Julian Tappen entdeckt mit Eva von Redecker die Gottesdienste in der Klimabewegung als Politische Theologie des Dazwischen.
„Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Diesen Ohrwurm hatten Sie lange nicht mehr? Bitte sehr, gern geschehen.) Der Klassiker ertönt noch heute vor allem in den Kleinkindergottesdiensten in Pfarrsälen und Seitenkapellen der Kirchen im Land und klingt dann mitunter wie eine Vergewisserung, dass es ja auch mit zwei bis drei Familien ganz nett sein kann. Im schlimmsten Fall fängt jemand zu klatschen an. Das Lied hat mitunter aber auch eine institutionenkritische Spitze, die sich selbstbewusst gegen vermeintlich amtliche Vermittlungsnotwendigkeiten zum Absoluten stellt. Es reichen eben tatsächlich zwei bis drei, um den Schöpfer zu loben, Unerlöstheit anzuklagen oder sich des Segens Gottes zu vergegenwärtigen – Ort, Zeit und Weihe sind dafür irrelevant. Mit anderen Worten: Gottesdienst feiern lässt sich auch an den unmöglichsten Orten und unter den unmöglichsten Umständen.
Wird hier religiöser Glaube instrumentalisiert für politische Zwecke?
Zu diesen „unmöglichen“ und schon dem Anblick nach geradezu dystopischen Orten gehört sicherlich auch die Abbruchkante des Tagebaus Garzweiler, an der die Gruppe „Kirche(n) im Dorf lassen“ sich regelmäßig für die Feier von Gottesdiensten zusammengefunden hat – bis die nordrheinwestfälische Landesregierung mit tatkräftiger Unterstützung der Polizeien der umliegenden Bundesländer das zum Symbolort der Klimagerechtigkeitsbewegung gewordene Dorf Lützerath den Abrissbaggern und Radladern von RWE übergeben hat.[1] Gottesdienste an der Abbruchkante. „Unmöglich!“ mögen Kritiker:innen gedacht haben – und dabei nicht nur die Lauterkeit des Anliegens der Betenden, sondern zugleich die reale Möglichkeit eines „echten“ oder zumindest angemessenen Gottesdienstes unter den gegebenen widrigen Bedingungen in Frage gestellt haben. Verbirgt sich letztlich hinter der vermeintlich liturgischen Praxis nichts weiter als politischer Protest im religiösen Gewand? Wird hier religiöser Glaube instrumentalisiert für politische Zwecke – und sei es für die gute Sache?
Nun hängt offensichtlich die Frage der Bewertung der Gottesdienste an der Abbruchkante am Verständnis religiösen Glaubens überhaupt. Insbesondere die Klärung des Verhältnisses der auch mit bestimmten materialen Gehalten verbundenen epistemischen Einstellung „Glauben“ – und in deren Kontext auch das „Hoffen“ und „Vertrauen“ – auf der einen Seite und einer tätigen Praxis des Glaubens auf der anderen Seite ist dabei vonnöten. Johann Baptist Metz hatte das Verhältnis in seiner zentralen Bestimmung christlichen Glaubens als Identitätsverhältnis gesetzt: „Der Glaube der Christen ist eine Praxis in Geschichte und Gesellschaft, die sich versteht als solidarische Hoffnung …“. Tatsächlich ist damit die Möglichkeit eröffnet, die „unmöglichen“ Gottesdienste an dem „unmöglichen“ Ort der Abbruchkante des Tagebaus als genuinen Akt des Glaubens zu verstehen – und dies gerade in deren vermeintlicher Ununterscheidbarkeit zum „bloß“ politischen Protest in religiösem Gewand.
