Zwischen dem 75. Todestag und dem 130. Geburtstag porträtiert Lukas Pallitsch den Schriftsteller Franz Werfel. Wie kaum ein Schriftsteller stand Werfel zwischen der christlichen und jüdischen Glaubenswelt.
Franz Werfel wurde am 10. September 1890 in Prag als erstes Kind von Rudolf und Albine Werfel geboren. Bis in die Zeit seiner Jugend wurde der jüdische Knabe von der katholischen Haushälterin Barbara Simunkova umsorgt. Als wichtige Bezugsperson nahm sie ihn an Sonntagen in die St. Heinrichskirche zur Messe mit. Nicht selten baute der fünfjährige Franz anschließend mit Haushaltsgegenständen einen Altar und mimte die Posituren des katholischen Priesters. Bereits in der Kindheit bewegte er sich zwischen jüdischer und christlicher Welt. Das setzte sich fort bis zu seinem Tod am 26. August 1945.
„Christus […] das entscheidende Ereignis der jüdischen Geschichte“
Knapp vor seinem Tod debattierte Werfel mit seinem Freund und Schriftstellerkollegen Max Brod. Auslöser waren die gerade erschienenen Aphorismen Werfels, in denen er seine Haltung gegenüber Judentum und Christentum nochmals präzisierte. Brod warf Werfel vor, er habe sich dem Jüdischen zu stark abgewandt. In einer brieflichen Äußerung reagierte Werfel, dass „Christus […] das entscheidende Ereignis der jüdischen Geschichte“ (Franz Werfel an Max Brod, 18. März 1945) sei.
Die Aussage entstand unter dem Eindruck des Streitgesprächs. Bis heute hat sie jedoch kaum an Sprengkraft eingebüßt. Es lohnt sich, darüber nachzudenken. Was bewegte Werfel 1945 zu einer solchen Äußerung – zu einem Zeitpunkt, als auf den europäischen Kriegsschauplätzen die Entscheidungsschlachten tobten und die Bilder der höllischen Massenvernichtung aufkamen? Wäre im März 1945 von einem jüdischen Schriftsteller nicht etwas anderes zu erwarten gewesen?
Werfel sah eine Gefahr darin, dass christliche Dogmenbildungen Jesus zu einer griechischen Figur mythologisieren.
Nachdem Werfel zuvor ins amerikanische Exil flüchtete und sich infolgedessen nicht nur zu einer geographischen, sondern auch sprachlichen und religiösen Emigration gezwungen sah, arbeitete er den Verlust der jüdisch-christlichen Einheit abermals heraus. Was Werfel gegen Ende der Lebenszeit in seinen Theologumena aphoristisch ausformulierte, findet sich bereits über Jahrzehnte in seinen dramatischen und epischen Texten.
Dreh- und Angelpunkt der Kontroverse mit Max Brod war insbesondere der Abschnitt Von Christus und Israel, in welchem Werfel die Verbindung von Christus und Israel thematisiert. In einer Zeit, in der die wenigsten über einen christlich-jüdischen Dialog ernsthaft nachdachten, sah Werfel eine Gefahr darin, dass christliche Dogmenbildungen Jesus zu einer griechischen Figur mythologisieren und dabei den Staub an den Fußsohlen des Wanderpredigers vergessen. Problematisch werden diese Formatierungen, wenn die Herkunft aus Israel im institutionellen Gefüge nicht mehr wahrgenommen wird oder gar erlischt.
In fiktionaler Romanform veranschaulicht Werfel die konfessionelle Zerrissenheit.
So gesehen nimmt es kaum Wunder, dass Werfel die Protagonisten in vielen seiner Romane als Grenzfiguren gezeichnet hat: als jesusgläubige Juden, die in ihrer religiösen Zerrissenheit nirgends heimisch werden. In diesem Licht stehen so unterschiedliche Protagonisten wie der Paulus seines gleichnamigen Bibelstücks oder Alfred Engländer in seinem Romanfragment Barbara oder Die Frömmigkeit. Trotz Übertritts bleibt Engländer in jene religiöse Spannung verstrickt, die er in einer Einheit von katholischer und mosaischer Religion wahren möchte. In fiktionaler Romanform veranschaulicht Werfel die konfessionelle Zerrissenheit an einer Figur und spielt mögliche Suchbewegungen zwischen Urchristentum und Judentum durch.
