Jan Heiner Tück und Ulrich Körtner haben auf katholisch.de einen Kommentar zu den Ergebnissen der neuesten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung veröffentlicht. Ihre Forderung nach einer Theologie, die von der Kirche her und auf die Kirche hin denkt, zieht die falschen Schlüsse. Und das ist wirklich eine Frage der Theologie, meinen Rainer Bucher und Michael Schüßler.
1. Wo sie Recht haben, haben sie Recht, die geschätzten Kollegen: „Der epochale Säkularisierungsprozess lässt sich weder durch Aktionismus noch durch Schönfärberei aufhalten. Entschleunigung und vertieftes theologisches Nachdenken sind angesagt.“ Die überaus schnelle Reaktion von Tück und Körtner spricht nun freilich nicht gerade für Entschleunigung und ihr Zwischenruf leider auch nicht unbedingt für allzu differenziertes theologisches Nachdenken. Er bedient eher den klassischen katholischen Reflex auf die vielfältigen, tatsächlich grundstürzenden Transformationsprozesse von Religion in (spät-)modernen Gesellschaften. Die Strategie „Konzentrieren wir uns doch auf die Kirche, wenn die Welt schon nichts von uns wissen will“ hat schon im 19. Jahrhundert zu nichts wirklich Produktivem geführt. Dass der evangelische Kollege bei diesem typisch katholischen Move mitmacht, ist ein bemerkenswertes Phänomen ökumenischer Verbundenheit.
Ein typisch katholischer Move
2. Wo Kollegen nicht Recht haben, muss man ihnen widersprechen. Das beginnt schon bei der Interpretation der Kirchenmitgliedschaftsstudie selbst. Ihr Fragenkatalog ist stark von kirchlich gebundener Religiosität geprägt. Das ist zunächst unproblematisch, es handelt sich schließlich um eine Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. Nun werden daraus aber auch Ergebnisse für die religionssoziologische Lage überhaupt abgeleitet: „Nicht nur die Kirchenbindung geht zurück, sondern auch die Religiosität“ (13). Das ist vielleicht nicht ganz falsch, aber doch eine etwas einseitige Zuspitzung. Genau darauf haben drei an der Studie beteiligte Theolog:innen in „Zeitzeichen“ gut begründet hingewiesen. Denn „für eine Erforschung individueller Religiosität von Menschen, ihrer religiösen Haltung, ihrer Sinnfragen und Transzendenzdispositionen, wären zwingend mehr und andere Items erforderlich gewesen“. Zu einem etwas anderen Ergebnis kam denn auch der im Sommer dieses Jahres veröffentlichte Religionsmonitor von Bertelsmann. Dort lag der Fokus auf religiöser Vielfalt. Zwar nimmt auch hier der Anteil von Religionsfernen insgesamt zu. Aber: „Auch für diejenigen, die sich keiner Religionsgemeinschaft zugehörig fühlen, ist Religion nicht ohne Bedeutung“ (S. 10).
KMU: Berechtige Fragen zu Methode und Interpretionen
3. Tück und Körtner stellen fest, die „Auffassung, man könne auch außerhalb der Kirche sein Christsein leben“, sei eine Illusion. Das ist einigermaßen überraschend. Treten doch gerade massenhaft Katholik:innen aus der Kirche aus, um weiter katholisch bleiben zu können, oder verlassen aus Gewissensgründen den kirchlichen Dienst ins „obdachlos Katholische“ (Laudage-Kleeberg). In diesem Zusammenhang überrascht ebenso, wie für eine kleine Herde der Kirche in Anspruch genommen wird, sie könne „die humanisierende Kraft des Evangeliums einbringen“. Stattdessen stellen Missbrauchsbetroffene wie die unter Pseudonym schreibende Theologin Hannah Ziegler die Frage: „Was gibt einer Institution, in der sexuelle Gewalt begünstigt und vertuscht wurde, die weder adäquat mit Überlebenden umgeht noch die strukturelle Gewalt beendet, das Recht, weiter zu existieren?“ (301). Kein Ratschlag zu Kirche und Theologie kann heute weiterführen, wenn diese Frage nicht überzeugend beantwortet wird und die hausgemachten Gründe für den Vertrauensverlust ausgeblendet bleiben. Kein einziger Hinweis darauf findet sich bei Tück und Körtner.
