In der Enzyklika Fratelli tutti forciert Papst Franziskus nicht nur den interreligiösen Dialog, sondern auch das gemeinsame Gebet. Das Ziel des Papstes ist das Handeln. Eine Analyse von Detlef Schneider-Stengel.
Papst Franziskus hat in seiner Enzyklika Fratelli tutti nicht nur eine Analyse der weltweiten Probleme gegeben, die er als die drängendsten in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. Die benannten Schwierigkeiten sind zugleich mit Arbeitsaufträgen für die Religionen versehen, die zu ihrer Lösung einen eminent wichtigen Beitrag leisten können (und auch nach Papst Franziskus‘ Auffassung eigentlich müssen), wenn sie dafür kooperieren. Ihr gemeinsames Tun soll und muss aber nicht nur von einer Geschwisterlichkeit des Handelns getragen sein, sondern in einer Gebetsgemeinschaft münden, in dem sie sich von Gott selbst getragen wissen.
Für Papst Franziskus und auch für Großimam Al-Tayyeb ist das Ziel des Dialogs das gemeinsame Handeln der Religionen.
Papst Franziskus‘ optimistische Einschätzung der Wirksamkeit von Religionen hinsichtlich der produktiven Verarbeitung der aufgezeigten Problemlagen hat seinen Grund in der Begegnung mit Großimam Ahmad al-Tayyeb, die 2019 in Abu-Dhabi stattfand. Seitdem verbindet beide eine tiefe Freundschaft und eine hohe gegenseitige Wertschätzung. Die Frucht der Begegnung ist das Dokument über die Geschwisterlichkeit unter den Menschen für den Weltfrieden und das Zusammenleben[1], das am 4. Februar 2019 von beiden unterzeichnet wurde. Weiterhin wurde im Nachgang des Treffens das Hohe Komitee für menschliche Geschwisterlichkeit[2] eingerichtet, das die Gedanken des Dokuments weltweit bekannt machen und den interreligiösen Dialog auf allen Ebenen weltweit stärken soll. Für Papst Franziskus und auch für Großimam Al-Tayyeb ist das Ziel des Dialogs das gemeinsame Handeln der Religionen, welches die schwerwiegenden Problemlagen in den Gesellschaften bearbeitet und zu deren Linderung beiträgt.
Fratelli tutti ist die erste Enzyklika, die auf Grund einer interreligiösen Begegnung verfasst worden ist.
Papst Franziskus greift in der Enzyklika immer wieder auf das Dokument über die Geschwisterlichkeit unter den Menschen für den Weltfrieden und das Zusammenleben zurück und zitiert es sehr ausführlich. Ein historisches Novum bildet die Begründung, die der Papst anführt, warum die Enzyklika entstanden ist: Sie ist auf Grund seines Treffens mit Großimam Al-Tayyeb geschrieben worden. Fratelli tutti ist deshalb die erste Enzyklika, die auf Grund einer interreligiösen Begegnung verfasst worden ist. Dabei zieht der Papst eine Parallele zu dem Treffen, das 1219 zwischen dem Heiligen Franziskus und Sultan Malik Al-Kamil stattgefunden haben soll und genau 800 Jahre vergangen ist. Auch bei dieser Begegnung ging es um ein friedliches Zusammenleben von Menschen verschiedener Religion und Kultur.
Beide Enzykliken enden mit jeweils zwei Gebeten, wobei eines davon immer einen interreligiösen und das andere einen ökumenischen Horizont hat.
Über den Inhalt von Fratelli tutti ist an dieser und auch anderer Stelle schon viel gesagt worden.[3] Hier soll der Fokus auf die interreligiöse Gebetsgemeinschaft gerichtet werden, die zwar nicht explizit von Papst Franziskus ins Wort gebracht wird, die aber schon in Laudato si zu finden ist. Beide Enzykliken enden mit jeweils zwei Gebeten, wobei eines davon immer einen interreligiösen und das andere einen ökumenischen Horizont hat.[4] Bei seinem Besuch im Irak im März 2021 ließ er schließlich bei einer interreligiösen Begegnung in Ur einen von ihm selbst verfassten Text mit dem Titel Gebet der Kinder Abrahams[5] vortragen.
