Theaterinszenierung des Jahres 2017: Mit dem Theaterstück „Five Easy Pieces“ des Regisseurs Milo Rau ergeben sich für Wolfgang Beck ungewohnte Einblicke in Abgründe, die sonst meist weit weggeschoben werden.
Es gehört zum menschlichen Umgang mit Skandalen, Verbrechen und Abgründen, sie in möglichst großer Distanz zur eigenen Lebenswelt zu verorten und damit handhabbar zu machen. Wer Abgründiges skandalisierend zum Verhandlungsgegenstand erklärt, reduziert zugleich dessen Wirkung auf die eines bloßen Themas, zu dem sich jeder und jede vermeintlich neutral verhalten kann.
Das gängige Schema:
Abgründiges weit wegschieben!
Es ist das Prinzip, das den Dispositiven der Reinheit zugrunde liegt: Das, was Abscheu erregt, bleibt damit außerhalb des eigenen Lebensradius und wird von den Betrachter*innen getrennt. So wird es möglich, vor den dunklen Seiten menschlicher Existenz die Augen zu schließen, sich abzuwenden und damit ein dualistisches Sortieren der Welt in Gute und Böse zu betreiben.
Gegen diese menschliche Neigung der Distanzierung setzt der Regisseur Milo Rau sein Stück „Five Easy Pieces“. Darin thematisiert er die Gewaltverbrechen des pädophilen Kindermörders Marc Dutroux. Sie wurden in den 1990er-Jahren für ganz Belgien zu einem traumatischen Ereignis, aus dem nicht zuletzt Misstrauen gegenüber den maroden Institutionen des Staates erwuchs.
Milo Rau mutet sich und dem Theater die schmerzenden Themen zu.
Milo Rau greift dabei mit seiner Produktionsfirma IIPM (International Institute of Political Murder) in Kooperation mit dem Theater Campo in Gent erneut ein Thema auf, das gerade wegen seiner großen gesellschaftlichen Präsenz in Belgien anhaltende Brisanz besitzt. Gerade wurde die Inszenierung, die in diesem Herbst auch an verschiedenen Theatern in Deutschland gezeigt wird, erneut ausgezeichnet und von „Theater heute“ als „Inszenierung des Jahres 2017“ gewürdigt. Dass es dabei auch zu Aufführungsverboten durch Ordnungsämter kam, weil ausgerechnet in diesem Stück gegen Bestimmungen zur Beteiligung von Kindern an Theateraufführungen verstoßen worden war, kann als Indiz dafür gewertet werden, dass hier die gesellschaftliche Sensibilität besonders ausgeprägt ist.
Milo Rau greift zu zwei Instrumenten, mit denen insbesondere in seiner Heimat jeder Ansatz einer Strategie der Zuschauer*innen zur Distanzierung von den abgründigen Taten des Marc Dutroux und seines Umfeldes verhindert wird: Zum einen kommt es zur Einbindung in eine Reihe von traumatischen Gewalt- und Schulderfahrungen, wie sie besonders in der Reflexion der Kolonialgeschichte im zentralafrikanischen Kongo und den jüngsten Ereignissen der Brüsseler Terroranschläge sichtbar werden. So werden die gewalttätigen Auseinandersetzungen am Ende des Belgischen Kolonialismus im zentralafrikanischen Kongo in das Stück integriert.
Gewalt in verwirrenden Zusammenhängen
Zum anderen mutet er seinem Publikum die Suche nach einer ungewohnten eigenen Positionierung gegenüber den Verbrechen zu, indem er das Stück von Kindern spielen und die einzelnen Akteure des Geschehens – Täter, Polizei, König, Opfer, Eltern – von ihnen repräsentieren lässt. Die Kinder wollen lernen, wie Schauspieler*innen Emotionen darstellen. Und sie bilden dabei die abgründigsten Ereignisse und Situationen ab. Spielerisch nehmen sie Einblick in die Dramen und Absurditäten, die selbst Erwachsene zu überfordern drohen, und können ihnen mit der nächsten Szene wieder entkommen:
Ein Kind als überforderter Polizeibeamter. Kinder als verzweifelte Eltern von Entführungsopfern. Ein Kind als Verbrecher Dutroux. Und nahe an der Grenze zum Unerträglichen auch ein entführtes Kind, das mit seinen nie angekommenen Briefen an die Eltern aus dem dunklen Verlies die Verzweiflung der Opfer ohne falsche Rücksicht zumutet.
