Wird Erlösung in der heutigen westlichen Gesellschaft nicht mehr gebraucht – und wurde sie vom Konzept der Fitness abgelöst? Bernd Hillebrand (Graz) über biblische Hintergründe eines erneuerten Verständnisses von Heilung als Erlösung.
Fit-Sein und gesundheitsbewusst leben sind werbungsimmanente Slogans und geförderte Ideale von Gesundheitskassen. Die persönliche Fitness steht gerade in der Freizeitgestaltung immer mehr im Vordergrund. Durch Fitness steht ein Versprechen im Raum, gesund zu bleiben und somit länger zu leben. Beides scheinen Qualitäts- und Sinnmerkmale der eigenen Identität und des eigenen Lebens zu sein. Die „Shell-Studie: Jugend 2024“ erforscht Werte von jungen Menschen, zu denen auch der Wert eines gesundheitsbewussten Lebens gehört. 85% beanspruchen diesen Wert für sich. Gleichzeitig sagt die Studie, dass angesichts von vielen gesellschaftlichen Krisen jede:r des eigenen Glückes Schmied ist. Jede:r ist also selbst für das eigene Glück, für die eigene Fitness und für die eigene Gesundheit verantwortlich und es klingt dabei an, dass wer sich genug anstrengt, dieses Ziel auch erreichen kann. Eine fitte und gute Gesundheit scheint der Sehnsucht mehr zu entsprechen, als von den Anstrengungen des Lebens oder gar der Sünde erlöst zu werden.
Man braucht keine Erlösung von außen, sondern kann sie sich alternativ selbst schaffen.
Die Dimension der Erlösung – als der eigentliche und tiefste Grund und das Ziel christlichen Glaubens und kirchlicher Verkündigung und Feier – scheint in die Krise gekommen zu sein, weil „Erlösung“ in der Gegenwart westeuropäischer Gesellschaften offenbar so nicht mehr gebraucht wird. Man rechnet mit vorhandenen Alternativen oder mehreren Optionen zum Erlösungsbedarf und braucht daher keine Erlösung von außen, sondern kann sie sich alternativ selbst schaffen. Ob die Ursachen jedoch in einer sich verändernden Gesellschaft, die eventuell keine Sehnsucht mehr nach Erlösung hat, oder in einer Krise der Verkündigung innerhalb von Kirche liegen, soll in den folgenden Überlegungen besprochen werden.
Gesellschaftliche Veränderungen
Die gegenwärtige Gesellschaft ist in ihrer Unübersichtlichkeit vor allem von zwei Dingen geprägt: von pluralen Möglichkeiten und digitalen Verknüpfungen. Dadurch gibt es immer mehr Möglichkeiten und Alternativen. Ihre Verknüpfungen sind kaum überschaubar. Das Leben und der Alltag sind von vielen Optionen geprägt. Optionalität ist der Marker der Spätmoderne. Er zeichnet sich dadurch aus, dass vieles möglich ist, aber nichts notwendig (Joas, Glaube als Option). Durch die vielen Möglichkeiten ist die Wahlfreiheit größer, aber gleichzeitig das Leben auch unsicherer geworden. Die dadurch entstandene unüberschaubare Komplexität, die sich meist im Moment erst entscheidet, lässt sich in Ursache und Wirkung kaum unterscheiden. Es ergeben sich Situationen, die eventuell eine unbefriedigende oder gar eine unerträgliche Lage darstellen, aber in deren Unüberschaubarkeit schwer zu benennen ist, was die Ursache ist oder wo die mögliche Schuld liegt. Deshalb wird dann auch unklar, wovon man erlöst werden möchte.
Das Leben wandelt sich und findet in seiner Multioptionalität Alternativen. Davon geht die Spätmoderne aus und will davon auch nicht erlöst werden.
Vielmehr besteht bei vielen die Zuversicht, dass es auch in aussichtslosen Situationen im Raum der vielen Möglichkeiten eine Alternative gibt. Ein nochmaliger kurzer Blick auf die aktuelle Shell Jugendstudie kann davon berichten, dass es bei jungen Menschen ein Vertrauen gibt, auch in den großen Krisenthemen mögliche Lösungsalternativen zu finden. Erlösung scheint durch die Erfahrung von permanentem Wechsel und Transformationen natürlich gegeben zu sein. Dadurch stellt sich die Frage nach Erlösung von außen nicht mehr, schon gar nicht von Schuld oder Sünde. Das Leben wandelt sich und findet in seiner Multioptionalität Alternativen. Davon geht die Spätmoderne aus und will davon auch nicht erlöst werden.
Biblische Heilungs- und Erlösungsbilder
Rettung oder Erlösung stehen im Neuen Testament im Zusammenhang mit dem Heil, das in und durch Jesus erfahrbar wird, aber noch nicht endgültig erfüllt ist. Dieses Heil als Reich Gottes kommt besonders den Armen und Ausgegrenzten der Gesellschaft zu. Die neutestamentlichen Erlösungsbilder zeigen sich deutlicher als Heilungsbilder und stehen erst nach der Heilungserfahrung in einem Erlösungskontext. Der blinde Bartimäus (Mk 10,46-52) lässt sich von den Menschen um ihn herum nicht abhalten, Jesus um Heilung zu bitten. Der Zöllner Zachäus (Lk 18,1-10) hingegen macht zuerst eine Erfahrung des bedingungslosen Angenommenseins durch Jesus, was in ihm dann zur Heilung und Umkehr führt. Auf gleiche Weise die Samariterin am Jakobsbrunnen (Joh 4): Sie kommt mit Jesus ins Gespräch und fühlt sich ganz und unbedingt von ihm angenommen, so dass sie ihre ganze Leidensgeschichte erzählen kann, was in ihr Heilung bewirkt. Bedingungslos angenommensein führt gleichsam zur Heilung.
