Das Nordbahnviertel ist ein faszinierendes Großprojekt der Wiener Stadtentwicklung. Anna Asteriadis berichtet, wie sich dort gerade auch die katholische Kirche neu erfindet.
Kurz vor der Coronazwangspause öffnet das FranZ im Wiener Nordbahnviertel. Das FranZ mit großem “Z” ist ein katholisches Begegnungszentrum und gehört zur Pfarre St. Johann Nepomuk (https://www.pfarre-nepomuk.at). Die Türen des Begegnungszentrums sind zwar momentan verschlossen, aber FranZ schläft nicht. Am Auferstehungstag baut das FranZ einen Osterkerzen-Pickup-Stand auf. Osterlicht scheint bekanntlich gratis.
Luftlinie keine drei Kilometer vom Steffl
Zentraler kann Wien nicht wachsen, auch kirchlich gesehen. Mit der U1 drei Haltestellen vom Stephansplatz entfernt wächst seit einigen Jahren auf dem ehemaligen Nordbahnhofgelände hinter dem Praterstern ein neues Grätzel (das Wort zählt zu den ostösterreichischen Besonderheiten der deutschen Sprache). Die Städteplaner*innen waren sich von Anfang an einig, dass auch die Kirche ins Grätzel gehört! Anders als in der Wiener Seestadt, wo verschiedene Religionsgemeinschaften zusammen an einem “Campus der Religionen” bauen, heißt die Devise im Nordbahnviertel jedoch: Jeder für sich. Die Serbisch-Orthodoxe Kirche ist in einer alten Straßenbahnremise zuhause, die Rumänisch-Orthodoxe realisiert gerade einen Kirchenneubau in der Bruno-Marek-Allee und die Katholische Kirche ist Ende Februar mit dem FranZ in ein 200-Quadratmeter-Erdgeschosslokal eingezogen.
Der Bebauungsplan sieht eine gigantische Grünfläche vor, die Freie Mitte, um die herum sich die Wohnblöcke der diversen Bauträger gruppieren. Einer trägt den Namen “Neue Heimat” (mit großem „N“). Das Nordbahnhofareal bietet bis 2025 etwa 20.000 Menschen eine neue Heimat (mit kleinem „n“). Über die Architektur lässt sich streiten, über die Attraktivität als Wohnort hingegen nicht. Denn die Wohnungen sind heiß begehrt, vor allem bei jungen Paaren und Familien. Kein Wunder, wenn Kinder hier spielen können als wären sie auf dem Kirchplatz am Land. Außer ein paar rostigen Schienen und dem denkmalgeschützten Wasserturm erinnert nicht mehr viel an den Bahnhof.
Noch nicht sesshaft
Der Wasserturm gilt insgeheim schon als Wahrzeichen des Grätzels. Er hätte auch durchaus Potential für einen kirchlichen Andersort – mit Symbolcharakter. Schließlich ist das Wasser ist nicht irgendein Symbol für den Glauben und das Leben. Außerdem sticht er als eines der wenigen Relikte aus alter Zeit in der ansonsten modernen Architektur sofort ins Auge. Er besitzt für viele Nordbahnviertler*innen längst einen identitätsstiftenden Charakter, genau wie die Nordbahn-Halle (https://www.nordbahnhalle.org/), die eine viel kürzere, aber eine nicht weniger spannende Vergangenheit vorzuweisen hat. Wo einst Konserven abgefüllt wurden, entstand über 2 Jahre hinweg ein Experimentierort für nachhaltige Nutzungen und ein Hotspot für Grätzelkommunikation. Als die Nordbahn-Halle 2017 einen ersten Call für Macher*innen startete, war das FranZ unter den Bewerbern für einen der neu geschaffenen Co-Working-Spaces.
Offene Türen
Daraus wurde nichts. Es war der erste Versuch vor Ort ansässig zu werden. War dieser erste Versuch zu früh für eine ‚sesshafte Hausgemeinde’? Offensichtlich. Theologisch gesprochen heißt das: FranZ bleibt erst einmal ein ‚umherziehender Wanderprediger’. Und pastoral: FranZ betritt fremde “Räume” wie z.B. den Rudolf-Bednar-Park für ein Wandercouchprojekt, die Nordbahn-Halle für ein Theaterprojekt oder nach Ladenschluss die Greißlerei “Salon am Park” für Gesprächsabende. FranZ geht in dieser Phase des ‚Wanderpredigens’ durch viele offene Türen und überwindet mehrmals das damit verbundene erste Fremdeln und die Unsicherheit: Wie schafft FranZ Kirche im Nordbahnviertel von heute zu sein?
