativieren“, also rückbinden muss an das letzte Mysterium des sich selbst zusagenden Gottes. Kirche muss wohl wieder mehr Dogmatik betreiben – in dem Sinne, dass sie sich mehr um die Gewichtung und Vermittlung des soteriologischen Zentrums des Evangeliums sorgt, das zum ethischen Handeln in der Nachfolge Jesu befreit und überhaupt befähigt. Das ist ihre primäre Aufgabe, nicht die herablassende, einem „narzisstischen und autoritären Elitebewusstsein“ entspringende Kontrolle sekundärer Konsequenzen und Implikationen. (EG 94) Setzt man eine solche theozentrisch-soteriologische Grundausrichtung der Kirche und ihrer Verkündigung voraus, dann könne die Kirche in ihrem bewährten Unterscheidungsvermögen „auch dazu gelangen, eigene, nicht direkt mit dem Kern des Evangeliums verbundene, zum Teil tief in der Geschichte verwurzelte Bräuche zu erkennen, die heute nicht mehr in derselben Weise interpretiert werden und deren Botschaft gewöhnlich nicht entsprechend wahrgenommen wird. Sie mögen schön sein, leisten jedoch jetzt nicht denselben Dienst im Hinblick auf die Weitergabe des Evangeliums. Haben wir keine Angst, sie zu revidieren! […] Der heilige Thomas von Aquin betonte, dass die Vorschriften, die dem Volk Gottes von Christus und den Aposteln gegeben wurden, ‚ganz wenige‘ sind. Indem er den heiligen Augustinus zitierte, schrieb er, dass die von der Kirche später hinzugefügten Vorschriften mit Maß einzufordern sind, ‚um den Gläubigen das Leben nicht schwer zu machen‘ und unsere Religion nicht in eine Sklaverei zu verwandeln, während ‚die Barmherzigkeit Gottes wollte, dass sie frei sei‘. Diese Warnung, die vor einigen Jahrhunderten gegeben wurde, besitzt eine erschreckende Aktualität. Sie müsste eines der Kriterien sein, die in Betracht zu ziehen sind, wenn über eine Reform der Kirche und ihrer Verkündigung nachgedacht wird, die wirklich erlaubt, alle zu erreichen.“ (EG 43)
Dogmatik bedeutet auch Dynamik.[21] Im Anschluss an Papst Johannes Paul II. schreibt Franziskus in Misericordiae vultus, die Kirche habe den Auftrag, die Barmherzigkeit Gottes, also das „pulsierende Herz des Evangeliums“, zu verkünden. Dabei mache sie sich die Haltung des „Sohnes Gottes zu Eigen und geht allen entgegen und schließt keinen aus.“
Franziskus repräsentiert mit seinem – vermeintlich – neuen Stil auch die Missionsdynamik der Jesuiten in ihrer Flexibilität, Mobilität und Anpassungsfähigkeit.[22] Die Akkommodations-methode als Suche nach positiven Anknüpfungspunkten für das Evangelium ist die Grundlage für echte Kommunikation mit der jeweiligen Umwelt und die auch von Ad gentes geforderte „Einpflanzung“ des Christentums. Verdanken sich nicht die heutige Weltkirche in Nord- und Lateinamerika, Afrika und Asien, die internationalen Lebensadern der katholischen Kirche dieser dynamisch-flexiblen Mission in Orientierung am Kern des Evangeliums, dem „Suchen und Finden Gottes in allen Dingen“[23] und einer sensiblen, für die Adressaten konvenienten Vermittlung seiner selbstwirksamen Zusage im entsprechenden Lebenskontext? Gilt dies dann nicht auch für die veränderten Kulturen und Gegebenheiten unserer Gegenwart?