Ein genuiner Akt des Glaubens
Aufschlussreich sind dazu die Überlegungen der Philosophin Eva von Redecker, die inzwischen mit ihren beiden letzten Monographien „Revolution für das Leben“ und „Bleibefreiheit“ auch einem breiteren philosophisch interessierten Publikum bekannt geworden ist. In ihrer Dissertationsschrift „Praxis und Revolution“ bedenkt sie die Möglichkeit radikalen gesellschaftlichen Wandels aus den Zwischenräumen der festgefahrenen, etablierten, behäbigen, d. h. zu Strukturen geronnenen Praktiken einer Gesellschaft heraus. Dass ein Verständnis religiösen und näherhin christlichen Glaubens hier anschlussfähig ist, scheint mir auf der Hand zu liegen: Denn christliche Hoffnung baut ja zuinnerst darauf, dass in der Praxis Jesu von Nazareth eine derart radikale Umkehrung der bestimmenden Verhältnisse angebrochen ist, dass der ‚Nullpunkt‘ der Geschichte erreicht und eine neue Zeitrechnung einzuführen ist. Zumindest dass mit der Zeitrechnung hat ja einigermaßen geklappt. Was bedeutet es dann aber, als Christ:in einerseits in der Nachfolge Jesu, und andererseits und gleichermaßen noch immer in den bestehenden Strukturen zu leben? Wo liegen die Zwischenräume, in denen schon ein Leben lebbar ist, in der Form eines als ob bereits zur vollen Wirklichkeit geworden wäre, was noch und eigentlich erst im Kommen ist?
Wo liegen die Zwischenräume, in denen ein kommendes Leben schon lebbar ist?
Die gottesdienstliche Praxis an der Abbruchkante der Gruppe „Kirche(n) im Dorf lassen“ gibt uns ein Anschauungsbeispiel für eine mögliche Antwort auf diese Fragen.[2] Mit den Überlegungen Eva von Redeckers zum Verständnis von Praktiken im Rücken hätte gerade die unterstellte Ambivalenz des Gottesdienstes als religiöser Praxis oder „bloß“ politischem Protest einiges Potential zu bieten. Denn um als soziale Praxis überhaupt gelten zu können und sichtbar zu werden, braucht es immer einen Anerkennungsraum, in dem ein bestimmtes Tun als eine bestimmte Praxis verstanden wird. Von der Warte eines an Profitmaximierung orientierten Energiegroßkonzerns, dessen Handlungsplausibilität von der gesellschaftlich bestimmenden „Ankerpraxis“[3] des Eigentums zehrt, bietet sich hier nur die Praxis des politischen Protests als Schema an. Als diese wird die Praxis von „Kirche(n) im Dorf lassen“ im Beten coram publico zunächst bloß sichtbar. Bestimmend ist in dieser Sicht ein Herrschaftsverhältnis zur Natur, dem subkutan das Recht auf Zerstörung oder Verwertung eingeschrieben ist. Insofern die Energiekonzerne einen Rechtstitel vorweisen können, der sie als Eigentümerinnen des entsprechenden Geländes ausweist, stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit des weiteren Kohleabbaus nur noch im Rahmen juristischer Legitimität, nicht aber etwa im Rahmen ökologischer Plausibilität. Diese Frage der Erlaubtheit verdeckt aber dadurch gerade die eigentlich bestimmende nach der angemessenen Form des Verhältnisses zu Mensch und Natur, das im Tagebau auf die Form der Verwertbarkeit reduziert ist.
Beten an der Abbruchkante: Das Andere der Verwertungslogik feiern
In die gesellschaftlich so plausible Praxis entlang einer Verwertungslogik stellt sich nun aber in einer als Liturgie behaupteten Praxis eigentlich „Unmögliches“ in den Weg. Sie ist als solche kaum, nur flüchtig sichtbar, weil sie der Verwertbarkeitslogik grundsätzlich die Anerkennung verweigert. Stattdessen bringt die Praxis des Betens an der Abbruchkante ein grundsätzlich anderes Daseinsverhältnis performativ zur Darstellung, das den Wert des Daseins von Mensch und Natur in den Horizont von Grundlosigkeit stellt. Denn so wie gottesdienstliche Feiern keinem anderen Zweck gehorchen, als dass sie ad maiorem Dei gloriam gefeiert werden, so zielt die in der liturgischen Praxis mitgesprochene Schöpfungskategorie gerade auf eine wohltuende Grundlosigkeit[4], d. h. Unverzweck- und Unverwertbarkeit alles Geschaffenen ab.