Eine pastorale Diskrepanz im eigenen Pfarrgebiet wird spürbar – dort sesshaft (St. Johannes Nepomuk), hier umherziehend (FranZ). “Da müssen wir was machen”, bemerkte der emeritierte Weihbischof Helmut Krätzl bei seiner Visitation im Herbst 2016. Und der Stein am drei Kilometer entfernten Stephansplatz kommt ins Rollen. Die Suche nach einem geeigneten Raum konkretisiert sich. Dreieinhalb Jahre später feiert das FranZ in der Bruno-Marek-Allee – zwischen Radgeschäft und Holzofenbäckerei – seine Eröffnung mit Kardinal Christoph Schönborn. Mit der Eröffnung wird aus dem “FranZ geht hin” die Einladung “Komm ins FranZ!”.
Experimentierort der Kirche
Man gelangt über die Bruno-Marek-Allee zum Vordereingang hinein oder kann sich über die Schweidlgasse von hinten hineinschleichen. Zwei offene Türen setzen die Hemmschwelle, einen kirchlichen Raum zu betreten, der auf den ersten Blick mehr wohnlich als heilig wirkt, hoffentlich weit nach unten. Für Wohnfühlatmosphäre sorgt eine große Küche, in der Küche spielt sich ja bekanntlich das Leben ab, und die Möglichkeit zum Möbelrücken. Insgesamt 24 Rollen sorgen für pastorale Flexibilität: Zwei Couches, zwei Regale, die Kücheninsel, selbst der Altar und die Kerzenhalter sind mobil. Es ist der zweite Versuch, vor Ort ansässig zu werden (nach dem ersten in der Nordbahnhalle), und gleichzeitig der erste Versuch, das Umherziehen nicht völlig aufzugeben. Diese Ambivalenz gehört wie das Amen in der Kirche zur Kirche. In der pastoralen Wirklichkeit spießt sich das hier jedenfalls noch nicht mit vielen Gemeindetraditionen, die es im FranZ nicht gibt. Und genau darin liegt die große pastorale Chance des FranZ. Das Begegnungszentrum versteht sich als ein Experimentierort der Kirche und besitzt auch keine voll ausgestattete Kapelle, sondern einen “sakralen Staunraum”. Man könnte auch “Wow”-Raum dazu sagen, weil er einlädt sich positiv überraschen und von einem Funken der sakralen Strahlkraft des Raumes berühren zu lassen.
Für die Strahlkraft hat ein junger Künstler namens Jonas Feferle gesorgt. Gekonnt hat er die Gegebenheiten des Raumes – eine tragende Säule – in das Altarbild integriert und damit den Wow-Effekt des Staunraums erzielt: Das Kreuz ist im Altarbild nur angedeutet. Erst in einer bestimmten Position, erkennt der Betrachter die ganze Dimension des Kreuzes. Der Clou dabei ist, dass ich mich buchstäblich in das Kreuz stellen muss, um es zu entdecken. Das Entdecken ist gewollt. Die Schönheit des Christentums muss man entdecken können dürfen, vor allem, wenn man, wie viele Bewohner*innen des Nordbahnviertels, zwar vertraut ist mit der Kirche, einem die Traditionen und (Vor-)Bilder aber fremd (geworden) sind.
FranZ mit großem Z
Deshalb trägt das Begegnungszentrum auch den Namen “FranZ” und nicht “Heiliger Franziskus”. Wenn jemand keinen Bezug zu Franz von Assisi hat, dann kennt die Person vielleicht einen Franz und wagt trotzdem den Schritt über die Schwelle ins Zentrum. Der Name kann Türöffner sein. Die Schreibweise mit großem “Z” ist natürlich nicht zufällig gewählt, sondern steht für Zentrum. Franz wiederum steht nicht nur für den legendären Heiligen, sondern lässt sich auch mit dem amtierenden Papst in Verbindung bringen. Der Name ist Programm und ganz im Sinne einer milieusensiblen Pastoral mit Blick auf das Gros der Nordbahnviertler*innen gewählt. Sich mit dem Heiligen Franziskus zu identifizieren dürfte einem umweltbewussten Menschen im Nordbahnviertel nicht sehr schwer fallen. Es scheint deshalb naheliegend, über die Anschaffung einer Franziskusstatue nachzudenken. Im Moment schläft jedoch noch eine bereits bestellte Madonna in der Sakristei des FranZ (siehe Beitragsbild). Sie trägt einen dicken Plastikschutzmantel.
Autorin: Anna Asteriadis ist Pastoralassistentin in der Pfarre St. Johann Nepomuk in Wien und leitet das FranZ.
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