Nur noch 14 Tage bis Ostern. So langsam neigt sich die Fastenzeit ihrem Ende zu und spätestens jetzt fragen sich viele: wozu eigentlich das Ganze? Eine Alphabetisierungsübung bringt erfrischende Einsichten. Von Ulrich Lüke.
Wenn ich in dieser Fastenzeit die Eucharistie feiere, stoße ich am Beginn des Hochgebetes immer wieder auf den merkwürdigen Satz: »Durch Fasten des Leibes hältst du die Sünde nieder, erhebst du den Geist, gibst du uns die Kraft und den Sieg.« Na, wenn das so einfach durch Fasten zu machen ist, – die Sünde danieder und der Geist hoch erhoben –, dann nichts wie ran ans Fasten! Was aber heißt Fasten? Ich versuche, es einmal durchzubuchstabieren:
F – A – S – T – E – N
F für Freiheit
Die Fastenzeit hat es an erster Stelle nicht mit Einschränkung und Beschränkung, Einengung und Beengung zu tun, sondern mit Freiheit! Fasten soll mir die »Freiheit von« zurückgeben: Was nimmt mich gefangen, engt mich ein, entfremdet mich von mir selbst? Wie werde ich davon frei? Das Fasten soll mich befähigen, die »Freiheit für« neu zu bestimmen: Für welche Menschen, welche Werte, welche Aufgabe möchte ich frei sein? Aus Freiheit und um der Freiheitwillen wird minder Wichtiges oder Unwichtiges aufgegeben. »Widersagen Sie dem Bösen, um in der Freiheit der Kinder Gottes leben zu können?« So werden wir in der Osternacht gefragt, so wird bei jeder Taufe gefragt. Fasten beginnt mit F wie Freiheit, beim Fasten geht es um Freiheit.
Beim Fasten geht es um Freiheit.
A für Andacht
In der Fastenzeit brauchen wir eine Zeit für Andacht. Das Wort hat etwas mit Denken zu tun. Es stammt vom mittelhochdeutschen Wort anedâcht und meint ein zielgerichtetes Denken. Wir brauchen von Neuem ein Denken, das nicht die Finanzmärkte oder die technische Machbarkeit oder die politische Durchsetzbarkeit von irgendetwas bedenkt. Wir brauchen ein Denken, das das Ganze bedenkt, ein Denken, das sich und unser ganzes Leben auf Gott ausrichtet. Das Ziel dieses Denkens ist Gott. Für diese Andacht brauchen wir eine Auszeit von Hektik und Stress; wir brauchen Stille und Gebet zur existenziellen Richtungsbestimmung. Das private Gebet in der Stille einer Kirche oder meiner Wohnung und das gemeinsame Gebet im Gottesdienst, beide Formen der Andacht brauchen wir, damit ich mich selbst, mit der und in der Gemeinschaft auf Gott ausrichte. Fasten schreibt sich stets mit A wie Andacht.
S für Solidarität
Solidarität sieht die Not in der Welt und geht nicht davon unberührt zur Tagesordnung über. Solidarität heißt, sich mit Herz, Hirn und Hand einsetzen für den anderen, den zu kurz gekommenen, den kranken, den bedrohten Menschen. Solidarität geht nicht am Geldbeutel und am Terminkalender vorbei, sie kostet Zeit und Geld: meine Zeit, mein Geld. Zugleich bringt sie für den Geber und für den Nehmer neue Lebensqualität und neue Gemeinschaft. Fasten, geschrieben und gelebt ohne S wie Solidarität, wäre ein defizitärer Eintrag im Buch des Lebens.
Solidarität kostet Zeit und Geld.