Franziskus greift hier die Lehre vom sensus fidelium, dem übernatürlichen Glaubenssinn des Volkes Gottes auf, wonach die Gesamtheit der Gläubigen durch das Wirken des Heiligen Geistes im Glauben nicht irren könne (vgl. LG 12). Aufgabe des ordinierten Amtes ist es dabei, in einem gemeinsamen Prozess der Wahrheitsfindung durch sensiblen Dialog, der nicht einfach den temporären Mehrheitsverhältnissen entspricht, den consensus fidelium, die Übereinstimmung im Glauben synchron zu ermitteln und durch einen diachronen Dialog mit dem consenus früherer Generationen (in Schrift und Tradition) abzustimmen. Auf diese Weise trägt das Hirtenamt in apostolischer Verantwortung sowohl aktuellen Erfordernissen als auch der identitätsstiftenden Kontinuität Rechnung. Die Hirten sind dem glaubenden und sich vom Geist Gottes aktiv leiten lassenden Volk Gottes in dessen Selbstvergewisserung und Gespür für den richtigen Weg verpflichtet; dieses Gespür kann sich wiederum nur im Geiste Jesu entfalten, wenn es sensibel bleibt für einen Dialog mit der historisch gewachsenen und tradierten Lehre der Kirche, mit der es sich jedoch angesichts veränderter Situationen kreativ auseinandersetzen darf und muss, um ihren Kern weiter bewahren zu können. Franziskus verlangt, „das bequeme pastorale Kriterium des ‚Es wurde immer so gemacht‘ aufzugeben.“ (EG 33) Ein guter Hirte, so der Papst, müsse bisweilen vorangehen, sich immer auch inmitten seiner Herde bewegen, den Geruch der Schafe an sich tragen und sensibel auf sie achten. Er wird jedoch auch „bei einigen Gelegenheiten […] hinter dem Volk hergehen, um denen zu helfen, die zurückgeblieben sind, und – vor allem – weil die Herde selbst ihren Spürsinn besitzt, um neue Wege zu finden.“[24] Fragebögen sind da wohl nur ein Anfang.
Nur wenn der sensus fidelium auch durch kirchenrechtlich sinnvolle synodale Strukturen in das kirchliche Leben integriert wird, ist die Grundlage für ein sentire cum ecclesia gegeben. Es bedarf des gegenseitigen Einfühlungsvermögens. Die vom Papst beschworene sensibilità ist eine genuin christliche Umgangsform. Nicht der kognitive Besitz eines als überzeitlich gedachten depositum fidei, sondern das empathisch-emotionale, berührende Feingefühl in der Zuwendung zum anderen lässt Gott erfahrbar werden. Ekklesiologisch scheint der Wandel vom instruktions- zum kommunikationstheoretischen Offenbarungsverständnis kaum vollzogen. Die Offenbarungstheologie ist jedoch normative Grundlage der Ekklesiologie. Kann die Selbstmitteilung Gottes als Lehre „definiert“, d.h. fest eingegrenzt werden – oder müsste sie nicht (wie in der Patristik) vom personalen exemplum Christi, seiner Haltung her verstanden werden? Die Haltung der Offenheit für den je größeren Gott und seine Liebe?
Erich Przywara hat diese Haltung sehr schön beschrieben. Gott selbst erweitert den Horizont des Menschen. „Die Weite Gottes, in der Er alle Herzen durchforscht und jeglichem näher ist als er sich selbst, soll seine Seele weiten zu grenzenlosem Verstehen und Einfühlen. Und in dieser Einfühlungsweite, die das Kriterium ignatianischer Gottesliebe ist, soll er dann fähig werden, jegliche Seele zu führen auf ‚ihrem Weg‘, nicht auf ‚seinem‘ Weg.“[25]
Es dürfte wenig sinnvoll sein, fehlende Kirchlichkeit oder vermeintlich fehlenden Glauben der Menschen zu beklagen. Vielmehr muss man deren Sehnsucht und Sinnsuche selbst entgegenkommen. „Die Menschen kommen – bei aller Sehnsucht – nicht zu veralteten Strukturen und Formen, die weder ihren Erwartungen noch ihrer Sehnsucht entsprechen.“[26] Man müsse daher, so Papst Franziskus, „ohne den Wert des vom Evangelium vorgezeichneten Ideals zu mindern, die möglichen Wachstumsstufen der Menschen, die Tag für Tag aufgebaut werden, mit Barmherzigkeit und Geduld begleiten.“ (EG 44) Es gilt positive Anknüpfungspunkte für das Evangelium wahrzunehmen.[27] Immer öfter befindet sich Kirche jedoch nicht im Dia-log, sondern im Mono-log, der zunehmend ins Leere läuft.
