Der Beitrag „Kurskorrektur?!“ von Thomas Frings hat ein großes Echo ausgelöst. Christian Hennecke stellt seine Auseinandersetzung damit in einen Zusammenhang mit der Frage nach Visionen beim Übergang zu neuen Formen des ChristIn- und Kirche-Seins.
Beeindruckende Analyse, beeindruckendes Bekenntnis, beeindruckende Konsequenz – mehr kann man gar nicht zu den Worten von Pfarrer Thomas Frings sagen. Das ist authentisch, das ist ehrlich – von jemandem, der sich im Rahmen des gewachsenen Kircheseins auf neue Wege gemacht hatte. Und so ist es konsequent, innezuhalten. Ins Kloster zu gehen – und zu suchen, wie die eigene Berufung sich entfalten kann.
Beeindruckende Analyse, beeindruckendes Bekenntnis, beeindruckende Konsequenz
Und doch bleiben viele Fragen. Fragen, die sich Thomas Frings ja auch selbst stellt, die aber radikaler gestellt werden müssen. Sie betreffen die zu Grunde liegende Vision der Kirche. Und die Zustimmung zu seinem Bekenntnis belegt, dass er genau jene Stimmungslage trifft, die viele Katholikinnen und Katholiken, viele Priester und Hauptberufliche, und auch viele Bischöfe sich zueigen gemacht haben. Es gibt einen Konsens über das Zu-Ende-Gehen einer epochalen kirchlichen Architektur. Ein Konsens des Schmerzes. Die Tatsache, dass Thomas Frings so viel Zuspruch erhält, macht noch einmal deutlich, wie ratlos viele Christinnen und Christen sind, wie ratlos aber auch die Theologinnen und Theologen sind – und auch manche Bischöfe – angesichts eines Wandels, der sich schon längst ereignet hat.
Konsens über das Zu-Ende-Gehen einer kirchlichen Architektur. Ein Konsens des Schmerzes.
Denn das ist nichts Neues unter der Sonne des 21. Jahrhunderts. Schon lange wissen wir, dass die uns gewohnte Gestalt und das Gefüge des Christseins in Auflösung begriffen ist. Die Strukturmaßnahmen des beginnenden 21. Jahrhunderts waren da kein Kurswechsel. Es ging einfach nach demselben Paradigma weiter. Noch zum Anfang des Jahrtausends konnte man auf die Frage, welche Vision die deutsche Kirche verfolge, tiefes Schweigen ernten: Es ging um Bestandswahrung unter verschärften Bedingungen, es ging um „Priesterstreckungen“, es ging um eine Verwandlung des Ehrenamtes in ein Ersatzamt. Kirchliches Gefüge in der Krise.
Doch hier beginnen auch die Fragen, theologische wie praktische. „Wir gestalten die Zukunft von Kirche in den Gemeinden immer noch nach dem Modell der Vergangenheit. Auch ich habe dafür nicht die eine Lösung parat“, so bekennt Thomas Frings. Und seine Vermutung ist, dass die meisten Christen sich die Verhältnisse zurückwünschen, die vor dreißig Jahren existierten. Unsere Vision ist also eine ungeschichtliche Re-vision? Stimmt das wirklich?
Es ging einfach nach demselben Paradigma weiter …. hier beginnen Fragen.
„Mir fehlen Visionen und der Mut, neue Wege zu suchen“, so resümiert Thomas Frings: „Hinter das Vergangene mache ich ein großes Ausrufezeichen, vor dem Zukünftigen steht ein großes Fragezeichen. Mir ist die Perspektive abhanden gekommen, angesichts der Entwicklung und der Aussichten.“
Unter dem Radarschirm der Wahrnehmung
Es geht in der Tat um eine neue Vision, um das Sehen. Und es geht um die Deutung dieser Entwicklung, die zu einer gänzlich anderen Konfiguration kirchlichen Lebens führen wird. Führen wird? Schon geführt hat. Wer mit den Maßstäben des Vergangenen misst, wird in der Gegenwart nur den Mangel entdecken können. Wer aber versucht, sich auf die Gegenwart einzulassen, selbst in einen Umkehrprozess zu treten, der sieht anderes: dem wird auffallen, dass Christwerdung und Kirchenbildung in postvolkskirchlichen Zeiten ganz anders funktionieren.