Es bedarf einer Neuentdeckung der Beziehungs- und Begegnungsbilder Jesu, die heilen.
Anders wird das Kreuzesgeschehen Jesu gedeutet. Tod und Auferstehung werden nachösterlich zum Erlösungsbild. Paulus macht die Erlösung an Kreuz und Auferstehung Christi fest. Sie ist für ihn der Kern des Evangeliums, demgemäß Christus für unsere Sünden starb und auferweckt wurde um unsrer Rechtfertigung willen (vgl. Röm 4,25). Mit dieser Kreuzesdeutung bekommt die Erlösung einen starken Sündenbezug. Diese Verbindung prägt bis heute das Erlösungsverständnis und die Erlösungsbilder der Verkündigung. Sie blenden allerdings die Heilungsbilder und die Heilungslogik des Lebens Jesu aus. In diesen Bildern und in dieser Logik entsteht Heilung immer durch die Beziehung zwischen Jesus und der jeweiligen Person, die eine Erfahrung der bedingungslosen Anerkennung ohne Gegenleistung macht. Deshalb, meine ich, bedarf es einer Neuentdeckung der Beziehungs- und Begegnungsbilder Jesu, die heilen. Sie stellen die Auferstehung in einen Beziehungskontext, der dann zu Erlösung wird. Um einen neuen Zugang zur Erlösungsthematik zu erhalten, bedarf es also einer neuen Verhältnisbestimmung von Erlösung und Heil. (Vgl. dazu ausführlicher: Schrage, Kreuzestheologie und Ethik im Neuen Testament)
Die mit christlicher Erlösung in Verbindung gebrachten Begriffe wie „Sünde“ und „Schuld“ fehlen im pluralen Deutungskontext spätmoderner Menschen
Heils- und Erlösungsperspektive
Lange stand die Erlösungsbotschaft im primären Fokus der Verkündigung. Unmittelbar mit ihr wurde die Schuld-Vergebungs-Thematik ins Zentrum gerückt und der Mensch vorwiegend als Sünder zur Sprache gebracht. Der moderne Mensch hingegen sucht nach Glück und Gesundheit, bringt diese Sehnsucht jedoch nicht in einen Bezug mit Erlösung. Die mit christlicher Erlösung in Verbindung gebrachten Begriffe wie „Sünde“ und „Schuld“ fehlen im pluralen Deutungskontext spätmoderner Menschen, weil sie in ihrer komplexen Vernetzungsstruktur nicht eindeutig sind. Somit ist der Erlösungsbegriff irrelevant geworden. Die Ursache dafür liegt jedoch nicht in der Dekadenz der Spätmoderne, sondern in einer Vernachlässigung der Heilsperspektive des Lebens Jesu in der christlichen Verkündigung.
Der Theologe Christoph Böttigheimer zeigt in beeindruckender Weise auf, wie in den Begegnungsgeschichten Jesu eine bedingungslose Anerkennung von Menschen ohne Gegenleistung zur Heilung geführt hat (Christoph Böttigheimer, Bedingungslos anerkannt). Ganz- und Heil-sein erleben die Menschen in der Begegnung mit Jesus als Zusage bedingungsloser Anerkennung in Wort und Tat. Sie ist die Grundlage für Heil und gelingendes Leben. Die Erlösungsperspektive hingegen resultiert aus der Heilsperspektive und ist letztlich die Konsequenz dieser selbstlosen Liebe, die nicht auf Gegenleistung setzt. In letzter Konsequenz führt das Risiko der Bedingungslosigkeit bis zum Tod am Kreuz. Gerade darin, im Freigeben des Gebens ohne Erwartung einer Gegenleistung, liegt Erlösung und Befreiung einer befreiten und sich gebenden Liebe.
In der Erlösung geht es dann weniger um die Sünden, als vielmehr um die Erlösung von Perfektionismus, Berechnung oder Selbsterlösung.
Neuentdeckung bedingungsloser Anerkennung als Erlösung
Die Konsequenz der gemachten Überlegungen liegt in einer Neuentdeckung der Heilsperspektive, um aus dieser Perspektive die Erlösungsperspektive wieder freizulegen. Der Weg dazu geht über die Menschwerdung Jesu, in der Gott seine selbstlose Liebe riskiert und gerade in dieser Torheit Heilung liegt. Er riskiert darin Nutzlosigkeit seines Handelns, wodurch seine Liebe erst bedingungslos wird. Auf die hilfreiche Rezeption der Bedingungslosigkeit und Nutzlosigkeit des Handelns Jesu durch Theolog:innen, wie John Caputo, Judith Butler oder Richard Kearney, kann an dieser Stelle nur verwiesen werden.
In der Erlösung geht es dann weniger um die Sünden, als vielmehr um die Erlösung von Perfektionismus, Berechnung oder Selbsterlösung. Sie wäre dann eine Befreiung von gesetzten Bedingungen, und gerade darin liegt in einer berechnenden und neoliberalen Spätmoderne eine Sehnsucht, eine Sehnsucht nach Heilung – letztlich auch als Heilung von Machbarkeits- und Fitnessideologien.
Literatur
- Böttigheimer, Christoph, Bedingungslos anerkannt, Freiburg 2018.
- Calmbach, Marc u.a., Wie ticken Jugendliche? 2024. Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland (Schriftenreihe / Bundeszentrale für Politische Bildung; Band 11133), Bonn 2024.
- Joas, Hans, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg 2013.
- Kearney, Richard, Revisionen des Heiligen. Streitgespräch zur Gottesfrage, Freiburg 2019.
- Schrage, Wolfgang, Kreuzestheologie und Ethik im Neuen Testament, Göttingen 2004.
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