Der Film über eine Äthiopierin, die in einem alpinen Kloster landet, beleuchtet die ebenso berührende wie brüchige Glücksuche einer jugendlichen Migrantin. Edmund Arens stellt die aktuelle Weihnachtsgeschichte vor.
Das Flüchtlingsmädchen Fortuna, gespielt von der Äthiopierin Kidist Siyum Beza, stapft am Anfang mit einem Esel durch den Schnee. Im Stall, wo sie sich liebevoll um ihn und einige Hühner kümmert, sagt sie vertraulich zum Esel: „Du bist alles, was ich habe.“ Der Stall bildet Fortunas Zufluchtsort und Schutzraum auf dem Simplon-Pass, wo die unbegleitete Minderjährige mit anderen Asylsuchenden im Hospiz der Augustiner-Chorherren einstweilige Aufnahme gefunden hat. Hier begegnet sie dem einige Jahre älteren Kabir und verliebt sich in ihren Landsmann. Von ihm wird sie schwanger, was sie zunächst nur der Gottesmutter Maria anvertraut. Nach einer brutalen Razzia der Schweizer Grenzwächter bleibt Kabir verschwunden.
Im Stall bei Huhn und Esel.
Wie Fortuna mit ihrer zunehmenden Verlassenheit und Einsamkeit umgeht, zeigt der Schweizer Regisseur Germinal Roaux in beinahe blendend schwarz-weißen Bildern, in langen Einstellungen und einer langsamen Erzählweise, die mit der überfallartigen Hektik der Staatsmacht kontrastiert. Während die fünf Chorherren des Hospizes ihr liturgisch getaktetes, kontemplatives Leben zelebrieren, bringt das beharrliche Mädchen, welches das Kloster partout nicht verlassen will, die Mönchsgemeinschaft in Unruhe. Über die Frage, ob die Berufung zum weltabgewandten Mönchsleben sich mit der Unrast Aufnahme von Asylantinnen und Asylanten verträgt, kommt es zum Konflikt.
Liturgischer Takt versus Asyl?
Der Prior, gespielt von Bruno Ganz in einer neuen Glanzrolle, verweist seine Mitbrüder an das Johannesevangelium: „Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht.“ Der Prior plädiert für Gastfreundschaft, Nächstenliebe und Solidarität und fragt, ob die Chorherren bereit sind, gerade das zu opfern, was ihnen am teuersten ist: „unser Schweigen und unsere Einsamkeit“.
Das Teuerste opfern: Schweigen und Einsamkeit.
Am Ende bleibt offen, was aus Fortuna wird. Das Mädchen, das die Gottesmutter Maria immer wieder in einer behelfsmäßig hergerichteten Felsgrotte um Hilfe anfleht, macht ein merkwürdiges Versprechen wahr. Sie hatte es im Eselsstall einem gerade geschlüpften Küken gegeben: „Ich werde dich taufen, wenn du so groß bist wie deine Mutter.“ Der Taufakt geschieht in einem einerseits verstörenden, anderseits beeindruckenden Ritual in der eisigen, abweisenden Gebirgslandschaft am Übergang von Italien zur Schweiz.
Verstörung Taufe
Nach der Premiere Mitte November 2018 erzählte der autodidaktische Westschweizer Filmemacher Germinal Roaux dem Publikum, die Idee zu seinem zweiten langen Spielfilm FORTUNA sei ihm durch seine Freundin gekommen, die in Lausanne in einem Ressourcenzentrum für fremdsprachige Schülerinnen und Schüler arbeitete. Über sie habe er dort unbegleitete Minderjährige kennengelernt, deren herzzerreißende Geschichten ihn erschütterten. Was dem selbst nicht religiösen Germinal in der Begegnung mit den jungen Flüchtlingen auffiel, war die für ihn zunächst befremdliche Bedeutung, die Spiritualität, Religion und Rituale für die leidgeplagten und häufig traumatisierten Jugendlichen haben.
Befremdliche Bedeutung von Spiritualität, Religion und Ritualen.
Im Film trifft die wilde Ritualität von Fortuna auf die disziplinierte Ritualität der Simplon-Chorherren. Letztere stehen vor der Frage, ob ihr liturgisch ritualisiertes, friedliches Leben sie an der konkreten Zuwendung zu den Flüchtlingen und deren Schutz vor Abschiebung hindert. Für Fortuna sind ihre Bittgebete und rituellen Vollzüge indes fast verstummende Schreie nach Rettung. In einer Filmbesprechung wurde bemängelt, dass die christliche Symbolik von FORTUNA Mühe bereite und zudem die Nähe zu den Figuren behindere. In der Tat ist diese Symbolik heute vielen fremd und unverständlich geworden. Doch aus FORTUNA lässt sich lernen, dass religiöse Riten und Symbole für Menschen auf der Flucht, welche alles verlassen und verloren haben, womöglich zum spirituellen Rettungsanker und zur freilich fragil bleibenden Überlebenshilfewerden inmitten ihres Alptraums aus Einsamkeit und Ausgeliefertsein.
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Text: Edmund Arens ist emeritierter Professor für Fundamentaltheologie der Universität Luzern.
Bild: Vega Film