Dieses Vorgehen macht im Endeffekt drei Punkte deutlich, die für Papst Franziskus eine wichtige Rolle spielen und hier als Thesen formuliert werden:
Dabei ist der Papst sehr optimistisch, was die Handlungskraft der Religionen und die daraus resultierenden positiven Wirkungen anbelangt.
1. Er holt durch die Gebete am Ende die Aussagen der Enzykliken, vor allem in Fratelli tutti, gnadentheologisch ein. Es ist interessant zu sehen, dass Papst Franziskus einen Schreibstil hat, der hortativ ist und mit großer Vehemenz zum Handeln auffordert. Dabei ist er sehr optimistisch, was die Handlungskraft der Religionen und die daraus resultierenden positiven Wirkungen anbelangt. Als Beispiel dient ihm vor allem das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, wobei Gott selbst in dem Gleichnis nicht vorkommt. Insgesamt durchzieht Fratelli tutti einen starken Handlungsimpetus, der – so scheint es – ohne die Gnade bzw. Hilfe Gottes auszukommen versucht. Das Gebet zum Schöpfer am Ende der Enzyklika gleicht diesen Eindruck wieder auf. Hier wird in den formulierten Bitten Gott als der Handelnde herausgestellt.
Dahinter steht der Gedanke, dass alle Religionen letztendlich das Gute für die Menschen wollen. Der Garant des Guten ist aber Gott.
2. Papst Franziskus betont in Fratelli tutti immer wieder die gemeinschaftliche Geschwisterlichkeit der Menschen, auch wenn sie verschiedenen Religionen, Kulturen oder sozialen Schichten angehören. Diese Geschwisterlichkeit entspricht dem Willen Gottes. Von daher darf es keine Ausgrenzung, keine Unterwerfung, Ausbeutung und Sklaverei, keine Gewalt sowie keinen Missbrauch geben. Diese Geschwisterlichkeit, die zum gemeinsamen Handeln führt, soll dabei nicht stehen bleiben, sondern kommt dann zum Ziel, wenn sie sich zur Gebetsgemeinschaft entwickelt. Hier können und dürfen nach Papst Franziskus die jeweiligen Religionen ihre Glaubensgeheimnisse teilen und gemeinsam ihre Anliegen vor Gott bringen. Dahinter steht der Gedanke, dass alle Religionen letztendlich das Gute für die Menschen wollen (siehe vor allem Achtes Kapitel). Der Garant des Guten ist aber Gott.
Vertreter*innen verschiedener Religionen beten gemeinsam und sprechen dieselben Gebete
3. Mit den Gebeten am Ende von Laudato si und Fratelli tutti sowie mit dem Gebet der Kinder Abrahams macht Papst Franziskus etwas, das zum Beispiel die Arbeitshilfe 170 der Deutschen Bischofskonferenz Leitlinien für das Gebet
bei Treffen von Christen, Juden und Muslimen – Eine Handreichung der deutschen Bischöfe[6] verbietet, nämlich dass Vertreter*innen verschiedener Religionen gemeinsam beten und dieselben Gebete sprechen. Die Arbeitshilfe warnt vor einem unzulässigen Synkretismus (S. 49) und verweist auf das Modell Assisi, das von Papst Johannes Paul II. 1986 zum ersten Mal praktiziert wurde. Dabei beten Vertreter*innen verschiedener Religionen nacheinander und verwenden dazu Texte aus ihren eigenen Traditionen. Papst Franziskus scheint dagegen eine andere Praxis zu präferieren, wie die Beispiele in Sarajewo 2015 und in Ur 2021 zeigen. Margareta Gruber, Professorin für Neues Testament, sagt im Hinblick auf Laudato si und die Praxis des Papstes:
„Seit der Veröffentlichung der Enzyklika Laudato Si kann man somit sagen, dass interreligiöses Gebet eine katholische Möglichkeit ist. Der in Rom lehrende Islamwissenschaftler und Jesuit Felix Körner fasst die Bedingungen zusammen, unter denen diese Möglichkeit umgesetzt werden kann: Interreligiöses Gebet unter Juden, Christen und Muslimen ist möglich, wenn ein Gebetstext offen dafür ist, von den unterschiedlichen TeilnehmerInnen je nach ihrer religiösen Tradition unterschiedlich verstanden zu werden; wenn ferner der Eindruck vermieden wird, dass eine Seite die andere vereinnahmt; wenn schließlich die Situation den Mut verlangt, Hindernisse zu überwinden und zusammen zu stehen um weitere Zerwürfnisse und Hass zu überwinden.“[7]
Innovativ und als Motor für den interreligiösen Dialog sind sein Konzept der gemeinschaftlichen Geschwisterlichkeit und die Gebetsgemeinschaft, die das gemeinsame interreligiöse Gebet ermöglicht.
