Vor einer Woche im Halbdunkel der beginnenden Nacht: Ein einsamer Papst steht auf dem Petersplatz und spendet den Segen „Urbi et orbi“. Benedikt Kranemann deutet den Ritus liturgiewissenschaftlich.
Die Corona-Pandemie raubt der Welt buchstäblich den Atem. In diesem Moment wird an einem Abend im März 2020 der Segen „Urbi et orbi“ als eine außerordentliche Zeremonie angekündigt. Radio Vatikan überträgt. Man schaut mit gespannter Erwartung, was es hier zu sehen und zu hören gibt. In den Tagen zuvor ist eine Diskussion entbrannt über Liturgie in den Zeiten von Corona. Es scheint nicht nur Fachleute für Liturgie und Ritual zu interessieren, wie man miteinander in diesen Wochen Gottesdienst feiern kann, in denen ein Zusammenkommen, wie man es ansonsten zumeist kennt, nicht möglich ist. Wie man von und zu Gott sprechen kann, wenn Tausende überall auf der Welt elend sterben. Welche Hoffnung mit welchen Worten und Riten Menschen zugesprochen werden kann, um Halt zu geben, ohne zu vertrösten.
Liturgie vom Petersplatz – man erinnert sich an Fanfaren, die bunten Uniformen der Schweizergarde, Blumen und Kerzen, Scharen von Klerikern, trotz aller Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte immer noch Rituale, die die Nähe zum Hofzeremoniell nicht verleugnen können. An diesem Abend ist nicht alles, aber vieles anders. Der Papst geht, vom Alter gezeichnet, über den Petersplatz. Keine Begleitung, niemand auf dem Platz, kein Schutz vor dem Regen – eine düstere Szene, ein Ort, der in diesem Moment alles andere als anziehend wirkt. Kurz vorm Ziel, einem Podest vor St. Peter, kommt der Zeremoniar dem Papst entgegen und hilft ihm die Stufen hoch. Sobald Franziskus den Platz erreicht hat, auf dem er sprechen, das Evangelium hören, beten wird, zieht sich der Zeremoniar zurück. Er wird dem Papst nur noch ein Pult mit Mikrofon hin- und es später wieder wegstellen. Nichts ist wie sonst, zeigt die Szene. Leere, Regen, einbrechende Nacht – und ein alter Mann im Gebet. Wer nicht weiß, dass im Vorhinein schon durch das vatikanische Presseamt erklärt worden ist, was das alles bedeutet, und sich nicht durch die Kommentatorin die Szene zerreden lässt, ist durch diese karge Inszenierung in den Bann gezogen.
Fragilität und Vulnerabilität
Wenn man diesen Papst virtuell nach Lampedusa begleitet hat, von seinem Engagement für Arme und Notleidende weiß, will man gar nicht wissen, dass die römische Kirche gleich mit eucharistischer Anbetung und dem Segen „Urbi et orbi“ ihre „stärksten Mittel“ in Anwendung bringt, wie die Kommentatorin verlauten lässt, oder dass die Kirche die Eucharistie „besitzt“, was man theologisch lieber nicht zu Ende denkt. Man möchte die Bilder sprechen lassen: der alte Papst und die Verlassenheit des Petersplatzes. Franziskus stellt sich nicht nur als Gläubiger der Situation, er bringt mit seiner Person die Fragilität und Vulnerabilität des Lebens in Zeiten des Virus ins Bild. Und er wird zeigen, worauf er, worauf die Kirche, die er repräsentiert, in diesem Moment hofft: wenn er das Evangelium von der Stillung des Seesturms auslegt, vor der Ikone „Salus populi romani“ betet, den Gekreuzigten am Pestkreuz verehrt. Man kann hier viele Fragen stellen: Soll man, kann man mitbeten? Ist das alles nicht zu sehr auf den Papst zentriert? Man kann aber die Bilder, und sie sind es vor allem, die hier wirken, auch als Einladung lesen, sich Franziskus als einem gläubigen Menschen in seinem Fragen und Hoffen anzuschließen und mit ihm zu vertrauen in einer Zeit, die für den Glauben bedrängend ist.
