Simone Birkel geht auf die Bedeutung eines Awareness-Angebotes von kirchlichen Anbieter:innen ein. Beim Open Air in Eichstätt konnte ein Awareness-Team, bestehend aus kirchlichen Kooperationspartner:innen sowie Studierenden des Studiengangs Religionspädagogik, wertvolle Einblicke gewinnen.
Die Notwendigkeit von Awareness-Konzepten
Nicht zuletzt die kontrovers diskutierten Konzerte der Gruppe Rammstein im Münchener Olympiazentrum vom 7. bis 11. Juni 2023 mit dem umstrittenen Bandsänger Till Lindemann haben die Bedeutung von Awareness-Angeboten in die öffentliche Aufmerksamkeit gehoben. Die Süddeutsche Zeitung befürwortet die Aktion der Stadt München, bei den Rammstein-Konzerten verstärkt auf Awareness-Teams zu setzen, weil sie „Zeichen setzen. Aufklären. Ein Bewusstsein schaffen und schärfen“.[1] Damit wird auch die Bedeutung von Awareness bereits umschrieben. Der englische Ausdruck to be aware meint so viel wie „sich bewusst sein“, „sich informieren“ bzw. „für gewisse Problematiken sensibilisiert sein“. Gerade im Festivalbetrieb nimmt die Bedeutung von Awareness-Angeboten insbesondere nach der Coronapandemie sprunghaft zu. Der Wunsch, aufmerksam zu sein für Anliegen, die jenseits der Schwelle der bei Festival üblichen Security und Blaulicht-Organisationen liegen, steht an erster Stelle. Damit wird einerseits auf den wachsenden Gesprächs- und Orientierungsbedarf von jungen Menschen reagiert, der in der durch die Pandemie hervorgerufenen Vereinzelungssituationen verstärkt beobachtet wurde. Gemeint sind aber auch körperliche und psychische Missachtungen von persönlichen Grenzen oder verletzendes und grenzüberschreitendes Verhalten, wie z.B. sexistische, rassistische, homo-, transfeindliche, ableistische oder vergleichbare Übergriffe.
Awareness-Konzept und -team .. signalisieren … die Ablehnung von Diskriminierungen und grenzverletzendem Verhalten
Mit einem Awareness-Konzept und -team vor Ort signalisieren die Veranstalter:innen deutlich die Ablehnung von Diskriminierungen und grenzverletzendem Verhalten. Oftmals sind sich allerdings Künstler:innen, Mitarbeiter:innen und Festivalbesucher:innen aufgrund ihrer Privilegien (Herkunft, Hautfarbe, Begehren, geschlechtliche Identität, Alter, körperliche Einschränkungen, Geld usw.) nicht bewusst, dass sie anderen unfair oder unsensibel gegenübertreten. Deswegen gilt es beim Festival selbst einen Raum zu schaffen, in dem sich ganz unterschiedliche Menschen mit ihren je individuellen Erfahrungen und Hintergründen willkommen fühlen können, ohne Angst vor Diskriminierung oder Übergriffe jedwelcher Art haben zu müssen. Ein Rückzugsort, in dem jede:r sich wohlfühlen kann, in dem die Grenzen der:des anderen respektiert werden und an dem sich auch um die unterschiedlichen Bedürfnisse gekümmert wird.
Diverse Angebote von Festivalseelsorge
In den letzten Jahren gibt es im deutschen Sprachgebiet bereits verschiedene Angebote aus dem kirchlichen Bereich, die sich meist unter dem Stichwort „Festivalseelsorge“ aus der jugendpastoralen Arbeit heraus etabliert haben. Das Anliegen, dort zu sein, wo die (jugendlichen) Menschen sind, war und ist wohl Hauptgrund für die verschiedenen Anbieter:innen. Am bekanntesten ist im deutschsprachigen Raum wohl das Angebot der Festivalseelsorge beim Wacken Open Air, das von Tilman Lautzans 2010 gegründet wurde und nun von Annika Woydack weitergeführt wird.[2] Die Nachfrage des Angebotes auf dem Heavy-Metal-Konzert mit rund 75.000 Besucher:innen hat sich 2022 verdoppelt.[3] Das von der Nordkirche entwickelte Festivalseelsorge-Konzept diente auch als Vorlage für Angebote in der Schweiz[4] und kann auch für kleinere Festivals adaptiert werden.