Die Konzentration auf das Wesentliche, nämlich auf die Begegnung mit Christus, erlöst und befreit auch die Kirche immer neu, richtet sie auf ihre Sendung aus und bringt sie wieder auf Spur, auf ihren Weg zu den Menschen, der es ihr verbietet, einzelne Traditionselemente selbst zu vergötzen. Gegen restaurative und legalistische Scheinsicherheiten, die verhindern, neue Räume für Gott zu eröffnen, verweist Franziskus auf „eine dogmatische Sicherheit“: Gott sei im Leben jeder Person, im Leben jedes Menschen. Auch wenn dieses Leben ein Land voller Dornen und Unkraut sei.[28] Dieses Bewusstsein zu fördern ist Maßstab kirchlichen Handelns.
5. Exodus als Wagnis universaler Offenheit
Papst Franziskus ist eine „verbeulte“ Kirche, welcher der Schmutz der Straße anhaftet, lieber als „eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist.“ Kirche darf nicht um sich selbst und ihr eigenes System kreisen.[29]
„Wenn uns etwas in heilige Sorge versetzen und unser Gewissen beunruhigen soll, dann ist es die Tatsache, dass so viele unserer Brüder und Schwestern ohne die Kraft, das Licht und den Trost der Freundschaft mit Jesus Christus leben, ohne eine Glaubensgemeinschaft, die sie aufnimmt, ohne einen Horizont von Sinn und Leben. Ich hoffe, dass mehr als die Furcht, einen Fehler zu machen, unser Beweggrund die Furcht sei, uns einzuschließen in die Strukturen, die uns einen falschen Schutz geben, in die Normen, die uns in unnachsichtige Richter verwandeln, in die Gewohnheiten, in denen wir uns ruhig fühlen, während draußen eine hungrige Menschenmenge wartet und Jesus uns pausenlos wiederholt: ‚Gebt ihr ihnen zu essen!‘ (Mk 6,37).“ (EG 49)
Eine dynamische Kirche im Dienst an den Menschen macht sich in ihren überschaubaren und kontrollierbaren Strukturen, in ihren Sicherheiten und Heilsgewissheiten verwundbar, wenn sie sich auf das Neue einlässt. Aber sie hat keine Wahl. Sie realisiert ihre Sendung nur in der Fremde, in der oft widerspenstigen und verletzenden Unverfügbarkeit des Anderen, der ihr von Gott selbst anbefohlen wird – nicht, um über ihn Gericht zu halten, sondern um ihn mit seiner Zusage zu konfrontieren, die ihre eigene Dynamik und Wirkung entfaltet.[30] Für die Kirche verbietet sich damit jeder ausschließende und abwertende Exklusivismus, weil es ihr nicht zusteht, das Urteil Gottes über andere Menschen vorwegzunehmen. Sie darf auch nicht in einem falsch verstandenen Inklusivismus Menschen vereinnahmen und sich damit selbst in den Mittelpunkt rücken. Auch ein in Beliebigkeit mündender Pluralismus kann niemals ihre Zustimmung finden, weil sie in der Selbstoffenbarung Gottes einen klar zu benennenden Weg des Lebens als letzten Maßstab für alle Menschen identifiziert: Christus. Er selbst verweist die Kirche auf die einzige für sie vollziehbare Haltung: ein offener Universalismus der Liebe und Barmherzigkeit Gottes, der sie dient. Die These lautet deshalb: Kirche ist Nachfolge Jesu als gemeinsamer Exodus in die Unverfügbarkeit Gottes und so die institutionalisierte Relativität menschlichen Wirkens angesichts seiner sich in Christus offenbarenden Gnade.
Wo sie ihre einladende Haltung (EG 39) im Stil der Gastfreundschaft und Heiligkeit[31] wirklich lebt, kann sie das, was ihr befremdlich erscheint, anerkennen und respektieren und verliert dadurch keineswegs ihren göttlichen Glanz, sondern vielmehr jeden Anschein von Scheinheiligkeit. Die Kirche erkennt man nicht an ihrer Kleidung, durch Lehrformeln, eine bestimmte Sprache oder Riten, sondern durch Werke der Barmherzigkeit, ihre bedingungslose Offenheit und Dialogbereitschaft, Geduld und Solidarität mit allen Menschen, die sie nicht ruhen lässt, sondern immer neu in Bewegung setzt, um auf den Kern des Evangeliums zu verweisen, den sie durch ihren sakramentalen Beistand allen vermitteln muss, die aufrichtig danach verlangen und in keinem bewusst intendierten Widerspruch zum Heiligen Geist universaler Versöhnung stehen. Glauben wir an diesen Geist Gottes und seine kreative Kraft?