Dringt man tiefer in Werfels breites literarisches Oeuvre ein, dann wird klar, wie wenig sich die Figuren der religiösen Frage entledigen und wie sehr sie aufeinander verwiesen und bezogen sind. Das zeigt sich an der Bemerkung Alfred Engländers. Wie auch Werfel stammte er aus dem assimilierten, bürgerlich-liberalen Judentum. Engländer bekennt: „Du willst natürlich sagen, daß ich meinem Geiste nach ein Christ bin. Das stimmt auch. Dem Fleische nach ein Jude, dem Geiste nach ein Christ wie Paulus, der Apostel, den ich verstehe wie mich selbst.“ (Franz Werfel, Barbara oder Die Frömmigkeit, S. 439)
Urjudentum und Kirche sollen sich versöhnen.
Der Protagonist bemüht sich um einen Dialog. Beide Seiten sollen sich versöhnen: das Urjudentum „in Gestalt dieses Rabbi“ einerseits, „an dem die Jahrhunderte spurlos vorbeigegangen waren, der zu Jesu Christi Zeiten auf dem heiligen Boden Jerusalems noch hätte gewandelt haben können“, und die Kirche mit den „weitherzigsten Zugeständnissen und einem großmütig dogmatischen Entgegenkommen“ andererseits. In einem solchen „Raum der Unmöglichkeiten“, wie er von der Erzählerstimme bezeichnet wird, gilt es, Jesus „zu seinem Volke zurückzuführen“ (Ebd., 455f).
Festgelegt auf die theologischen Differenzen, die der Protagonist überbrücken möchte, scheitert der Dialog an den sprachlichen Barrieren. Liest man diese Textpassagen, sieht man sich mit einer Herausforderung an den christlichen und jüdischen Glauben konfrontiert. Themen werden benannt, die beide Glaubensweisen voreinander trennen. Durch Werfels Texte kann eine Aufforderung zur Erwiderung aufkommen. So war es bei Max Brod und anderen fest in der Glaubenstradition stehenden Freunden. Sofern die Texte es damals wie heute schaffen, dass die religiöse Lebensführung auf einer bewussten Entscheidung und nicht nur auf Konventionen beruht, dann ist damit viel erreicht.
Höret die Stimme – zwischen Glaubensbekenntnis und Widerstand.
Zerrissenheit zeigt sich auch dort, wo der biblische Gottesglaube angesichts der nationalsozialistischen Unmenschlichkeit in die Fänge gegenreligiöser Usurpation gerät. In seinem 1936 erschienenen Prophetenroman Höret die Stimme sind Züge Hitlers in der Figur des Herrschers Nebukadnezar zu entdecken.
Der Befehlston des Buchtitels weckt einerseits deutliche Assoziationen auf das jüdische Glaubensbekenntnis, das „Höre Israel“ (Dtn 6,4ff). Andererseits ist der Titel vor dem Hintergrund der totalitären Herrschaft als eine Art verschlüsselter Imperativ zu verstehen, den Mächtigen Widerstand zu leisten: Dort nämlich, wo an die Stelle des biblischen Gottes ein Gegengott gesetzt wird.
Biblisch-jüdische Geschichte ist keine Geschichte der Sieger.
Noch bevor unter dem Titel „Theologie nach Auschwitz“ die religiösen Implikationen verarbeitet wurden, und sich schließlich eine theologisch wegweisende Denkrichtung herausbildete, hat Werfel die Geste des Sieghaften infrage gestellt. Deutlich kommt das am Ende des Romans zum Ausdruck, da der geschlagene Prophet Jeremia das Volk vor dem zerstörten Jerusalemer Tempel mit den Worten tröstet: „Euer Sieg wächst von Niederlage zu Niederlage.“ (Franz Werfel, Höret die Stimme, S. 629).
Damals wie heute: Biblisch-jüdische Geschichte ist keine Geschichte der Sieger. Als solche bleibt sie eine Mahnung gegen Totalitarismen und ein Stachel im Diskurs zwischen jüdischer und christlicher Religion.
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Lukas Pallitsch ist Mitarbeiter an der PH Burgenland und Diözesanbeauftragter für den christlich-jüdischen Dialog
Bild: Wikimedia Commons
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Vom Autor bereits bei feinschwarz.net erschienen:
https://www.feinschwarz.net/prophetische-rhetorik-mit-aller-deutlichkeit-aussprechen-was-da-auf-uns-zukommt/