Ein blinder Fleck in der Forschung
Sucht man in den wissenschaftlichen Datenbanken nach dem Stichwort „Festivalseelsorge“, so werden hier bislang keine Treffer ausgegeben. Grund genug, um im Schwerpunkt Jugendpastoral ein Lehr-Lern-Projekt auszuarbeiten, bei dem die Methode des Service-Learnings mit dem hochschuldidaktischen Format des forschenden Lernens verknüpft wird. Beim Service Learning geht es einerseits darum, die Studieninhalte mit gemeinwohlorientiertem Engagement zu verknüpfen, indem Lehrende und Studierende mit Partner:innen aus verschiedenen Bereichen (Soziales, Kultur, Sport, Umwelt oder Bildung) zusammenarbeiten und in gemeinsamen Projekten ihr Fachwissen und ihre Kompetenzen einbringen. Beim forschenden Lernen erarbeiten sich die Studierenden unter Begleitung selbständig Wissen, welches für die Bearbeitung der Semesteraufgabe und der daraus resultierenden Forschungsfrage(n) relevant ist. In beiden Bereichen ist eine enge Verzahnung zwischen den fachlichen Inhalten und der praktischen Anwendung notwendig, da erst durch die praktische Erprobung überhaupt eine Grundlage für ein Forschungssetting gegeben werden kann, weshalb auch in gewisser Weise von „Reallaboren“[5] gesprochen werden könnte.
enge Verzahnung zwischen den fachlichen Inhalten und der praktischen Anwendung
Im Wintersemester 2022/23 wurden in Zusammenarbeit mit der Jugendstelle des Bistums Eichstätt sowie der Malteserpastoral der Diözese Eichstätt Grundlagen für ein Festival-Konzept im Sinne von Awareness für die Eichstätter Jugendkulturszene erarbeitet. In enger Absprache mit dem Joke e.V., der seit über 30 Jahren als Veranstalter das Open Air am Berg bei Eichstätt verantwortet, wurde das Awareness-Angebot zum ersten Mal im Mai 2023 umgesetzt. Im Vorfeld wurden von den Studierenden mögliche Forschungsfragen und Methoden zur Bearbeitung entwickelt, die begleitend zur Projektphase im dazu gehörigen Portfolio bearbeitet werden sollen. Überlegt und ausgeführt werden sollten außerdem geeignete Möglichkeiten, die Erkenntnisse öffentlichkeitswirksam zu präsentieren, z.B. Artikel, Begleit-Homepage, Film mit der Presseabteilung etc.[6]
Um für das Konzept einerseits Erfahrungen zu sammeln, wurden im Vorfeld des Festivals Expert:inneninterviews mit Festivalseelsorger:innen geführt. Im Nachgang wurden dann die rund 250 ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen des Open Airs am Berg mittels einer Online-Befragung dazu befragt, welche Bedeutung für sie ein Awareness-Konzept hat, welches von kirchlichen Akteur:innen geplant und durchgeführt wurde. Die endgültige Auswertung steht derzeit noch aus, wichtige erste Ergebnisse sowie die Erfahrungen der Studierenden bei diesem Service-Learning-Projekt können jedoch bereits jetzt festgehalten werden.
Definition: Festivalseelsorge als Dienstleistung
Festivalseelsorge versteht sich im Sinne eines Awarenesskonzepts als unaufdringliche Dienstleistung an (jungen) Menschen, ihnen bei Fragen, Sorgen, Nöte oder auch freudvollen Momenten nahe und ansprechbar zu sein. Es wird zudem ein Schutzraum eingerichtet, den alle jederzeit aufsuchen können. In der Regel ist es ein eigenes Zelt, das an einem gut erreichbaren Standort auf dem Festivalgelände platziert ist. Im konkreten Fall war dies durch die Nähe zum Sanitätsdienst und den mobilen Toiletten auf dem Zeltplatz gewährleistet, da hier naturbedingt eine erhöhte Besucher:innen-Frequenz zu erwarten ist. Beim Open Air am Berg in Eichstätt, einem Festival mit ca. 4000 Besucher:innen, wurde vom 25.–27. Mai 2023 diese Dienstleistung als Awareness-Angebot/Festivalseelsorge in einem Vier-Schicht-Betrieb rund um die Uhr in Gemeinschaftsarbeit angeboten. War es anfangs ungewiss, ob das Angebot überhaupt angenommen wird, zeigte sich schnell, dass sehr viele Besucher:innen dieses Angebot der Kirche überaus schätzten.
Kooperation als unabdingbare Voraussetzung
Die Erfahrung aus Festivalseelsorge-Angeboten zeigt, dass sie insbesondere von Engagierten in der jugendpastoralen Arbeit entwickelt wurden, welche Leerstellen in der pastoralen Arbeit identifiziert haben. Das Aufsuchen von Orten, wo die Menschen sind, spielt dabei eine wichtige Rolle. Kulturbetriebe und -vereine bieten diesbezüglich hervorragende Kooperationsvoraussetzungen. Auch die Malteser-Pastoral, die ebenfalls nah an den Menschen sein möchte, ist hier eine passende Kooperationspartnerin, zumal beispielsweise die Malteser auch durch den Sanitätsdienst vor Ort wichtige Erfahrungen einspielen können. Es hat sich herausgestellt, dass solche aufwändigen Projekte gewinnbringend in multiprofessionellen Teams verortet sein sollten. In Eichstätt waren Hauptamtliche der Jugendpastoral, der Notfallseelsorge sowie der Innovationspastoral beteiligt. Die Studierenden konnten von deren Erfahrung enorm profitieren.