Ausgerechnet Kinder spielen das nahezu Unerträgliche.
Fünf Szenen werden von den Kindern als Ausbildungskanon des realistischen Dramas bearbeitet. Die Szenen werden durchlaufen, als ließe sich in Anspielung auf die fünf Klavierstücke für den kindlichen Musikunterricht von Igor Stravinsky ein Grundkurs der Fertigkeiten des Theaters absolvieren. Doch während sie das Theaterspielen lernen, bekommt das Publikum eine Ahnung davon, was in der Überwindung des üblichen Mechanismus des Selbstschutzes zu lernen wäre. Die Abgründe, die mit den großen Dramen verbunden sind, lassen sich durch das Spiel der kindlichen Akteure eben nicht in eine Distanz bannen. Sie rücken den Zuschauer*innen auf den Leib und werden ihnen zur schwer erträglichen Zumutung. Gerade darin, in der Überwindung der weithin etablierten Strategie, liegt der große Wert dieser beeindruckenden Inszenierung.
Auch die katholische Kirche betreibt die Isolierung – zum Selbstschutz?
In keiner anderen Problematik wird die menschliche und gesellschaftliche Distanzierung so umfänglich und gesellschaftlich akzeptiert betrieben, wie im Umgang mit Pädophilie und sexueller Gewalt. Die Entlassung von Straftätern bewirkt häufig die Fortsetzung einer gesellschaftlichen Ächtung. Dieses Isolieren von Menschen aufgrund ihrer Taten und ihrer Veranlagungen ist weithin akzeptiert, ja populistisch gefordert. So haben sich auch in der katholischen Kirche Maßnahmen zum möglichst weitgehenden Absetzen von Tätern durchgesetzt, wohl auch um weitergehende Strukturanfragen damit zu unterbinden. Darin entspricht sie mehr als an jeder anderen Stelle unreflektiert gesellschaftlichen Erwartungen.
Die Suche nach einem alternativen Umgang mit dem, was abstößt.
Mit dem Theaterstück von Milo Rau entsteht dagegen das Beispiel eines ringenden Suchens nach alternativen Auseinandersetzungen mit menschlichen Abgründen, ohne diese damit zu verharmlosen. Im Gegenteil, hier wird die vielfältige Verwobenheit der dunklen Seite menschlichen Lebens mit der je eigenen Existenz eingefordert. Leichter wäre es zweifellos, das Böse lediglich entschieden zu verurteilen und damit vom gesellschaftlichen Leben zu separieren.
Durch die Besetzung der Rollen durch mehrere Kinder-Ensembles ist mittlerweile eine Fortsetzung der Aufführungen in verschiedenen europäischen Theatern möglich, so im verbleibenden Herbst 2017 auch in Leipzig, Hamburg und Köln.
So kann politisches Theater aussehen.
Milo Rau, der in den zurückliegenden 15 Jahren mehr als 50 Stücke verfasst und veröffentlicht hat, gilt damit nicht nur als sehr produktiver Autor und Regisseur. Ihm gelingt, anknüpfend an Stücke wie „Die letzten Tage der Ceausescus“, dem „Hate Radio“ mit einem Einblick in den Ruandischen Bürgerkrieg oder mit „Das Kongo Tribunal“, auch ein im besten Sinne politisches Theater. Dieses politische Theater sensibilisiert für die dramatischen Umwälzungen jenseits der Titelseiten. Diese verschwiegenen und ignorierten Dramen schaffen es nur selten, wahrgenommen und in ihren monströsen Dimensionen erahnt zu werden. Deshalb gilt der Arbeit von Milo Rau größte Hochachtung. Ihm gelingt es, das Theater als Herausforderung und Zumutung zu gestalten.
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Hintergrundinformationen und Termine von Aufführungen:
www.international-institute.de
Foto: Phile Deprez