Missbrauchskrise nicht ausblenden
4. Nach Tück und Körtner hat die große Zustimmung zum sozialen Engagement von Kirche in der KMU keinen wirklichen theologischen Wert. Vor allem, weil „das dezidiert christliche Profil von Diakonie und Caritas bis in das Arbeitsrecht hinein seine Konturen verliert“. Nur zur Erinnerung: Diese verlorenen katholischen Konturen bestanden vor allem in den Loyalitätsobliegenheiten zur höchstpersönlichen Lebensführung, deren angstbesetzte und destruktive Auswirkungen mit der ARD-Doku „Wie Gott uns schuf“ und #OutInChurch für alle sichtbar wurden. Das christliche Profil liegt in der Tätigkeit Kranke zu pflegen, Geflüchtete aufzunehmen, für Obdachlose zu sorgen. Und zwar in der Orthopraxie dieser Tätigkeiten selbst („Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen?“ Mt. 25), die wie beim barmherzigen Samariter nicht an rituelle oder religiöse Zugehörigkeit gebunden ist. War das nicht mal Konsens in der Theologie? Und müsste man eine Theologie der Caritas und Diakonie dann nicht von diesem inklusiv Entscheidenden her verstehen, statt von einem exklusiv Unterscheidenden? Schließlich wäre gerade theologisch mit dem entzogenen Ereignis Gottes (Michel de Certeau) auch außerhalb kirchlicher wie religiöser Sprachlandschaften zu rechnen.
Caritas und Diakonie theologisch wertschätzen
5. Tück und Körtner befinden, die Zeit „akademische Theologie primär als Papst- und Kirchenkritik zu betreiben“ sei „vorbei“ und betreiben selbst eine Kirchenkritik, die fundamentaler und brutaler nicht sein könnte. Von Gott „wissen die Kirchen“, so Tück und Körtner, „nur noch wenig zu sagen“, „Gott“, so Tück und Körtner, „ist zumeist nur noch eine unbestimmte Chiffre, die als Moralverstärker dient, auf die man auch notfalls aber auch verzichten kann“. Wie man als wissenschaftliche Theologen so pauschal, abwertend, ja letztlich denunziatorisch über die vielen und vielfältigen religiösen, liturgischen, homiletischen, diakonischen und religionspädagogischen Praktiken der eigenen Kirche(n) sprechen kann, verwundert schon. Dass Tück und Körtner dann der akademischen Theologie unterstellen, sich zu „interdisziplinärer Religionsforschung ‚weiterzuentwickeln‘“ und sich „als mediokre Form von Religionssoziologie“ zu entpuppen, ist angesichts ertragreicher multiperspektivischer Forschungszusammenhänge zwar ebenso plakativ, aber gegenüber der Kirchenkritik fast schon harmlos.
Warum nur so pauschal, abwertend, ja denunziatorisch?
6. „Die Zeit der Illusion ist vorbei“, so beginnen Tück und Körtner ihren Text. Das stimmt, aber wohl anders als von ihnen beabsichtigt. Die KMU dokumentiert den rapiden Vertrauensverlust der Kirchen und die Verflüssigung von „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute“ (GS 1). Eine Theologie, die zuallererst „von der Kirche her und auf die Kirche hin denkt“ ist da weniger Lösung, sondern Teil des Problems. Eine auf die verfasste Kirche fokussierte Theologie „der kleinen Herde“ wird notwendig immer mehr an Zeitgenossenschaft und Zeugniskraft verlieren. Es geht tatsächlich um Gott, da haben Tück und Körtner natürlich recht. Es geht darum, welchen Sinn und Bedeutung es hat, an ihn zu glauben und ihm zu glauben. Genau dann aber gilt christlich, was Johann B. Metz mit Blick auf Karl Rahner so beschrieb: „Gott […] ist für Rahner ein universales Thema, ein Menschheitsthema – oder es ist kein Thema. Nie ist Gott das Privateigentum der Kirche oder auch der Theologie. Und nicht einmal des Glaubens: Mit dem Blitz Gottes ist in allen Erfahrungs- und Sprachlandschaften zu rechnen. So sieht Rahner in dieser ekklesiologischen Verschlüsselung der Gottesrede […] eine fragwürdige Prozedur: Ist sie nicht symptomatisch für den Weg der Kirche in die Sekte und für die wachsende kognitive Vereinsamung der Theologie in der Gesellschaft?“[1]
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Bild: katholisch.de (Screenshort)
Rainer Bucher, Bonn, bis September 2022 Professor für Pastoraltheologie an der Universität Graz.
Michael Schüßler ist Praktischer Theologe an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Tübingen.
[1] Johann B. Metz, Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg/Brsg. 2006, 110.