Persönlichkeitsentwicklung der Festivalseelsorger:innen
Dass die Reflexionsprozesse in Service-Learning-Projekten die persönliche Entwicklung der Studierenden fördern und zugleich Kompetenzen für die berufliche und persönliche Zukunft entwickelt wurden, zeigen die Feedbacks der Studierenden. Aus einer Auswahl von Future Skills[7] haben die Studierenden je fünf ausgewählt, die ihrer Meinung nach durch das Projekt besonders gefördert und ausgebildet wurden. An erster Stelle wurden Empathie sowie Innovation & Co-Creation erwähnt. Es folgten Achtsamkeit, Begeisterung, Vertrauen und Beziehung & Kollaboration sowie eine Vielzahl von individuellen Einschätzungen: „Alles in allem habe ich eine extreme Wertschätzung seitens der Besucher:innen erfahren. Es kamen ganz unterschiedliche Menschen verschiedenen Alters: Menschen, die nur kurz ihr Handy laden wollten oder eine Decke brauchten und Menschen, die für mehrere Stunden bei uns verweilten und Gespräche führten. … Ich war überrascht und erfreut darüber, wie gut unser Angebot angenommen wurde und wie sehr wir wertgeschätzt wurden.“
—
Prof.in Dr.in Simone Birkel ist Professorin für Religionspädagogik an der Fakultät für Religionspädagogik und Kirchliche Bildungsarbeit der Kath. Univ. Eichstätt-Ingolstadt. Sie beschäftigt sich mit Transformationsprozessen im Kontext von Pastoraltheologie und religiöser Bildung für nachhaltige Entwicklung (rBNE). Sie ist u.a. Mitglied bei AGENDA – Forum Katholische Theologinnen e.V.
Fotos: Ann-Kathrin Scherbel, Marvin Schmiedel
[1] Kommentar von Hofmann, René, Awareness-Teams contra Lindemann, SZ-Ausgabe vom 5. Juni 2023, online unter https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-rammstein-awareness-teams-kommentar-konzert-1.5902476.
[2] https://www.nordkirche.de/nachrichten/nachrichten-detail/nachricht/erste-kirchenleitung-berief-annika-woydack-als-neue-landesjugendpastorin/
[3] https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/wacken_open_air/Schwarze-Tage-Was-Seelsorger-beim-Wacken-Open-Air-erleben,seelsorge164.html
[4] Vgl. Althaus, Michael, Hohe Nachfrage nach Seelsorge beim Wacken Open Air, in: katholisch.de, 5.8.2022, online unter https://www.katholisch.de/artikel/40466-hohe-nachfrage-nach-seelsorge-beim-wacken-open-air.
[5] Vgl. dazu Michael Rose, Matthias Wanner, Annaliesa Hilger: Das Reallabor als Forschungsprozess und -infrastruktur für nachhaltige Entwicklung. Konzepte, Herausforderungen und Empfehlungen. In: NaWiKo Synthese Working Paper No. 1. Nachhaltiges Wirtschaften, 2018.
[6] Die Ergebnisse der Öffentlichkeitsarbeit finden sich hier: „Rock on – aber sicher“: Studierende als Festivalseelsorger beim Open Air am Berg unter https://www.ku.de/die-ku/kontakt/presse/presseinformationen-detail/rock-on-aber-sicher-studierende-als-festivalseelsorger-beim-open-air-am-berg; Instagram-Takeover unter https://www.instagram.com/reel/Cs6KuNzOdSF/; Zuhören, auch wenn es laut ist. Beim Eichstätter Open Air am Berg sind erstmals Festivalseelsorger mit dabei. In: Franzetti, Andrea, Zuhören, auch wenn es laut ist. In: Kirchenzeitung für das Bistum Eichstätt 86 (2023) 4-5; Festivalseelsorge am Eichstätter Open Air, Videobeitrag des Fernsehmagazins aus dem Bistum Eichstätt kreuzplus, online unter https://www.kreuzplus.de/mediathek/detail/news/special-olympics-festivalseelsorge-und-radwegkirche-kreuzplus-vom-30-juni/
[7] Spiegel, Peter u.a. (Hg.), Future Skills. 30 zukunftsentscheidende Kompetenzen und wie wir sie lernen können. Das Praxisbuch für Zukunftsgestalter, München 2021.