Anmerkungen
[1] Rahner, K., Glaube, der die Erde liebt, Freiburg 51971, 94 f.
[2] Vgl. ebd., 95; vgl. auch Mt 5,13-16.
[3] Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium = „EG“.
[4] Vgl. Unitatis redintegratio 11.
[5] Der Papst betont mehrfach die von ihm für die Kirche eingeforderte „sensibilità“, ein Gespür, Wahrnehmungs- und Einfühlungsvermögen, Feingefühl. Vgl. die Ansprache an die 68. Generalversammlung der ital. Bischofskonferenz am 18.05.2015.
(http://w2.vatican.va/content/francesco/it/speeches/2015/may/documents/papa-francesco_20150518_conferenza-episcopale-italiana.html).
[6] Durchgehend verweist der Papst auf die missionarische Dynamik einer Kirche „im Aufbruch“ (EG 19-49).
[7] Vgl. Ratzinger, J., Einführung in das Christentum, München 82006, 237 f.; 271 f. Dort (234) findet sich die schöne Formulierung: „Man ist nicht Christ, weil nur Christen ins Heil kommen, sondern man ist Christ, weil für die Geschichte die christliche Diakonie Sinn hat und vonnöten ist.“
[8] Rahner, K., Zur Theologie der Hoffnung, in: Ders., SzTh VIII, Einsiedeln u.a. 1967, 561-579, 576.
[9] Ebd., 579.
[10] Vgl. Apg 15,1-21; sowie die Predigt von Papst Franziskus zu Pfingsten, am 19.05.2013 (http://w2.vatican.va/content/francesco/de/homilies/2013/documents/papa-francesco_20130519_omelia-pentecoste.html) Das Neue mache Angst, da man lieber alles unter Kontrolle haben und das Leben nach eigenem Geschmack planen will. Auch gegenüber Gott. Doch in der ganzen Heilsgeschichte bringe Gott in seiner Offenbarung stets Neues und fordere dazu heraus, ihm zu vertrauen.
[11] Immerhin wurde das Missionsdekret mit 2394 Ja-Stimmen (99,8%) der Konzilsväter feierlich verabschiedet. Das kann man nicht von jeder Äußerung des kirchlichen Lehramtes behaupten. Vgl. Denzinger, H./ Hünermann, P., Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, Freiburg 402005. Ich zitiere nach Rahner, K./Vorgrimler, H., Kleines Konzilskompendium, Freiburg 2008. Vgl. Hünermann, P. (Hg.), Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Lt.-dt. Studienausgabe, Freiburg 22004, 459-531.
[12] Vgl. EG 115: „Der Begriff der Kultur ist ein wertvolles Instrument, um die verschiedenen Ausdrucksformen des christlichen Lebens zu verstehen, die es im Volk Gottes gibt. Es handelt sich um den Lebensstil einer bestimmten Gesellschaft, um die charakteristische Weise ihrer Glieder, miteinander, mit den anderen Geschöpfen und mit Gott in Beziehung zu treten. So verstanden, umfasst die Kultur die Gesamtheit des Lebens eines Volkes. Jedes Volk entwickelt in seinem geschichtlichen Werdegang die eigene Kultur in legitimer Autonomie.“ Der Papst spricht von einem permanenten „Prozess der Inkulturation“ (126; 122).
[13] Theobald, Ch., Das Christliche als Lebensstil. Die Suche nach einer zukunftsfähigen Gestalt von Kirche aus einer französischen Perspektive, in: Böttigheimer, Ch. (Hg.), Zweites Vatikanisches Konzil. Programmatik – Rezeption – Vision, Freiburg 2014 (QD 261), 203-219, 212 f.
[14] Nur nebenbei sei hier bemerkt, dass bei den Kirchenvätern das Verständnis Christi als Arzt bzw. Medizin ein beliebtes soteriologisches Motiv war. Ist das Vorenthalten der Eucharistie als sakramentale Begegnung mit ihm dann aber, wo sie aufrichtig gesucht wird, nicht so etwas wie unterlassene Hilfeleistung?
[15] Vgl. Papst Franziskus, Verschließt diese Tür nicht. Tagesmeditation der Frühmesse im vatikanischen Gästehaus „Domus Sanctae Marthae“ am 17.03.2015. (http://w2.vatican.va/content/francesco/de/cotidie/2015/documents/papa-francesco-cotidie_20150317_verschliesst-diese-tuer-nicht.html).