Im Dazwischen offenbart sich ein anderes Verhältnis von Mensch und Natur
Auf eine bestimmte Weise wird dadurch gerade die gottesdienstliche Feier als solche auch zu einer Form des politischen Protests. In der Performanz eines Daseinsverhältnisses aus und in der Nachfolge Jesu zeigt sie nämlich die scheinbar unhinterfragbare Geltung der in der Eigentumsform grundgelegten Verwertbarkeitslogik als zutiefst kontingent und ersetzbar an. Gerade in der vermeintlichen Unmöglichkeit des Gottesdienstes, seiner Unverständlichkeit im Horizont der geltenden Ankerpraktiken, gerade in der dadurch verordneten Unsichtbarkeit liegt ein Potential: In den „Zwischenräumen“[5] des Gewebes der alltäglich bestimmenden Praktiken, im Dazwischen, das von jenen Feiernden aufgespannt wird, offenbart sich, dass ein anderes Leben, dass Leben möglich ist – und die Zerstörung von Mensch und Natur nur selbstauferlegten und sich selbst stabilisierenden („verselbstverständlichte[n]“[6]) Zwängen gehorcht.
Christlicher Glaube als Praxis, in der Solidarität und Gott verwechselbar werden
Aber zugleich ist damit eine Aussage gemacht über die Eigenart christlichen Glaubens selbst. Denn die Gottesdienst Feiernden stellen sich mit ihrer liturgischen Praxis ja in eine bestimmte Tradition – die es immer dann braucht, wenn ein Tun als eine soziale Praxis Geltung beanspruchen soll. Und dies ist hier die Praxis Jesu. Als christlich ist demnach jene Praxis zu bestimmen, für die die Praxis Jesu selbst – freilich unter der Berücksichtigung sich radikal wandelnder Kontexte! – normativen Charakter hat. In ihrem regelmäßigen Tun behaupten Christ:innen die Geltung der Praxis Jesu und vollziehen damit die „geschichtliche Bleibendheit Christi“[7] in Gegenwart und Gesellschaft. Christlicher Glaube ist demnach, so ließe sich dann Metz verstehen, eine zunächst gar nicht unbedingt als religiöse identifizierbare, ‚verwechselbare‘ Praxis in Geschichte und Gesellschaft, insofern sie sich versteht als solidarische Hoffnung auf den Gott Jesu. Der Ruf an die Ränder der Gesellschaft bekommt vor dem Bild der Abbruchkante des Tagebaus eine neue Dimension. Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind.
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Bild: 2730176 auf Pixabay.
Dr. Julian Tappen ist Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Fundamentaltheologie der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Tübingen
[1] Vgl. die Dokumentation unter https://www.kirchen-im-dorf-lassen.de/, zuletzt abgerufen am 10.01.2024.
[2] Vgl. ausführlich dazu Julian Tappen: Als ob. Religiöse Hoffnung als Reservoir revolutionärer Praxis, in: Neubauer, Marvin u. a. (Hg.): Jenseits der Ordnung – Transzendenzbezüge im Politischen (Religion und Aufklärung), Tübingen 2024 [im Erscheinen]. Der vorliegende Text stellt eine neu erstellte Kurzfassung dieses Aufsatzes dar.
[3] Eva von Redecker: Praxis und Revolution. Eine Sozialtheorie radikalen Wandels, Frankfurt a. M. 2018, besonders 93–97.
[4] Vgl. Hans-Joachim Höhn: Postsäkular. Gesellschaft im Umbruch – Religion im Wandel, Paderborn 2007, 77–80.
[5] Eva von Redecker: Praxis und Revolution, 9.
[6] Ebd., 202.
[7] Karl Rahner: Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg i. Br. 21976, 313.