Mathematik und Theologie verbindet mehr als man denkt. Julia Hahn zeigt anhand des Goldenen Schnitts, wohin eine Entdeckungsreise auf der Suche nach Schnittmengen beider Disziplinen führen kann.
„Mathematik und Katholische Theologie?! – Das ist ja eine seltsame Kombi.“ Diese Reaktion auf meine Studienfächer begegnet mir seit über 8 Jahren regelmäßig. Für viele Menschen scheinen diese beiden Disziplinen verschiedener nicht sein zu können. Mathematik als die vielleicht sogar logischste aller Wissenschaften. Die Theologie als das exakte Gegenteil: als Fach, das auf Spekulation aufbaut und das von manchen kaum als Wissenschaft anerkannt wird.
Dass sich Naturwissenschaft und Glaube nicht ausschließen und namhafte Mathematiker:innen und Physiker:innen – etwa Albert Einstein, Katherine Johnson, Dorothy Vaughan, Maria Gaetana Agnesi, Isaac Newton, Blaise Pascal u.v.m. – gläubige Menschen waren und sind, ist längst bekannt und wird nicht angezweifelt.
Mathematik als Geisteswissenschaft
Zusätzlich gilt, dass auch die Mathematik, entgegen vielfacher Annahmen, eine Geisteswissenschaft ist. Denn: Haben Sie schon einmal Formeln und Zahlen in der Natur gesehen? Alles, was in mathematischen Systemen geschieht, geschieht auf einer Metaebene, die versucht, den Naturwissenschaften wie z. B. der Chemie oder Physik als Hilfsmittel zu dienen. Die Mathematik erschafft eine Welt voller Axiome, die das Fundament, auf dem alles aufgebaut wird, legt. Was so manch eine:r aber vielleicht nicht direkt vermutet: Auch die Mathematik ist ein System, welches nicht vollständig abgeschlossen ist.
Neben noch offenen inner-mathematischen Problemen – den sogenannten „Millennium-Problemen“ – , deren Lösung mit hohen Preisgeldern dotiert sind, gibt es vielmehr grundsätzliche „Löcher“ im System der Mathematik, welche nicht gestopft werden können. Der Mathematiker Kurt Gödel ist diesen „Löchern“ nachgegangen und hat sie mit seinen beiden Unvollständigkeitssätzen 1931 dargestellt. Sie besagen, dass es erstens Aussagen in dieser Welt der Axiome gibt, die weder bewiesen noch widerlegt werden können. Eine Aussage, die so auch in der Theologie zu den basalen Grundüberzeugungen gehört.
Axiome, die weder bewiesen noch widerlegt werden können in Mathematik und Theologie
Zweitens widerspricht Gödel schließlich auch der Widerspruchslosigkeit mathematischer Systeme. Hier entsteht eine Glaubenskrise. Woran soll man glauben können, wenn man sich nicht einmal auf die Mathematik als ein feststehendes System, welches Wahrheit und Standfestigkeit verspricht, verlassen kann? Sind wahre Aussagen, die sich nicht beweisen lassen, wirklich wahr? Sowohl Theologie als auch Mathematik scheinen damit oftmals als reine Konstrukte, die zwar zu Hilfszwecken eine gewisse Sinnhaftigkeit zu haben scheinen, aber mit Leichtigkeit dekonstruiert werden können.
Als ein Beispielelement der Schnittmenge von Mathematik und Theologie gilt die Frage nach der Schöpfung und einer:m Schöpfer:in, mathematisch gesprochen die Frage nach der Ordnung der Natur. Denn die Natur ist voll von mathematischen Sachverhalten. Die Anordnung von Blüten, Blättern oder Samen folgt bei vielen Pflanzen der Fibonacci-Folge und impliziert damit eine Verknüpfung mit dem Goldenen Schnitt. Hierzu ein kurzer mathematischer Exkurs:
Die Fibonacci-Folge meint eine Abfolge von Zahlen, die sich durch die Summe der vorigen beiden Zahlen ergibt, mathematisch geschrieben: an = an-1 + an-2. (mit n≥3 und den Anfangswerten a1=a2=1). Die nächste Zahl in der Folge wäre somit a3 = a2 + a1 = 2. Weiter folgen: 3, 5, 8, 13…
Die Verbindung zum Goldenen Schnitt ist fließend. Mathematisch ist er durch die Idee entstanden, eine Strecke so in zwei Teile zu teilen, dass das Verhältnis der Gesamtstrecke zur größeren Strecke genauso groß ist wie der größere zum kleinen Streckenabschnitt. Für dieses Verhältnis gibt es die Zahl ϕ (Phi), die durch folgende Formel beschrieben werden kann:
ϕ ist eine irrationale Zahl, die sich nicht endlich darstellen lässt und sich somit unserer Vorstellungskraft entzieht. Durch den Quotienten zweier aufeinanderfolgender Fibonacci-Zahlen lässt sie sich dennoch approximieren, sprich annähern: .
Sowohl die Fibonacci-Zahlen als auch der Goldene Schnitt können durch Rechtecke, deren stetige Teilung und eine Spiralform darin anschaulich gemacht werden.