Wer mit den Maßstäben des Vergangenen misst, wird in der Gegenwart nur den Mangel entdecken können.
Dass es neue Wege der Kirchenentwicklung gibt, eine neue Rolle des Priesters und des Hauptberuflichen sich abzeichnet. Es geht nicht darum, ein Modell der Kirche zu erhalten – es geht darum, zu entdecken, wie Gott heute Menschen bewegt, berührt. Erfahrungen gibt es zuhauf und sie sind dokumentiert. Und es stimmt nicht, dass man das alles nicht erleben und erfahren kann. Nur: Es braucht dafür eine tiefgreifende Umkehr und den Mut, den der Römerbrief einfordert: „…wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist.“ (Röm 12,2). Und es braucht eine neue Radikalität der Umkehr, wenn man prophetisch hinsieht, wie Jesaja formuliert: „Doch denkt nicht mehr an das, was früher geschah, schaut nicht mehr auf das, was längst vergangen ist! Seht, ich schaffe Neues; schon sprosst es auf. Merkt ihr es nicht?“ (Jes 43,18f).
… eine neue Radikalität der Umkehr.
Damit sind wir im offenen Meer eines Weges Gottes, den wir nur Schritt für Schritt erfahren und bedenken können. Dieser Zeitpunkt ist schon lange gekommen, und es ist schwer erträglich, wie wenig wir konstruktiv darüber sprechen. Es bleibt – in Theologie, Praxis und Bekenntnis – bei einer Kritik an dem bisherigen Modell. Dabei wäre es sinnvoll, sich von dem, was wächst und hervorbricht, lehren zu lassen. Es wäre sinnvoll, intensiv hinzuschauen und zu entdecken, was der Geist Gottes heute sagt, wie Gott heute sein Volk sammelt – und wie er es sendet. Und die Theologie hätte die schöne Aufgabe, diese Wirklichkeit neu von der Tradition her zu formulieren.
Das Werden neuer Gemeindeformen in den Jugendkirchen, die Entwicklung der gemeinsamen Verantwortung der Engagierten in lokalen Gemeindeformen, der Hunger nach nahrhaften liturgischen Feiern, die Vielfalt des caritativen Engagements, und das Werden neuer Gemeindeformen ist überall zu beobachten. Gleichzeitig beginnt ein Nachdenken darüber, wie diese vielfältigen Anfänge katechumenaler Art unterstützt und begleitet werden können. In ganz neuer Weise rücken Partizipation und Taufwürde in den Mittelpunkt, verwirklicht sich Schritt für Schritt eine Theologie des Volkes Gottes und eine neue Art und Weise, Kirche nicht als „Einrichtung“ oder „Dienstleister“ zu sehen, sondern gemeinsam Kirche zu werden. In vielleicht ungewohnter Weise, an ungewohnten Orten, und in ökumenischer Tiefe.
hinschauen und entdecken
Mit Gaudium et Spes gesprochen ginge es um Folgendes: „Im Glauben daran, dass es vom Geist des Herrn geführt wird, der den Erdkreis erfüllt, bemüht sich das Volk Gottes, in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, die es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind (GS 11).“ Das geschieht zu wenig. Es scheint der Mut der Verantwortlichen zu fehlen, mit ihren Priestern sich auf diesen Weg zu begeben. Und es scheint auch der Mut der Priester zu fehlen, mit dem ihnen anvertrauten Volk Gottes wirklich hinzuschauen und die Augen zu öffnen für die Wege Gottes heute.
„… was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind (GS 11).“
Ich würde behaupten, dass die Krise der Kirche heute – und besonders ihrer strukturfixierten Dimension – darin besteht, sich nicht auf eine solche Art des Sehens einzulassen und damit ohne Vision zu verkümmern. Diese Krise ist vor allem Krise der Priester und Verantwortlichen, die sich und ihren Dienst an eine untergegangene Gestalt und Form der Kirche binden – und die dem ihnen anvertrauten Volk verweigern, wozu sie eigentlich da sind: Wege zu eröffnen für eine neue Visionsfähigkeit, zu heiligen Experimenten.
Eine Vision … aber ein Prozess?
