Lohnt es sich, oder ist es gar geboten, so genannte „populistische“ Themen aufzugreifen und sozialethisch Stellung zu beziehen? Andrea Keller nennt Gründe, warum die christliche Sozialethik ihre Stimme erheben muss. Und wie wichtig es ist, dass Menschen erfahren, dass sie etwas bewirken können.
Tappen wir in die Falle der Populisten, wenn wir ihre Themen aufgreifen? Einerseits ja, denn sie versuchen mit scheinbar oder auch tatsächlich vernachlässigten politischen Themen die von ihnen so genannten etablierten Parteien vor sich herzutreiben. Greift man die von ihnen gesetzten Themen auf, könnte dies wie ein Zugeständnis der eigenen Schwäche aussehen und die populistischen Bewegungen stärken. Man gibt ihnen in gewisser Weise recht, zumindest was die Themenwahl angeht. Vor allem aber gibt man ihnen Aufmerksamkeit und Raum. Andererseits sollten gesellschaftlich relevante Fragen diskutiert werden, vor allem, wenn man den Populistinnen nicht die Deutungshoheit bei bestimmten Themen überlassen will. Das kann sich eine Gesellschaft langfristig nicht leisten. Daher spricht Vieles dafür, sich mit den aufgeworfenen Fragen und Herausforderungen zu beschäftigen. [1] Dies umso mehr, als sich die christliche Sozialethik mit vielen Themen schon lange beschäftigt und nicht erst seit dem Erstarken des Populismus in den letzten Jahren.
Populistische Themen aufgreifen – ein Zugeständnis?
Auf zwei Ebenen kann die christliche Sozialethik einen Beitrag leisten: Zum einen kann und sollte sie auf die Art des Diskurses einen Einfluss nehmen. Ein konstruktiver Meinungsaustausch kann nur funktionieren, wenn fair diskutiert wird. Wenn zum Beispiel in einer Diskussion bestimmte gesellschaftliche Gruppen abgewertet werden, dann werden Tor und Tür geöffnet für Lösungen, die auf Kosten dieser Gruppen gehen. Allgemein gesprochen, wenn schon bei der Art des Diskurses die Prinzipien der Sozialethik nicht eingehalten werden, kann es in der Folge zu Ergebnissen kommen, die gegen diese Prinzipien verstoßen. Stärke der christlichen Sozialethik ist es, genau diesen Zusammenhang herausarbeiten zu können und somit zu vermeiden, sich auf die Argumentationsebene der Populisten einzulassen.
Prinzipien der christlichen Sozialethik bestimmen die Art und Argumentationsebene des Diskurses.
Zum Zweiten kann christliche Sozialethik einen inhaltlichen Beitrag leisten. Sie kann sowohl Problemanalysen als auch verschiedene Lösungsmöglichkeiten anbieten. Sozialethikerinnen setzen sich seit langem mit Themen wie soziale Gerechtigkeit (weltweit), Globalisierung, Einsatz für die Schwächsten, Interkulturalität, Diversität, Frieden, Sicherheit und Freiheit auseinander. Dabei wird um die inhaltliche Bedeutung dieser Schlagworte gerungen und das ist gut so, denn in vielen Debatten kommt genau das zu kurz. Wir brauchen diese Auseinandersetzung, denn eine Strategie der populistischen und extremistischen Akteurinnen besteht darin, diese Begriffe in ihrem Sinne umzudeuten.[2] Allerdings müssen wir uns selbstkritisch fragen, ob es Themen gibt, die bisher noch zu wenig bearbeitet wurden. Wie sieht es zum Beispiel aus mit der Frage, wie Menschen in pluralen Gesellschaften eine Identität entwickeln können? Gibt es positive Bestimmungen von Volk, Nation[3], Kameradschaft oder Heimat, die eine alternative und reflektierte Identifikationsmöglichkeit bieten können? Es gibt geschichtliche Gründe dafür, warum solche Themen nicht in den Vordergrund der Diskussionen gerückt wurden, aber eine Tabuisierung verhilft nur den Populisten zu Erfolg. Eine Thematisierung, natürlich in kritischer Weise, bietet hingegen die Möglichkeit, eine Gesprächsgrundlage zu finden.