Anhand dieses Musters lässt sich erkennen, dass der Goldene Schnitt als ästhetisches Merkmal, gar als Formel für Schönheit, vielfach Verwendung findet. Es besteht die Vermutung, dass schon die Pyramiden von Gizeh mit Wissen um den Goldenen Schnitt 2560 v. Chr. (!) gebaut wurden. Ebenso unterliegen berühmte Kunstwerke wie Da Vincis „Das Abendmahl“ oder Michelangelos „Erschaffung Adams“ seiner Logik.[1]
der Goldene Schnitt als Formel für Schönheit und schöpferische Genialität
Ganz ursprünglich – und vermutlich auch als Vorbild für die von Menschen konstruierten Goldenen Schnitte geltend – findet man diesen vor allem in der Natur: Pinienzapfen, Sonnenblumen und viele andere Pflanzen weisen in ihrer Anordnung sowohl die Fibonacci-Zahlen als auch den Goldenen Winkel auf. Dies ist nicht nur eine nette mathematische Spielerei, sondern vielmehr aus schöpferischer Perspektive eine geniale Beschaffenheit, die die Pflanzen am Leben hält. Wären die Blütenblätter bei der Agave in einem anderen Winkel angeordnet, bekämen die unteren Blätter zu wenig Sonnenlicht zum Überleben. Schöpfung folgt hier nicht nur ästhetischen oder mathematischen Mustern, sondern impliziert dadurch eine notwendige Lebensfähigkeit und Praktikabilität.
Sowohl beim Körper des Menschen als auch bei vielen Tieren sind Proportionen erkennbar, die dem Goldenen Schnitt ähneln. Zwar keine Goldenen, sondern Logarithmische Spiralen, deren Unterschied mit bloßem Auge kaum erkennbar ist, finden sich in Satellitenbildern von Taifunen, Farnwedeln, dem Chamäleonschwanz oder der Whirlpool-Galaxie.[2] Es ist kaum überraschend, dass die Goldene Spirale auch „spira mirabilis“ (Wunderspirale) und der Goldene Schnitt „divina proportione“ (göttliche Proportion) genannt werden: Die Zahl ϕ beschreibt mathematisch das, was in der Natur sichtbar ist, und übersetzt die Faszination der Schöpfung in die Einzigartigkeit einer Zahl. Selbst die grundsätzliche Existenz von Leben, dass es die Welt in ihrer heutigen Beschaffenheit samt aller Lebewesen und Pflanzen gibt, ist rein wahrscheinlichkeitstheoretisch unwahrscheinlich ein Zufall.[3]
Die Zahl ϕ übersetzt die Faszination der Schöpfung in die Einzigartigkeit einer Zahl.
Hier schließt Gödels mathematischer Gottesbeweis[4] an, der durch mathematische Logik zu verschriftlichen versucht, was naturwissenschaftlich nicht zu begreifen ist. Zwar wurde die logische Schlussfolgerung des Beweises 2013 mit technischer Hilfe nachgewiesen, doch bleiben Schwachstellen in den Vorannahmen Gödels, die die Existenz Gottes – vermutlich zu unser aller Vorteil – nach wie vor bei einer Glaubensentscheidung belassen.
Mathematik und Theologie haben zwar unterschiedliche Zugänge zur Welt, behandeln jedoch in Bezug auf das Verstehen-Wollen der Zusammenhänge dieser Welt Ähnliches. Beide müssen mit Unbegreifbarem und Unendlichem umgehen. Beide müssen Unvollständigkeiten aushalten, können darin epistemische Demut lernen, sie bedienen sich einer gewissen Ästhetik und versorgen Kunst und Architektur mit Inhalt und Methode. Weder sind mathematische Sachverhalte bloße Konstrukte noch die Schöpfung ein großer Zufall. Mathematik und Theologie lassen sich wunderbar miteinander in Verbindung bringen und sind beides hochspannende und intellektuell herausfordernde Wissenschaften, die in die Tiefen des Lebens gehen. q.e.d.
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[1] Vgl. https://letstalkscience.ca/educational-resources/backgrounders/fibonacci-and-golden-ratio.
[2] All diese und weitere Beispiele finden sich in Gary B. Meisner: Der goldene Schnitt. Die Schönheit der Mathematik. Librero IBP 2019.
[3] Mehr dazu in der Terra X – Folge „Kann man die Natur vermessen?“ mit Harald Lesch https://www.youtube.com/watch?v=UOLqwRPk8-4.
[4] Wer sich weiter mit diesem Beweis beschäftigen möchte, schaue z.B. hier: https://www.spektrum.de/kolumne/ontologischer-beweis-goedel-zeigt-dass-gott-existiert-oder-nicht/2052687.
Bildnachweis: NASA, ESA, S. Beckwith (STScI), and the Hubble Heritage Team (STScI/AURA)
Julia Hahn ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Theologie / Institut für Katholische Theologie der HU Berlin. Sie hat Mathematik und Theologie in Münster studiert und promoviert zum Thema Festivalseelsorge.