Der Petersplatz, umstanden von den Kolonnaden und geprägt durch Fassade und Kuppel von St. Peter, überwältigt und erzählt in „normalen“ Zeiten von der Pracht und Macht der katholischen Kirche vergangener Jahrhunderte. Wie der Platz und die Liturgie an diesem Abend im Sonnenschein gewirkt hätten, sei dahingestellt – es regnet. Und das minimalistische Ritual, die Leere des Platzes und der fast einsam wirkende Papst verändern die Perspektiven des Platzes. Nichts mehr mit Pracht und Macht. Eine ganz reduzierte Gestaltung der Gebetsorte kommt angesichts der Gewalt der Pandemie ins Bild. Da hilft kein Pomp, da fehlt jedes der vorgestrigen Rituale, die eine einschlägig bekannte Homepage dieser Tage als hilfreich meint propagieren zu müssen. Ein Platz, auf dem ein einzelner Mensch einsam sitzt und nach einem ganz kurzen Gebet auf ein Evangelium hört, das sehr schlicht verkündet wird. Alles ist auf das Minimum heruntergefahren – Liturgie im Lockdown-Modus. Es sagt, das wird später einmal zu diskutieren sein, viel über Franziskus aus, sich und das Amt in solche Situationen zu bringen.
Größe dieser Liturgie, die Spannung nicht aufzulösen
Aber dieses Podium ist nur einer der Orte auf dem Petersplatz, die eine Rolle spielen. Mindestens zwei weitere spielen eine Rolle. Vor der Fassade von St. Peter, wo mehrere Schalen mit Öllichtern brennen, die das Karge der Liturgie noch unterstreichen, stehen besagte Ikone und Kreuz. Kein Schmuck, kein Gebetsschemel, nur der Papst und sein Zeremoniar, der schon ganz andere Inszenierungen verantwortet hat. Hier ist die Raumnutzung interessant: der Papst allein vor der Ikone, allein vor dem Kreuz. Natürlich ist das alles nicht spontan, sondern folgt einer wohlüberlegten Regie von Spezialisten, die rituell handeln können. Doch in solchen Situationen und in solchen Übertragungen braucht es Menschen, die mit Ritualen professionell umgehen können. Und es ist dennoch mutig, denn es zeigt viel von der Verletzlichkeit von Menschen, die in diesem Moment auf ein ganz grundlegendes Vertrauen auf Gott zurückgeworfen sind.
So ist es anrührend zu sehen, wie der Papst die Ikone berührt und das Kreuz küsst. In einer Zeit der social distance kann und muss physische Distanz hier durchbrochen werden. Körperlichkeit spielt eine große Rolle an diesem Abend, in dieser Weite, Leere, Unwirtlichkeit. Evangelium, Gebete, Gesten, Ikone und Kreuz bringen Beziehungen ins Spiel und gestalten den Raum. Eine Hoffnung wird verbalisiert, und sie visualisiert, dass der Mensch nicht allein ist, dass er diese Leere ertragen, die Einsamkeit bewältigen kann, weil er schlicht auf Gott seine Hoffnung setzen kann. Es ist die Größe dieser Liturgie, die Spannung nicht aufzulösen, in der nicht nur dieser Gottesdienst, sondern jeder und jede Gläubige zu leben versucht.