Papst Franziskus hat mit Fratelli tutti die Themen aufgegriffen, die schon in Nostra Aetate als gemeinsame Möglichkeiten des Handelns für die Kooperation der Religionen genannt wurden und vor allem ethischer Natur sind. Die Art und Weise, wie er sie angeht, sind vor allem von der Praxis her konnotiert. Innovativ und als Motor für den interreligiösen Dialog sind sein Konzept der gemeinschaftlichen Geschwisterlichkeit und die Gebetsgemeinschaft, die das gemeinsame interreligiöse Gebet ermöglicht. Ob seine Metaphern der Gotteskindschaft und des Vaterseins Gottes im islamischen Kontext rezipiert werden, ist allerdings fraglich. Hier hat die islamische Theologie andere Traditionen und ist sehr viel vorsichtiger. Aber Papst Franziskus ist immer für eine Überraschung gut. In Laudato si hat er schon den islamischen Mystiker und Sufi Ali Al-Khawwas zitiert. Eventuell rekurriert er in seiner nächsten Enzyklika auf die 99 Namen Gottes. Zuzutrauen wäre es ihm.
[1] Siehe Ökumenische Information 7, 12. Februar 2019, S. 17 – 22.
[2] www.forhumanfraternity.org
[3] Siehe vor allem die Würdigung der Enzyklika von Ursula Nothelle-Wildfeuer (www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2020/2020-159c-Würdigung-Prof.-Nothelle-Wildfeuer-über-die-Sozialenzyklika-Fratelli-tutti.pdf). Siehe ebenfalls Felix Körner, Katholische Soziallehre – muslimisch nachvollziehbar? Religionstheologische Relecture der Enzyklika Fratelli tutti, in: Stimmen der Zeit, Heft 3, März 2021, S. 173 – 181. In feinschwarz.net haben Christian M. Rutishauser SJ (5. Oktober 2020, Titel: Fratelli tutti – ein Kommentar!) und Christian Bauer (8. Juni 2021, Titel: Soziallehre vs. Befreiungstheologie, oder: Warum es diesmal keine neue Enzyklika gibt) ausführlich Stellung zu Fratelli tutti genommen. Siehe auch: Ursula Nothelle-Wildfeuer, Lukas Schmitt (Hg.), Unter Geschwistern? Die Sozialenzyklika Fratelli tutti: Perspektiven – Konsequenzen – Kontroversen. Freiburg 2021.
[4] In Laudato si trägt das Gebet den Titel Gebet für unsere Erde, in Fratelli tutti heißt es Gebet zum Schöpfer.
[5] www.vaticannews.va/de/papst/news/2021-03/papst-franziskus-irak-ur-abraham-gebet-religionen-wortlaut-islam.html
[6] Leitlinien für das Gebet bei Treffen von Christen, Juden und Muslimen. Eine Handreichung der deutschen Bischöfe. Arbeitshilfe 170. 24. Juni 2008. 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage.
[7] Margareta Gruber, Das interreligiöse Gebet – eine Möglichkeit nach Laudato si? (https://weltkirche.katholisch.de/Themen/Interreligi%C3%B6ser-Dialog/Interreligioeses-Gebet)
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Autor: Detlef Schneider-Stengel ist Diözesanreferent für den interreligiösen Dialog im Bistum Essen
Beitragsbild: Pixabay