Volk, Nation, Kameradschaft, Heimat? Das Ringen um Begriffsschärfe und positive Begriffsbestimmungen
Eine große Herausforderung, vor der unter anderem Wissenschaftlerinnen, Politiker, Journalistinnen und politischen Bildner stehen, ist die Zumutung der Komplexität. Nicht alle Menschen können oder wollen sich zum Beispiel darauf einlassen, den jeweils einzelnen Menschen in den Blick zu nehmen oder Ursachen und Zusammenhänge eines Problems zu reflektieren. Es ist einfacher, Menschen in selbstdefinierte Kategorien einzuordnen oder Sündenböcke für ein Problem zu finden. Als Antwort darauf kann man darlegen, dass man sich dadurch zwar die Auseinandersetzung mit einer Herausforderung erspart, das Problem aber nicht löst. Man kann die Erfahrung eines Perspektivwechsels bieten, man kann auf die Lebenswelten der Menschen eingehen u.v.m. Viele Menschen lassen sich dadurch erreichen. Wenn aber die Bereitschaft zur Auseinandersetzung nicht vorhanden ist, stößt man als vermittelnde Person an eine Grenze. Es ist aber sicher schon hilfreich, sich der Zumutung, die Komplexität sein kann sowie der beschriebenen Grenze von Dialog und Vermittlung bewusst zu sein.
Komplexität als Zumutung
So vielfältig wie die Herausforderungen sind aber auch die Angebote, die eine Gesellschaft machen kann. Um dem Populismus entgegenzuwirken, braucht die Gesellschaft Angebote auf verschiedenen Komplexitätsebenen. Eine grundlegende Erfahrung, die weniger anfällig für populistische Bewegungen macht, ist die, in der Gesellschaft etwas bewirken zu können. Diejenigen, die diese Selbstwirksamkeitserfahrung gemacht haben, werden sich eher für gesellschaftliche Fragen interessieren als diejenigen, die den Eindruck haben, sie könnten sowieso nichts bewirken. Natürlich ist auch das keine Garantie und es gibt auch Menschen, die sich mit falschen Mitteln oder für falsche, das heißt gesellschaftsschädliche Ziele engagieren. Aber zumindest können Selbstwirksamkeitserfahrungen dem Eindruck entgegenwirken, an Gesellschaft nicht mehr beteiligt zu sein.[4] Wer sich schon einmal auf gesellschaftlicher Ebene für andere Menschen eingesetzt hat, ist zudem eher offen für gesellschaftliche Fragen und ahnt, dass nicht auf alle Fragen einfache Antworten gegeben werden können. Ein Vorteil ist, dass solche Erfahrungen auch auf niederschwelliger Basis möglich sind und nicht unbedingt komplexer gesellschaftlicher Strukturen bedürfen. Das kann ein Schulprojekt, der Sportverein oder eine Jugendgruppe sein. Es können sich alle Bereiche der Gesellschaft für einen wertschätzenden und konfliktlösungsorientierten Umgang miteinander einsetzen. Die Tatsache, dass sich viele Menschen haupt- und ehrenamtlich dafür einsetzen, gibt Anlass zu Optimismus. Solange dies gut funktioniert, läuft es relativ leise ab und „Erfolge“ sind nicht quantitativ messbar. Daher ist es umso wichtiger, dass das vorhandene Engagement stetig unterstützt und wertgeschätzt wird und nicht erst, wenn Populisten Wahlerfolge erzielen oder Anschläge verübt werden.[5]
—
Dr. Andrea Keller ist Philosophin und als Referentin an der Katholischen Akademie St. Jakobushaus in Goslar tätig.
[1] Siehe auch: Michelle Becka: Rechtspopulismus und kein Ende?, in: www.feinschwarz.net, 22. Februar 2017.
[2] Siehe: Gereon Flümann: Einleitung. Umkämpfte Begriffe – Deutungen zwischen Demokratie und Extremismus, in: ders. (Hrsg.): Umkämpfte Begriffe. Deutungen zwischen Demokratie und Extremismus (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 10024), Bonn 2017, 9.
[3] Siehe auch: Axel Bernd Kunze: Staat und Nation – der blinde Fleck der Sozialethik?, in: www.feinschwarz.net, 21. Februar 2017.
[4] Gerhard Kruip macht die Krise der Repräsentanz, den Eindruck, nicht mitentscheiden zu können, als einen Grund für die erodierende Solidarität in Deutschland aus. Siehe Gerhard Kruips Statement im Pressegespräch zum Thema „Gesellschaftlicher Zusammenhalt oder Auflösung des Gemeinwohls?“ am 7. März 2017 in Bensberg zur Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz, Pressemitteilung der Deutschen Bischofskonferenz vom 07.03.2017.
[5] Für die Denkanstöße zu diesem Artikel danke ich den Referentinnen und Referenten sowie den Seminarteilnehmerinnen und -Teilnehmern des Seminars „Die unzufriedene Mittelschicht“ im April 2017 im St. Jakobushaus. Besonders danke ich Johannes Kiess, Lars Geiges, Simon Teune, Thorben Peters und Jorid Meya sowie Reinhard Koch.
Bild: http://www.interkulturellewoche.de/system/files/plakate/2014_ikw-offene-gesellschaft-1240×1754.jpg