«Die Zeit» hat Franz-Xaver Kaufmann attestiert, er sei «seit Jahrzehnten so etwas wie ein wissenschaftliches und ethisches Frühwarnsystem». Am 22. August wird der Schweizer Soziologe 90 Jahre alt. Eine Würdigung von Odilo Noti.
In der Tat hat Kaufmann in der Wissenschaftslandschaft, in der Politikberatung und in den gesellschaftlichen Debatten Deutschlands tiefe Spuren hinterlassen. Von herausragender Bedeutung ist auch seine Funktion als Brückenbauer zwischen Soziologie und Theologie. Von all dem soll hier nicht die Rede sein. Es gibt aus dem akademischen Umfeld gründliche Analysen zu seinem Wirken.[1]
In einem seiner ersten Bücher, «Kirche begreifen», schrieb Kaufmann 1979: «Für mich bedeutet die Beschäftigung mit religionssoziologischen Problemen beruflichen Luxus, da Religionssoziologie weder in Lehre noch in Forschung nachgefragt wird.» Hinterher ist es anders gekommen, dazu hat auch Kaufmann mit seinen zahlreichen Arbeiten beitragen. Kommt hinzu, dass manche seiner religionssoziologischen Publikationen nicht in erster Linie für Fachleute aus der Soziologie oder der Theologie, sondern für eine breitere Öffentlichkeit bestimmt waren.
persönliche Statements
Trotz der sachlichen, zurückhaltenden Tonalität der von ihm formulierten Erkenntnisse scheut sich Kaufmann keineswegs, auch persönliche Statements abzugeben – etwa zu seinem Selbstverständnis als Soziologe, zu seinen persönlichen wissenschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen und Perspektiven. Derartige Positionierungen sind für den Leser, die Leserin hilfreich im Umgang mit dem soziologischen Stoff, sie sind anregend und sie bieten Orientierung. Dieser Beitrag stellt vier seiner Statements vor.[2]
Zunächst einmal formuliert Kaufmann, er sei Mitglied der katholischen Kirche. Die Aussage ist nicht als forsches Bekenntnis gedacht. Sie beschreibt seine persönlichen Voraussetzungen. Das gehört gerade zum soziologischen Handwerk als Reflexion des menschlichen Handelns. In seiner Familie habe das Katholisch-Sein «eine grosse und ausdrückliche Rolle» gespielt. Es betraf nicht nur den Kirchgang, sondern umfasste die gesamte Existenz. Doch der Soziologe ist in der Zwingli-Stadt Zürich, in der Diaspora aufgewachsen. Deshalb war in einer bürgerlich-offenen Familie wie der seinen klar, dass es mehr als eine Wahrheit gibt. Oder wie er in seinen Erinnerungen «Zwischen Wissenschaft und Glauben» formuliert: «Uns haben der Glaube unserer Eltern, das Leben in der Diaspora und die vielfältigen Kontakte zu qualifizierten Geistlichen frei gemacht, frei auch zu einem kritischen Blick auf die von uns durchaus geliebte Kirche.» (112)
Mitglied der katholischen Kirche in der Diaspora
Die Spätzeit des Pontifikats von Pius XII. hat Kaufmann dann als Einengung erfahren, und sein Urteil über die in dieser Zeit dominierende Neuscholastik fällt unmissverständlich aus: «Die wussten immer schon, was Wahrheit ist, und zwar auch in Dingen, die mit Religion, Glaube, genauer: mit Offenbarung, gar nichts zu tun hatten» (105). Seine offener Katholizismus führt den promovierten Ökonom sogar zur Soziologie, wie er in seiner ersten religionssoziologischen Publikation – «Theologie in soziologischer Sicht» (1973) – bekennt: «Die Vorstellung, es sei mit Hilfe soziologischer Einsichten möglich, kirchliches Denken vom Ballast überholter Welt- und Sozialvorstellungen zu befreien, und der Wunsch, hierzu beizutragen, haben seinerzeit meine Entscheidung, mich der Soziologie zuzuwenden, mitbestimmt.» (5)
Und sein Katholisch-Sein veranlasst den Soziologen mitunter zum öffentlichen Protest. So etwa, wenn er in der FAZ dem damaligen Leiter des Staatssekretariats, Kardinal Sodano, wegen dessen beschönigenden Worten zur Missbrauchskrise die Leviten liest und von «moralischer Lethargie» in der Kirche spricht – wo doch Jesus, Menschen, die einem vertrauenden Kind etwas antun, einen Mühlstein an den Hals wünschte.
Der christliche Glaube erlaube „Weltdistanzierung“.
Ein zweites Statement: Der christliche Glaube sei eine Dimension seines Lebens, die ihm – wie Max Weber formuliert hat – «Weltdistanzierung» erlaube: «Für mich ist der Glaube eine Position, von der aus ich es mir leisten kann, distanziert auf die Welt zu schauen». Und er fügt hinzu, er brauche dazu keinen kopernikanischen Punkt. Die Sicht auf die Welt geschieht also nicht von einem Zentralpunkt aus. Es kommt – egal ob Soziologe oder Theologin – auf den Standpunkt und die Perspektive des Beobachters an. Deshalb lässt sich Kaufmann vom Konzept der transversalen Vernunft (Wolfgang Welsch) leiten. Es ist die Basis für die interdisziplinäre Orientierung gerade seiner religionssoziologischen Arbeiten. «Multiperspektivität» ist der Anspruch. Danach hat für den Soziologen auch die religiöse Dimension ihren Platz – freilich ist es nur eine unter anderen.