[16] In dieser dezentralen Dynamik und der apostolischen Rückbindung an Christus liegt ihre ‚Indefektibilität‘, die nach dem Verhältnis von Natur und Gnade kein fester Besitz ist, sondern an ihre Aufgabe gebunden. So ist auch der Beistand des Auferstandenen durch seinen Geist an diese Mission gekoppelt (vgl. Mt 28,19).
[17] Vgl. Spadaro, A., Das Interview mit Papst Franziskus, hg. von Batlogg, A., Freiburg 2013, 45.48; EG 46-49; Generalaudienz am Petersplatz vom 29.05.2013. (http://w2.vatican.va/content/francesco/de/audiences/2013/documents/papa-francesco_20130529_udienza-generale.html).
[18] Vgl. Papst Franziskus, Misericordiae vultus. Verkündigungsbulle des außerordentlichen Jubiläums der Barmherzigkeit, Rom, 11.04.2015 (https://w2.vatican.va/content/francesco/de/bulls/documents/papa-francesco_bolla_ 20150411_misericordiae-vultus.html).
[19] Vgl. Spadaro, Das Interview, 47-52.
[20] Es ist nicht hinnehmbar, dass in der öffentlichen Wahrnehmung diverse Aussagen des kirchlichen Lehramtes zu Sexualethik, Empfängnisregelung etc. einhellig als „Dogmen“ der Kirche deklariert werden.
[21] Im Interview mit Spadaro (72 f.) zeigt sich der Papst dogmenhermeneutisch sensibel und erinnert mit Vinzenz von Lérins an die dogmengeschichtliche Entwicklung und das wachsende Verständnis im Glauben. „Man wächst im Verständnis der Wahrheit. Die Exegeten und die Theologen helfen der Kirche, im eigenen Urteil zu wachsen. Auch die anderen Wissenschaften und ihre Entwicklung helfen der Kirche bei diesem Wachstum des Verständnisses. […] Die Sicht der Kirche als Monolith, der ohne jeden Abstrich verteidigt werden muss, ist ein Irrtum.“ Vgl. das II. Vaticanum, Dei Verbum 12.
[22] Vgl. Hartmann, P.C., Die Jesuiten, München 22008, 43 ff.
[23] Vgl. Spadaro, Das Interview, 58 ff.
[24] Vgl. EG 31; 119; Interview mit Spadaro, 42-45.
[25] Przywara, E., Majestas Divina. Ignatianische Frömmigkeit, Augsburg u.a. 1925, 76.
[26] Papst Franziskus, El Jesuita. Mein Leben, mein Weg. Die Gespräche mit J. M. Bergoglio von S. Rubin und F. Ambrogetti, Freiburg 2013, 87; 85.
[27] Vgl. El Jesuita, 89: Wer nur Negatives, Trennendes sucht, sei kein guter Katholik und verstümmle das Evangelium. Es zeige die fehlende Bereitschaft, Dinge anzunehmen. „Christus nahm alles an. Und man kann nur das erlösen, was man angenommen hat. Wenn jemand nicht toleriert, dass es in einer Gesellschaft Menschen mit verschiedenen, auch den eigenen entgegengesetzten Wertmaßstäben gibt, und wenn wir diese Menschen nicht respektieren und für sie beten, werden wir sie in unseren Herzen nie erlösen.“
[28] Vgl. Spadaro, Das Interview, 62; EG 50.
[29] Vgl. El Jesuita, 84. Auf sich selbst fixiert, wird Kirche „psychotisch und autistisch.“
[30] Vgl. EG 22: Das Wort Gottes trage in sich unvorhersehbare Anlagen, wie ein Samen (Mk 4,26-29). Die Kirche müsse die unfassbare Freiheit dieses Wortes akzeptieren, „das auf seine Weise und in sehr verschiedenen Formen wirksam ist, die gewöhnlich unsere Prognosen übertreffen und unsere Schablonen sprengen.“
[31] Einen solchen stilistischen Ansatz hat Ch. Theobald SJ entfaltet. Vgl. seine Thesen zu unserem gemeinsamen Symposion an der Universität Regensburg im Rahmen der Gastprofessur der J. Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung: „Christentum als Stil“. Zum epistemologischen Hintergrund des Ansatzes, Regensburg, 10.06.2015.