T für Theologie
Was hat die Theologie mit dem Fasten zu tun? Die Fastenzeit war in der alten Kirche die Zeit der Taufvorbereitung, die Katechumenenzeit, die Einführung ins Christsein, der Lernprozess auf Ostern hin. Nur in der Osternacht wurde getauft. Wir sollten die Fastenzeit als Lehr- und Lernzeit des Christseins
wiederentdecken und ein theologisches Buch, eine Einführung in den Glauben, eine Heiligenbiografie lesen. Wir sollten die dringenden Nachbesserungsarbeiten auf der Straße unseres Glaubenskenntnisses in Angriff nehmen, wo es manche Frostaufbrüche der theologischen Ignoranz zu beseitigen gilt. Sonst kann man auf diesem Weg des Glaubens niemanden mehr mitnehmen und am Ende sogar selbst nicht mehr weitergehen. Theologen und Psychologen sprechen oft von kognitiver Dissonanz, wenn jemand in den Gegenwartsfragen ein fachkompetenter Zeitgenosse, in den Glaubensfragen aber ein zurückgebliebener unterentwickelter Naivling ist. Die Beheimatung im Haus des Glaubens ist nicht mehr sichergestellt, wenn dieser aufgrund theologischer Unkenntnis zur unbewohnbaren Ruine verkommt. Fasten schreibt man mit T wie Theologie.
Innere Schweinehunde oder Sauhunde stehen nicht auf der Artenschutzliste.
E für Ernährung
Nur zwei Fast- und Abstinenztage verlangt uns die Kirchendisziplin noch ab im Jahr. Oder sollte ich sagen, zwei Fasttage traut sie uns nur noch zu? Aschermittwoch und Karfreitag. Sind wir Warmbader geworden in Sachen Ernährungsdisziplin, Weicheier in Sachen Genussmittelabstinenz? Wer oder was – außer dem eigenen inneren Schweinehund – sollte uns hindern, bis Ostern z. B. jeden Freitag einen Fasttag zu machen, wenn das eigene Feinkostgewölbe es hergibt, wenn die Rettungsringe um die Leibesmitte und die Reithosenform der Schenkel es nahelegen? Wer oder was – außer dem eigenen inneren Schweinehund – sollte uns hindern, sechs Wochen lang auf Alkohol oder auf Nikotin oder auf Süßigkeiten oder in spezieller Kombinationstherapie auf Mehreres zugleich zu verzichten? Innere Schweinehunde oder Sauhunde stehen nicht auf der Artenschutzliste, dürfen also jederzeit bejagt und besonders in der Fastenzeit erlegt und zerlegt werden. Fasten schreibt man mit E wie Ernährung.
N für Nächstenliebe
Das ist ein viel strapaziertes Wort unter wohlmeinenden Christenmenschen. Aber vom wohlmeinenden Wort zur wohltuenden Tat ist es ein weiter schwerer Weg. Die Fernstenliebe ist leichter als die Nächstenliebe. Der Fernste stinkt nicht, ist nicht laut, widerspricht nicht, rückt mir nicht auf die Pelle, will nicht meinen Arbeitsplatz, kurzum er stört nicht. Der Fernste bekommt gelegentlich eine Spende von mir, solange er mir fernbleibt. Aber der Nächste, das kann ein unangenehmer Nachbar mit dauernd lärmenden Kindern sein, das kann ein Hundebesitzer sein, dessen tierische Hinterlassenschaften meinen Vorgarten verunzieren, das kann die übellaunige Arbeitskollegin sein, das kann der miese Chef sein oder die minderbegabte Sekretärin. Mit denen auch nur menschlich umzugehen, fordert manchmal unmenschliche, sie gar noch wertzuschätzen übermenschliche Anstrengungen. Aber Fasten – richtig geschrieben – enthält immer das N für Nächstenliebe.
Welchen Buchstaben müssen Sie noch üben, damit das Fasten lesbar wird in der christlichen Handschrift ihres Lebens?
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Ulrich Lüke ist em. Prof. für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie der RWTH Aachen und Krankenhauspfarrer am St. Franziskus-Hospital in Münster.