„Multiperspektivität“ als Anspruch
Dieses komplexe, vielschichtige Verständnis mag zwar eine Kränkung gerade eines triumphalistisch-klerikalen, auf Dominanz zielenden Kirchenverständnisses sein. Es ist jedoch den Wirklichkeiten, in denen wir unter den Bedingungen einer entfalteten Moderne leben, angemessen. Es trägt der gesellschaftlichen Komplexität, ja der wachsenden Unübersichtlichkeit des sozialen Gesamtzusammenhanges Rechnung. Auch eine gläubige Weltsicht muss multiperspektivisch sein, will sie anschlussfähig zur Lebenswelt der Gegenwart werden. Vor diesem Hintergrund ist in den Augen von Kaufmann innerkirchliche Pluralität kein Hindernis, sondern eine Chance für die öffentliche Relevanz des Christentums.
Der Fremde – ein drittes Statement. Was Georg Simmel über den Fremden schreibt, ist auch eine Metapher für den Soziologen in der Gesellschaft: «Der Fremde ist der Freiere, praktisch und theoretisch, er übersieht die Verhältnisse vorurteilsloser, misst sie an allgemeineren, objektiveren Idealen und ist in seiner Aktion nicht durch Gewöhnung, Pietät, Antezedentien gebunden». Allerdings, so Simmel weiter, der Fremde ist nicht der Fahrende, der sich bald da, bald dort aufhält. Er ist derjenige, «der heute kommt und morgen bleibt». Der Fremde verkörpert eine spezifische «Synthese von Nähe und Ferne».
Der Fremde – frei von Selbstverständlichkeiten
Wer also, aus der Sicht Kaufmanns, Soziologe sein will, sollte sich von der Selbstverständlichkeit seiner sozialen Herkunftskontexte frei machen. Er muss ein gebrochenes Verhältnis zu den Selbstverständlichkeiten seiner sozialen Umgebung mitbringen. Kaufmann in seinen «persönlichen Texten»: «Fremde gewinnen einen besonderen Blick auf die einheimischen Verhältnisse und zugleich allmählich eine besondere, vielleicht etwas reflektiertere Vertrautheit mit ihnen. In Verbindung mit der kirchlichen Bindung und der soziologischen Perspektive scheinen mir das keine schlechten Voraussetzungen, um eine Diagnose der kirchlichen Verhältnisse zu versuchen». Fremdsein ist auch für den Christen, die Christin eine prägende Erfahrung, seit jeher. In der Gesellschaft der Gegenwart erst recht. Da ist von der Soziologie zu lernen.
Und schliesslich: Dem Christentum, der katholischen Kirche erst recht, eignet wesentlich eine gesellschaftliche und eine geschichtliche Dimension. Dies besagt erstens, dass eine Selbstvergewisserung des Christentums wie der katholischen Kirche eine kritische Wahrnehmung der geschichtlich wirkenden Tendenzen erfordert. Diese manifestieren sich als gesellschaftliche Entwicklungen wie etwa die Prozesse der Individualisierung und der Globalisierung. Zweitens gehört dazu die Berücksichtigung der geschichtlich gewordenen Konkretionen des Christentums und des Katholizismus. Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit sind konstitutive Grössen für sie.
eine gesellschaftliche und eine geschichtliche Dimension
Der Soziologe fügt hinzu, dass aus seiner Sicht die gesellschaftlichen Veränderungen im Vergleich zu innerkirchlichen Entscheidungen und Weichenstellungen relevanter sind für das allgemeine Bewusstsein. Derartige gesellschaftliche Entwicklungen und Tatsachen sind etwa die Erosion des katholischen Milieus, der Einfluss transkonfessioneller Medien, die allgemeine Anerkennung der Pluralität von Weltanschauungen oder eben der allgemeine Prozess der Individualisierung und der Globalisierung. In dieses gesellschaftliche Sein und Bewusstsein, für das Geschichtlichkeit und Wandelbarkeit der Verhältnisse selbstverständlich sind, hat sich das Christentum, die Kirche zu inkulturieren. Nicht zuletzt kirchliche Reformbefürworterinnen und -befürworter sollten diese grundlegende Perspektive nicht aus den Augen verlieren. Sie ist produktiv zu nutzen, damit das Christentum zukunftsfähig ist.[3]
___
Text: Odilo Noti, Dr. theol., ist u.a. Präsident der Herbert Haag Stiftung für Freiheit in der Kirche.
Bild: Verlag Herder (zVg)
[1] Vgl. etwa Karl Gabriel u.a.: Modernität und Solidarität. Für Franz-Xaver Kaufmann Freiburg i.Br. 1997; ders. u.a.: Zukunftsfähigkeit der Theologie. Anstösse aus der Soziologie Franz-Xaver Kaufmanns, Paderborn 1999; Stephan Goertz u.a.: Christentum – Moderne – Politik. Studien zu Franz-Xaver Kaufmann, Paderborn 2014; Norbert Mette: Die religiöse Brisanz des Christentums. Das religionssoziologische Oeuvre von Franz-Xaver Kaufmann: Stimmen der Zeit 149 (2017) 507–517.
[2] Sie sind etwa zugänglich in: Franz-Xaver Kaufmann: Kirche begreifen. Analysen und Thesen zur gesellschaftlichen Verfassung des Christentums, Freiburg 1979; ders., Kirchenkrise. Wie überlebt das Christentum), Freiburg i.Br. 2011 (4. Aufl.); ders.: Kirche in der Ambivalenz der Moderne, Freiburg i. Br. 2012; ders., Zwischen Wissenschaft und Glauben. Persönliche Texte, Freiburg i.Br. 2014.
[3] Im Herbst erscheint dazu in der Edition Exodus von Kaufmann das Buch: Katholische Kirchenkritik. „… man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!“ (Luzern 2022).