Die meisten Christen zeigen durch ihr Handeln, dass sie nicht zurückwollen in die Zeit vor 30 Jahren. In ihrem Handeln und in den kleinen Aufbruchsversuchen zeichnet sich eine Vision ab, die wir nicht machen, die kein Bistum durch Pastoralpläne produziert, sondern eher behutsam und achtsam ins Licht gehoben werden muss. „Es sprosst schon auf – merkt ihr es nicht?“
heilige Experimente
Was aber häufig fehlt, ist die Einladung, mit neuen Augen zu sehen – wahrzunehmen und zu lernen, dass wir geprägten Christen selbst uns auf den Weg machen können, unsere eigenen Kirchenbilder neu zu entwickeln. In vielen kirchlichen Kontexten stehen wir am Anfang solcher Prozesse. Da es um Mentalitätsverwandlung, um Umkehr und Paradigmenwechsel geht, braucht es dafür Zeit. Es braucht nicht so sehr neue Projekte und neue Aktivität, als vielmehr ein prozesshaftes Vergewissern des Weges, den Gott heute mit uns geht – es braucht eine Wachsamkeit für eine neue Kultur des Kircheseins, es braucht Einübung ins Sehen. Dann wird an vielen Orten sichtbar werden, wie reich der Geist uns segnet, und welche nächsten kleinen Schritte wir gehen könnten.
Mit Recht erwarten Menschen Orientierung und Wegweisung, nicht einfaches und überforderndes Weitermachen.
Bonhoeffers Verheißung
Was, wenn es also diese weiterführende Vision gibt? Was, wenn schon inmitten der Auflösungserscheinungen ein neues Paradigma ins Leben kommt? Was, wenn wir einfach nur kurzsichtig wären für das Handeln Gottes? Was, wenn Christsein heute bereits auf neue Weise erfahren wird und von dort aus Kirche neu zu entdecken und zu verstehen ist? Wenn wir sie nur deswegen nicht sehen können, weil wir kontinuierlich weitermachen und keiner unterbricht? Wenn wir vorbeilaufen an dem Momenten und Aufbrüchen, die sich zeigen? Oder wenn wir uns hauptsächlich mit Rettungsmaßnahmen des Gewachsenen beschäftigen?
Was, wenn wir einfach nur kurzsichtig wären für das Handeln Gottes?
1944 analysierte Dietrich Bonhoeffer angesichts der Umwälzungen in Gesellschaft und Kirche scharf dieses Untauglichsein für den Neuanfang: „Unsere Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein. Darum müssen frühere Worte kraftlos werden und verstummen, und unser Christsein wird heute nur aus zweierlei bestehen: im Beten und Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neugeboren werden aus diesem Beten und diesem Tun. Bis du groß bist, wird sich die Gestalt der Kirche sehr verändert haben. Die Umschmelzung ist noch nicht zu Ende, und jeder Versuch, ihr vorzeitig zu neuer organisatorischer Machtentfaltung zu verhelfen, wird nur eine Verzögerung ihrer Umkehr und Läuterung sein…“
Bonhoeffer: „… unser Christsein wird heute nur aus zweierlei bestehen: im Beten und Tun des Gerechten unter den Menschen.“
Das wird gerade wirklich, unter großen Schmerzen. Thomas Frings ist ein Beispiel. In der Tat bleibt es uns nicht erspart, das Sterben zu erleben, dass uns von einer geliebten Vergangenheit löst. Wenn wir doch wissen würden, dass das nötig ist, um Schritt für Schritt an anderen oder gleichen Orten das Neue zu entdecken, das schon da ist. Dann aber hätte uns Thomas Frings etwas ungleich Wichtigeres geschenkt als nur ein Bekenntnis zum Ende eines Systems. Er hätte uns den Mut geschenkt, endlich sehend zu werden für das Neue, das wächst.
… an anderen oder gleichen Orten das Neue zu entdecken, das schon da ist. … Es geht um einen Akt des Freiwerdens.
Aber wahr ist auch, dass dann nicht gnadenlos politisiert werden dürfte, was dieses Bekenntnis sein kann: es geht nämlich nicht mehr um die Kritik an dem bisherigen System, sondern um einen Akt des Freiwerdens. Das würde lohnen.
(Christian Hennecke, Bild: Rainer Sturm / pixelio.de)