Liturgie an der Schwelle
Der dritte Ort ist die Schwelle zu St. Peter. Es ist bemerkenswert, dass eine dem Narthex vergleichbare Zone für den eucharistischen Segen genutzt wird, ein Zwischenraum. Franziskus geht nicht in das pompös überwältigende Ambiente von St. Peter, er bleibt im Schwellenbereich. Die Monstranz, mit der er dann den Segen weitergeben wird, wird aus der Kirche gebracht. Lange Zeit herrscht Stille an diesem Ort, der wiederum für eine Eucharistieverehrung sehr schlicht gehalten ist. Es sind wenige Personen anwesend, nichts drängt sich nach vorne, alles konzentriert sich auf den gegenwärtig geglaubten Christus. Und ihn verehrt man nicht im geschützten Raum der monumentalen Kirche, sondern an einem Ort des Übergangs. Wie immer man solche Formen der Eucharistieverehrung für sich annehmen kann: Es rührt an, Franziskus dabei zu erleben, wie er den Segen Urbi et orbi weitergibt und dann, die Monstranz fast schützend im Arm haltend, zum Ort der Aussetzung zurückgeht. Ein sprechendes Bild für ungewisse Zeitläufe.
Nimmt man nur die Bilder, dann fällt auf, wie einfach und schlicht eine solche Liturgie sein kann. Verneigungen, Kniebeugungen, hin- und herziehende Akolythen, Antependien, Gerätschaften in Fülle – nichts davon. Es ist – fast – eine auf das Minimale konzentrierte Liturgie, die dafür das, was hier zugesprochen werden soll, Botschaft der Hoffnung, ins Maximale bringen kann. Der Papst betet, er schweigt viel, predigt, segnet. Grundriten des Gottesdienstes spielen eine Rolle, viele Traditionselemente begegnen. Sieht man vom Fernsehkommentar ab – oftmals wäre nichts zu hören, weil nichts gesprochen wird –, sind das sehr vieldeutige Riten. Man kann mit dem Papst beten, man kann sich in Stille die Bilder anschauen, auch eine Form der Teilnahme am Fernseher, man kann sich erbauen an einer Gestalt, die auf ihre Weise Menschen in der Not dieser Tage nahe sein will. Es sind traditionelle Riten, aber sie sind in ihrer Kombination, ihrer Reduktion und ihrer Deutungsoffenheit sehr zeitgemäß. Sie zeigen eine Kirche, die sich verletzlich zeigt, was ihr oftmals so wenig gelingt.
Einfach, verletzlich, offen
Die Riten besitzen zugleich eine Doppelgesichtigkeit. Sie leben aus großer Kargheit – bis zu dem Moment, als aus dem Inneren von St. Peter unter einem kleinen Schirm die Monstranz gebracht wird. Für einen Moment blitzt der Pomp päpstlicher Liturgie auf – und wirkt unwirklich und deplatziert. Nichts hätte gefehlt, wenn man es bei dieser archaisch-einfachen, traditionell-modernen Liturgie in ihrer ganzen Kargheit und Verletzlichkeit, ihrer Eindeutigkeit und Offenheit belassen hätte. Nun bricht wieder etwas von dem ein, was „klerikalistisch“ wirkt. Und man ahnt, was die Kommentatorin meinte, als sie von der Eucharistie als „Besitz der Kirche“ sprach. Schon die Fernsehübertragung macht deutlich, dass hier etwas kontrastiert: der halbdunkle, regenverhangene Petersplatz – der farbig-goldene, ausgeleuchtete Innenraum von St. Peter. Dabei kam doch mit Evangelium, Predigt und Aussetzung schon genug Licht ins Dunkel!
Der betende Papst, der leere Platz, die auf das Notwendigste reduzierten Riten. Man könnte noch auf die Predigt eingehen, die Not und Verzweiflung nicht wegreden will. Eine Predigt, die nicht der Versuchung erliegt, die Seuche religiös zu erklären. Aber die Mut und Hoffnung zuspricht aus dem Glauben an Jesus Christus. Die schließlich mit Joh 17,21 jeden, wirklich jeden Menschen ansprechen kann: „Alle sollen eins sein.“ Es ist eine durch und durch katholische Liturgie an diesem Abend auf dem Petersplatz in Rom. Sie hat eine Gestalt, die weit über die Kirche und ihren Binnenraum hinaus ansprechen kann. Vielleicht ein Lichtblick auch jenseits der Corona-Pandemie.
Benedikt Kranemann ist Professor für Liturgiewissenschaft an der Universität Erfurt.
Bildquelle: Vaticannews.